So »realistisch« Arno Schmidts (1914 bis 1979) Romane auch wirken mögen, denn sie sind ja meistens von derber Offenheit, so scheinen sie doch, wie sein Hauptwerk »Zettl’s Traum« Illusionen zu gleichen. Und wären sie es – wir erführen doch über uns, was wir uns manchmal selbst nicht zu sagen wagen.
Arno Schmidt wurde im »Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller« (VEB Bibliographisches Institut Leipzig, 1974) einst dafür gelobt, dass er sich mit seinen Büchern gegen »Faschismus, Restauration, Militarismus« wende und einen »radikalen Atheismus« bekunde. Freilich wird er am Ende des Beitrags gescholten: »Stilexperimente, die private Rechtschreibung und phonetische Schreibweise (…) sind wie die willkürliche Interpunktion eine unbeholfene (…) erstarrte Protestgeste.« Die ersten Schmidt-Texte lesen konnte ich erst 1981, in einem Bändchen des Reclam-Verlages Leipzig (»Aus dem Leben eines Fauns«), enthaltend auch »Tina oder Über die Unsterblichkeit«, für mich das Beste, was er je geschrieben hat. Interessanterweise wird im Nachwort betont, dass sich auch Autoren der DDR auf ihn »beziehen«.
Der Biograf, der es unternimmt, das Leben und Schaffen des Arno Schmidt darzustellen, den man wohl zu Recht als »Groß-Schriftsteller« bezeichnen darf, verdient Respekt. Denn er muss sich durch eine kaum mehr zu überschauende Sekundärliteratur arbeiten und dabei immer den klaren, distanzierten Blick auf das mitunter verquere Leben Schmidts bewahren.
Das ist Sven Hanuschek überzeugend gelungen. Seine Schmidt-Biografie ist auch ein erzählerisches Bravourstück. Besonders die humoristische Grundhaltung des Biografen trägt dazu bei, dass man mitunter meint, eine Geschichte zu lesen. Und nun ist Arno Schmidts Leben, sein Schaffen ja auch eine Geschichte. Nicht zu kurz kommt der Preis für ein zwar selbst gewähltes solitäres Leben und Arbeiten, nämlich die allmähliche Selbstzerstörung. Das Leben in der Lüneburger Heide war nicht »romantisch« bei aller »Romantik« des von Schmidt geliebten Landstrichs.
Besonders ergiebig wird die Lektüre, wenn dargestellt wird, wie sehr sich Schmidts Literatur aus der Literatur, besonders der romantischen, speist. Diese Analysen sind eine einzige Lektüreanregung. Überzogen werden nach meinem Gefühl die Darstellung der Beschäftigung Schmidts mit Karl May, die Arbeit für und gegen den Karl May Verlag. Da gibt es ein paar Passagen, wo die Gründlichkeit und Genauigkeit des Verfassers zu einer gewissen Langatmigkeit führen. Auch die Betrachtungen zu den von Schmidt ins Deutsche übersetzten Büchern schwappen manchmal etwas weit. Fesselnd hingegen sind die Erklärungen zu »Zettl’s Traum«.
Sehr interessant sind die Aussagen zum ambivalenten Verhältnis Schmidts zur DDR. Und wehmütig fast machen die Teile des Buches, aus denen man ersieht, welche Rolle Literatur einst im Lande spielte. Schmidt konnte noch Erregungen politischer oder klerikaler Art erzeugen, Verhöre provozieren. Nun sagt das Interesse der Justiz noch nicht viel über die Wirkung von Literatur, aber sie wurde doch wenigstens wahrgenommen und nicht mit ein paar wohlklingenden Rezensionen ad acta gelegt.
Arno Schmidts Art zu schreiben war einst eine Offenbarung für den, der sie nicht kannte. Kaum wieder einmal konnte man seitdem in ein so unstillbares Gelächter verfallen wie bei der Lektüre von »Brand’s Haide«. Schmidt konnte den Kalauer so schärfen, dass er Wahrheiten über das Leben und die Gesellschaft mitleidlos vor seinen Leser stellte. So etwas fehlt uns heute im Mainstream der Beliebigkeit. Darum ist es gut, dass Sven Hanuschek an diesen literarischen Pfahl im Fleische eines Landes erinnert; sein Leben, akribisch recherchiert, vor uns ablaufen lässt, sein Schaffen durchleuchtet und uns zeigt, was Schmidts metaleptisches (dieses Wort kommt möglicherweise zu oft vor in der Biografie) Schaffen uns heute zu sagen hat, nämlich: Weg mit dem Firlefanz der Beliebigkeit, Mut zur Darstellung der Realität, wie sie nun einmal ist – und das ganz ohne Kriminalkommissare und Ermittlerinnen, ohne gerufene Polizei, aber gespeist aus unserer reichen Literatur.
Ja, Schmidt tut uns not. Das ist wohl die Quintessenz von Sven Hanuscheks Buch.
Sven Hanuschek: Arno Schmidt. Biografie. Carl Hanser Verlag 2022, 992 S., 45 €.