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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Schräg auf dem Zweierparkplatz

Auf dem Buch­markt erschei­nen immer wie­der Publi­ka­tio­nen, in denen Enkel über ihre Groß­el­tern berich­ten. Per­sön­lich, in der Fami­lie und im Berufs­le­ben bil­de­te die Nazi­zeit für die Alten meist einen prä­gen­den, oft tra­gi­schen Lebens­ab­schnitt. Und die Fra­ge lau­tet, wie etwa der Groß­va­ter mit den Ver­lockun­gen und den Fähr­nis­sen, die viel­fach mit schuld­haf­ter Ver­strickung ver­bun­den waren, umge­gan­gen ist und wie sol­che Bio­gra­phien heu­te zu hin­ter­fra­gen sind.

Das Buch »Mein Groß­va­ter stand vorm Fen­ster und trank Tee Nr. 12« von Nao­mi Schen­ck gehört in die­se Kate­go­rie. Der Groß­va­ter, Gün­ther Otto Schen­ck (1913 – 2003), war ein bekann­ter Che­mi­ker und Hoch­schul­leh­rer. Die Enke­lin ist eine erfolg­rei­che, inter­na­tio­nal akti­ve Sze­nen­bild­ne­rin und Schrift­stel­le­rin, die mit dem Buch ein Ver­mächt­nis ihres Groß­va­ters erfül­len woll­te. Kein Zucker­schlecken. Galt es doch, die Bio­gra­phie kri­tisch abzu­klop­fen. Das Ergeb­nis prä­sen­tiert Nao­mi Schen­ck in einem lesens­wer­ten »Projekt«-Bericht, der dem Leser frei­lich Auf­merk­sam­keit abver­langt, will er nicht bei­spiels­wei­se ange­sichts der gro­ßen Schen­ck­fa­mi­lie die Über­sicht verlieren.

Gün­ther O. Schen­ck star­te­te sei­ne wis­sen­schaft­li­che Kar­rie­re unter sei­nem Leh­rer und Men­tor, dem spä­te­ren Nobel­preis­trä­ger Karl Zieg­ler, in Hal­le und konn­te sie, abge­se­hen von kriegs- und nach­kriegs­be­ding­ten Unter­bre­chun­gen, in Göt­tin­gen als Hoch­schul­leh­rer aus­bau­en und in Mühlheim/​Ruhr als Grün­dungs­di­rek­tor der Selb­stän­di­gen Abtei­lung für Strah­len­che­mie im Max-Planck-Insti­tut für Koh­len­for­schung krö­nen. Im Alter von 54 Jah­ren schied er krank­heits­be­dingt aus dem Dienst aus. Danach führ­te er als Eme­ri­tus unter rela­tiv gün­sti­gen Bedin­gun­gen For­schungs­ar­bei­ten in sei­nem Haus wei­ter. Schen­ck wird in Nach­ru­fen als einer der Pio­nie­re der Pho­to- und Strah­len­che­mie bezeichnet.

Was eigent­lich unstatt­haft ist, erscheint im vor­lie­gen­den Fall ange­bracht: die Tren­nung des Groß­va­ters in den Wis­sen­schaft­ler und den Menschen.

Der Wis­sen­schaft­ler Schen­ck war ein ideen­rei­cher und lei­den­schaft­li­cher For­scher, dem die Fach­welt ori­gi­nel­le Pho­to­syn­the­sen und inter­es­san­te, wenn auch bis­wei­len umstrit­te­ne, Kon­zep­te für die Aus­lö­sung und den Mecha­nis­mus pho­to­che­mi­scher Pro­zes­se zu ver­dan­ken hat. Unter Ver­zicht auf eine ein­ge­hen­de­re Wür­di­gung sei aber die im Buch mehr­fach erwähn­te wirt­schaft­li­che Ver­wer­tungs­ori­en­tie­rung sei­ner Arbei­ten zur pho­to­che­mi­schen Her­stel­lung von Wirk­stof­fen her­vor­ge­ho­ben. Zeit­wei­lig führ­te er eine eige­ne klei­ne Fir­ma, hat­te enge Bezie­hun­gen zu Che­mie­un­ter­neh­men und mel­de­te zahl­rei­che Paten­te an. Viel Platz wird in dem Buch dem Ver­hält­nis Gün­ther Schen­cks zu sei­nem Zieh- und Über­va­ter Karl Zieg­ler ein­ge­räumt. Der Nobel­preis­trä­ger und Direk­tor des gro­ßen und ein­fluss­rei­chen Max-Planck-Insti­tuts für Koh­len­for­schung war in Mühl­heim natür­lich der Platz­hirsch. Die Bezie­hung zwi­schen bei­den erfuhr in den 60er Jah­ren aber eine Ein­trü­bung, was wohl auf die unter­schied­li­chen Cha­rak­te­re und auf diver­gie­ren­de Auf­fas­sun­gen in Hier­ar­chie-, Struk­tur- und Finanz­fra­gen zurück­zu­füh­ren war. G. O. Schen­ck hat dar­un­ter offen­bar gelit­ten. Die all­ge­mei­ne Erfah­rung, wonach sich der Zög­ling im Inter­es­se sei­ner unab­hän­gi­gen wis­sen­schaft­li­chen Ent­wick­lung so bald wie mög­lich von sei­nem Men­tor abset­zen soll­te, fin­det der Leser hier bestätigt.

