Wie waren Ihre letzten Tage? Noch ein wenig Sonne getankt? Gut gegessen? Vielleicht einen kleinen Bummel unternommen, ein Schnäppchen ergattert? Eine Kuschelparty besucht oder Selfies gepostet? – Und hoffentlich weit und breit keinen Flüchtling gesehen. Wie angenehm für Sie!
Möglicherweise haben Sie sich auch Gedanken über Ihre Zukunft gemacht. So wie ich. Mein Plan: Ich würde gerne Schlepperin werden. Zum Beispiel rund ums Mittelmeer. Ich weiß, der Beruf des Schleppers ist derzeit nicht gut angesehen, aber es ist ein Beruf mit Zukunft.
Millionen Menschen sind auf der Flucht vor Krieg, Gewalt und Verfolgung, vor Hunger und deprimierender Armut, vor einem Leben ohne Zukunftsperspektiven. Meine lukrative Zukunft könnte also die prekäre Zukunft der Flüchtlinge sein. Ich profitiere von der Not der Millionen und einige der Millionen profitieren von mir, von meinem Einsatz als Schlepper.
Das finden Sie unmoralisch, zynisch, geradezu kriminell? Sie halten es für unanständig, auf Kosten der Flüchtlinge zu leben? Dabei sitzen wir, also Sie und ich, quasi in einem Boot.
Auch Ihre Teller sind nur so gut gefüllt, weil die Teller der Hungernden leer sind. Für unsere billigen T-Shirts erhalten Frauen in Indien oder Bangladesch weniger als einen Hungerlohn, ohne Kranken- oder Rentenversicherung. Und in Ihren Smartphones (ich besitze keins) steckt u. a. Kobalt, das zu einem großen Teil im Kongo und weitgehend ohne Einhaltung sozialer, arbeitsrechtlicher, gesundheitlicher oder ökologischer Standards abgebaut wird.
Die von Ihnen gewählten deutschen Regierungen unterstützen autoritäre Regime in Afrika, u. a. mit Geld und Logistik für die Ausbildung von Polizisten, den Bau von Hafträumen und die Installation von überwachten Grenzschutzanlagen, um diejenigen, die vor Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen fliehen wollen, am Verlassen der Länder zu hindern. Womit die Fluchtursachen noch verschlimmert werden. Nicht zu vergessen: Waffen MADE IN GERMANY gehören zu unseren beliebtesten Exportschlagern – und töten oder bedrohen Unschuldige in vielen Teilen der Welt. Und nein, sie bringen keinen Frieden, auch nicht in der Ukraine oder in Israel.
Womit wir wieder bei meinem Berufswunsch wären. Ich werde nämlich sehr gerne gebraucht – und Schlepper sind die letzte Chance für die Mehrheit der Flüchtlinge. Auch dank Ihrer Steuergelder sind legale-sichere-menschenwürdige Wege raus aus Krieg und Folter und Elend längst verschlossen, zugebaut, von schwer bewaffneten Militär- und Sonderpolizeieinheiten bewacht. Die Grenzen der EU sind aufgerüstet. Hunderte Kilometer Zäune und Mauern, teils meterhoch und ausgestattet mit Überwachungs- und Wärmebildkameras, mit Bewegungsmeldern und Stacheldraht: Grenzzäune zwischen Ungarn und Serbien, zwischen Griechenland und der Türkei oder Mazedonien, zwischen Bulgarien und der Türkei, zwischen Litauen und Belarus. Und so weiter. Noch wird der Bau dieser sogenannten Grenzschutzanlagen von den nationalen Regierungen bezahlt, doch die EU plant nun finanzielle Hilfen. An den europäischen Außengrenzen finden systematische völkerrechtswidrige Zurückweisungen statt; Frontex, die europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, beteiligt sich am gewaltsamen Zurückschleppen von Flüchtlingsbooten.
Europa schützt sich mit Brutalität vor den Flüchtenden. Täglich ertrinken Menschen, die auf den Fluchtrouten über Libyen oder Tunesien ihr Glück versuchen, im Mittelmeer – bei dem Versuch, Italien oder Malta zu erreichen. Immer wieder wagen es verzweifelte Flüchtlinge aus Afrika, den zwölf Kilometer langen und teilweise zehn Meter hohen Grenzzaun zwischen Marokko und der spanischen Enklave Melilla zu stürmen. Nur wenige kommen durch, die meisten bleiben im Zaun hängen, verletzen sich lebensgefährlich am aufmontierten Klingendraht oder werden gleich von den Grenzwachen zurückgeprügelt.
Die Aufzählung der weltweit entstandenen befestigten Grenzen aus Mauern und Gewalt, die Aufzählung der häufig von Deutschland oder der EU unterstützten Menschenrechtsverletzungen im Namen der Flüchtlingsabwehr brauchte Stunden und sprengt alle Online-Nachrichtenformate. Immerhin – die Worte »Flüchtlingskrise« oder »Überforderung durch Migranten« passen locker in einen 280-Zeichen-Tweet bei X, vormals Twitter.