Die Autorin hat, wie sie frei­mü­tig betont, für natur­wis­sen­schaft­li­che Din­ge kein Fai­ble. Gera­de des­halb ist es ihr hoch anzu­rech­nen, dass sie die wis­sen­schaft­li­che Vita ihres Groß­va­ters anschau­lich, für jeder­mann ver­ständ­lich und unter­setzt mit inter­es­san­ten Bei­spie­len nachzeichnet.

Jen­seits des Wis­sen­schaft­lers Schen­ck ver­mit­telt die Ver­fas­se­rin im Buch aber ein recht kri­ti­sches und zwie­späl­ti­ges Bild des alten Herrn. Pri­va­tim ver­kör­per­te Gün­ther Otto das Zen­trum einer wohl­si­tu­ier­ten und ange­se­he­nen Bil­dungs­bürg­erfa­mi­lie, in der die Enke­lin einen glück­li­chen Teil ihrer Kind­heit zubrach­te. So konn­te sie für ihr Pro­jekt auf einen rei­chen Fun­dus eige­ner Erleb­nis­se und Erin­ne­run­gen zurück­grei­fen, scheu­te aber kei­ne Mühen, die Bio­gra­phie auszuleuchten.

Schen­ck war 1937 NSDAP-Mit­glied gewor­den und – was die Ver­fas­se­rin erst spät erfuhr – bereits 1933 in die SA ein­ge­tre­ten. Letz­te­res gab ihr den Anstoß, das lan­ge auf­ge­scho­be­ne Bio­gra­phie-Pro­jekt in Angriff zu neh­men. Bei den suspek­ten Mit­glied­schaf­ten han­del­te es sich anschei­nend um pas­si­ve, die wis­sen­schaft­li­che Kar­rie­re absi­chern­de Arran­ge­ments, die in der Nach­kriegs­zeit dem ver­drän­gen­den Ver­ges­sen anheim­fie­len. Es war ja auch nicht not­wen­dig, sich auf einen Beicht­stuhl zu set­zen. Im Gegen­satz zu vie­len ande­ren Fäl­len mit schwer nazi­be­la­ste­ten Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen blieb der Ver­fas­se­rin eine fina­le Abrech­nung mit ihrem Groß­va­ter erspart. Im Übri­gen war Schen­cks welt­an­schau­li­ches und poli­ti­sches Pro­fil bis an sein Lebens­en­de unscharf. Dabei gab es in und nach der Nazi­zeit dra­ma­ti­sche Anläs­se im Über­fluss, um sich poli­tisch zu arti­ku­lie­ren. Aus­weis­lich sei­ner umfang­rei­chen Auf­zeich­nun­gen fin­den sich von ihm bei­spiels­wei­se zur Reichs­po­grom­nacht, die zur Zer­stö­rung der in unmit­tel­ba­rer Nähe sei­ner dama­li­gen hal­le­schen Woh­nung befind­li­chen Syn­ago­ge führ­te, kei­ne Betrof­fen­heits­re­ak­tio­nen. Und 1955, als Göt­tin­ger Stu­den­ten und Pro­fes­so­ren bun­des­weit ver­nehm­bar gegen den nazi­be­la­ste­ten nie­der­säch­si­schen Kul­tus­mi­ni­ster Leon­hard Schlü­ter pro­te­stier­ten, war der »Chef« nicht dabei. »Der hat­te kei­ne Zeit.« Schließ­lich ver­ur­sach­te die »Schlü­ter-Affä­re« an der Göt­tin­ger Uni­ver­si­tät star­ke Erschüt­te­run­gen und führ­te dazu, dass – als Pro­test gegen Schlü­ters Beru­fung – der Senat mit Rek­tor Emil Woer­mann an der Spit­ze zurück­trat und Schlü­ter dar­auf­hin als Kul­tus­mi­ni­ster abdan­ken muss­te. Und zur 1957 abge­ge­be­nen Erklä­rung von 18 Göt­tin­ger Pro­fes­so­ren­kol­le­gen gegen die nuklea­re Bewaff­nung der Bun­des­wehr fin­det sich vom Strah­len­che­mi­ker Schen­ck (zwölf Jah­re nach Hiro­shi­ma und Naga­sa­ki!) kein Reflex. Auch hier offen­bart das Buch eine ver­stö­ren­de Gleich­gül­tig­keit des Protagonisten.

Gün­ther O. Schen­ck litt nicht unter Min­der­wer­tig­keits­kom­ple­xen. »Dass ich ein guter For­scher bin, weiß ich.« Für einen Gast­auf­ent­halt in den USA erwar­te­te er ein Haus mit sie­ben Schlaf­zim­mern. Und der Mer­ce­des wur­de »schräg auf dem Zwei­er­park­platz« abge­stellt. Die­ses im Buch mit vie­len Bei­spie­len beschrie­be­ne eli­tär-prä­ten­tiö­se Geba­ren, wofür, hal­ten zu Gna­den, selbst der Wis­sen­schaft­ler Schen­ck kei­ne hin­rei­chen­den Recht­fer­ti­gungs­grün­de zu lie­fern ver­mag, war in der Alt­bun­des­re­pu­blik frei­lich nicht außergewöhnlich.

Exkurs: Die­ses Her­aus­hän­gen der eige­nen Bedeut­sam­keit illu­striert einen beträcht­li­chen Unter­schied zur küm­mer­li­chen Selbst­dar­stel­lungs­fä­hig­keit eines ost­deutsch Sozia­li­sier­ten ver­gleich­ba­rer Spe­zi­es, der nach Arnulf Baring ohne­hin »ver­zwergt« war. Die­se Unter­schied­lich­keit, die in der Treu­hand­zeit gera­de­zu ins Auge sprang, ist lei­der auch heu­te noch evi­dent. Sie dürf­te, abge­se­hen von Ver­net­zungs­de­fi­zi­ten und kul­ti­vier­ten Infe­rio­ri­täts­kom­ple­xen, einer der Grün­de sein, wes­halb auch 30 Jah­re nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung ost­deut­sche Füh­rungs-posi­tio­nen fast aus­nahms­los mit Per­so­nal west­deut­scher Pro­ve­ni­enz besetzt werden.

Der Enke­lin bewegt sich sou­ve­rän auf einem kon­flikt­träch­ti­gen Ter­rain, das sich auf­spannt zwi­schen der Ver­eh­rung und Dank­bar­keit für ihren Groß­va­ter, des­sen wis­sen­schaft­li­cher Lebens­lei­stung, sei­ner SA- und NSDAP-Mit­glied­schaft, einer nebu­lö­sen welt­an­schau­li­chen und poli­ti­schen Ver­or­tung sowie einer eli­te­ori­en­tier­ten, bil­dungs­bür­ger­li­chen Lebens­ge­stal­tung. Dabei mag der Leser von der Offen­heit, der Auf­ar­bei­tungs­in­ten­si­tät und der Sach­lich­keit der Autorin durch­aus stär­ker beein­druckt sein als vom inten­dier­ten Lebens­be­richt über ihren Groß­va­ter. Ins­ge­samt ein sehr emp­feh­lens­wer­ter Bei­trag zur deut­schen Erinnerungskultur.

Mir ging es wie der Wit­we Bol­te mit dem Sau­er­kohl, ich habe das Buch mit stei­gen­dem Gewinn zwei­mal gelesen.

 

Nao­mi Schen­ck: »Mein Groß­va­ter stand vorm Fen­ster und trank Tee Nr. 12«, Han­ser Ber­lin, 336 Sei­ten, 22,90 €