Doch wie brutal die europäischen Sicherheitskräfte auch vorgehen: Die Flüchtlinge haben nichts zu verlieren. Sie kommen aus Äthiopien, Burkina Faso und Myanmar. Aus Nigeria, Mali, Madagaskar, aus Bangladesch, aus Eritrea und Somalia, aus Afghanistan, aus dem Kongo. Sie sind dem syrischen Bürgerkrieg entkommen oder den Bomben und der alltäglichen Not im Gaza-Streifen; sie haben zu Fuß die Sahara durchquert; sie wurden in Libyen gefoltert und in Tunesien gehetzt, verhaftet und an der Grenze zu Libyen und Algerien in der Wüste ausgesetzt.
Diese Menschen haben die Hölle hinter sich – und es ist nur noch eine kleine rote Linie auf einer Landkarte, nur noch ein Zaun, nur noch ein bisschen Wasser, was sie von einem besseren Leben zu trennen scheint. Sie wissen, dass es die meisten von ihnen nicht schaffen werden, aber ihre Verzweiflung ist so groß, dass sie es trotzdem versuchen. Notgedrungen mit der Hilfe von Schleppern.
Schlepper sind Geschöpfe der Politik. Je brutaler die Sicherung der Festung Europa, je ausgeklügelter die Abschreckungs- und Überwachungssysteme, desto dringender wird unsere Berufsgruppe gebraucht. Ohne Schlepper hätten viele Juden nicht die Flucht vor den Nazis geschafft, ohne Schlepper hätten einige unserer Schwestern und Brüder aus der DDR nicht den gelobten Westen erreicht.
Natürlich werde ich mir meine Hilfe als Schlepperin rund um das Mittelmeer gut bezahlen lassen. Schließlich muss ich ein Schiff besorgen, was immer schwieriger wird; schließlich muss ich geheime Wege finden – zum Beispiel vorbei an den brutalen libyschen Milizen (die übrigens auch von Deutschland finanziert oder ausgebildet werden); schließlich muss ich für Wasser und ein wenig Nahrung sorgen. Eben die ganze Organisation und Verantwortung tragen – und das Risiko, verhaftet, selbst gefoltert, vielleicht erschossen zu werden.
Leistung muss sich lohnen, da sind wir uns doch sicher einig, Sie und ich. Doch anders als die millionen- und milliardenschweren Finanzjongleure, die mit Wasser, Lebensmitteln und Böden spekulieren und so Existenzgrundlagen künftiger Flüchtlinge vernichten, gelte ich als Abschaum und erhalte keinen Platz in der Opernloge der Reichen und Schönen. Uns Schlepper mag man nicht. Nicht, weil wir auf unmoralische Weise Geld verdienen – na und? –, sondern weil wir Sie mit Menschen und Problemen konfrontieren, mit denen Sie nicht konfrontiert werden wollen.
Längst hat die EU damit begonnen, meine künftigen Kollegen und mich militärisch zu bekämpfen. Krieg zu führen gegen die Schlepperbanden. Und zwischen Libyen und Italien unsere Boote zu zerstören zu lassen. Zum Beispiel durch die Bundeswehr oder die Grenzschutzagentur Frontex. Nur durch den Kampf gegen die Schlepper, so die Behauptung, könne das Massensterben der Flüchtlinge im Mittelmeer und auf anderen Fluchtrouten verhindert werden. Die Propaganda hat längst Erfolg. Umfragen zeigen, dass die Mehrheit von Ihnen die Schlepper dafür verantwortlich macht, dass Menschen vor unerträglichen Lebensbedingungen fliehen – und dass sie unterwegs sterben.
Sie glauben also auch: Mit jedem Schlepper, der in der Nazizeit verhaftet und getötet wurde, wurde der Mord an den Juden verhindert?
Ja, Sie sind gemeint. Wollen Sie zur bequemen Tagesordnung übergehen? Ihre Hände in Unschuld waschen? Heute Abend noch ein nettes Restaurant besuchen, vielleicht sogar mit internationaler Küche?
Besser wäre, Sie würden stattdessen auf die Straße gehen, um gegen diesen ungeheuerlichen Zynismus, gegen diese Brutalität zu demonstrieren; besser wäre, Sie belagern Ihre Abgeordneten, damit sie auf die Regierung einwirken; besser wäre, Sie schreien endlich auf – gegen die EU mit ihren Militäraktionen gegen Flüchtlingsschleuser im Mittelmeer, gegen die finanzielle Unterstützung Libyens, wo Flüchtlinge gefoltert, mit heißem Öl übergossen, vergewaltigt, verkauft werden. Gegen die zahllosen staatlich finanzierten Verbrechen in Ihrem Namen. Gegen den aktuellen sogenannten EU-Asylkompromiss, dem soeben auch die feinen Grünen zugestimmt haben. Gegen die geplanten Haftlager an den EU-Außengrenzen.
Ich jedenfalls will nicht auf der einen Seite des Zaunes leben, an dessen anderer Seite Menschen hängen, die wir ermordet haben. Sie blicken uns an, die Toten. – Schauen Sie hin.