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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Schlepper werden

Wie waren Ihre letz­ten Tage? Noch ein wenig Son­ne getankt? Gut geges­sen? Viel­leicht einen klei­nen Bum­mel unter­nom­men, ein Schnäpp­chen ergat­tert? Eine Kuschel­par­ty besucht oder Sel­fies gepo­stet? – Und hof­fent­lich weit und breit kei­nen Flücht­ling gese­hen. Wie ange­nehm für Sie!

Mög­li­cher­wei­se haben Sie sich auch Gedan­ken über Ihre Zukunft gemacht. So wie ich. Mein Plan: Ich wür­de ger­ne Schlep­pe­rin wer­den. Zum Bei­spiel rund ums Mit­tel­meer. Ich weiß, der Beruf des Schlep­pers ist der­zeit nicht gut ange­se­hen, aber es ist ein Beruf mit Zukunft.

Mil­lio­nen Men­schen sind auf der Flucht vor Krieg, Gewalt und Ver­fol­gung, vor Hun­ger und depri­mie­ren­der Armut, vor einem Leben ohne Zukunfts­per­spek­ti­ven. Mei­ne lukra­ti­ve Zukunft könn­te also die pre­kä­re Zukunft der Flücht­lin­ge sein. Ich pro­fi­tie­re von der Not der Mil­lio­nen und eini­ge der Mil­lio­nen pro­fi­tie­ren von mir, von mei­nem Ein­satz als Schlepper.

Das fin­den Sie unmo­ra­lisch, zynisch, gera­de­zu kri­mi­nell? Sie hal­ten es für unan­stän­dig, auf Kosten der Flücht­lin­ge zu leben? Dabei sit­zen wir, also Sie und ich, qua­si in einem Boot.

Auch Ihre Tel­ler sind nur so gut gefüllt, weil die Tel­ler der Hun­gern­den leer sind. Für unse­re bil­li­gen T-Shirts erhal­ten Frau­en in Indi­en oder Ban­gla­desch weni­ger als einen Hun­ger­lohn, ohne Kran­ken- oder Ren­ten­ver­si­che­rung. Und in Ihren Smart­phones (ich besit­ze keins) steckt u. a. Kobalt, das zu einem gro­ßen Teil im Kon­go und weit­ge­hend ohne Ein­hal­tung sozia­ler, arbeits­recht­li­cher, gesund­heit­li­cher oder öko­lo­gi­scher Stan­dards abge­baut wird.

Die von Ihnen gewähl­ten deut­schen Regie­run­gen unter­stüt­zen auto­ri­tä­re Regime in Afri­ka, u. a. mit Geld und Logi­stik für die Aus­bil­dung von Poli­zi­sten, den Bau von Haft­räu­men und die Instal­la­ti­on von über­wach­ten Grenz­schutz­an­la­gen, um die­je­ni­gen, die vor Men­schen- und Bür­ger­rechts­ver­let­zun­gen flie­hen wol­len, am Ver­las­sen der Län­der zu hin­dern. Womit die Flucht­ur­sa­chen noch ver­schlim­mert wer­den. Nicht zu ver­ges­sen: Waf­fen MADE IN GERMANY gehö­ren zu unse­ren belieb­te­sten Export­schla­gern – und töten oder bedro­hen Unschul­di­ge in vie­len Tei­len der Welt. Und nein, sie brin­gen kei­nen Frie­den, auch nicht in der Ukrai­ne oder in Israel.

Womit wir wie­der bei mei­nem Berufs­wunsch wären. Ich wer­de näm­lich sehr ger­ne gebraucht – und Schlep­per sind die letz­te Chan­ce für die Mehr­heit der Flücht­lin­ge. Auch dank Ihrer Steu­er­gel­der sind lega­le-siche­re-men­schen­wür­di­ge Wege raus aus Krieg und Fol­ter und Elend längst ver­schlos­sen, zuge­baut, von schwer bewaff­ne­ten Mili­tär- und Son­der­po­li­zei­ein­hei­ten bewacht. Die Gren­zen der EU sind auf­ge­rü­stet. Hun­der­te Kilo­me­ter Zäu­ne und Mau­ern, teils meter­hoch und aus­ge­stat­tet mit Über­wa­chungs- und Wär­me­bild­ka­me­ras, mit Bewe­gungs­mel­dern und Sta­chel­draht: Grenz­zäu­ne zwi­schen Ungarn und Ser­bi­en, zwi­schen Grie­chen­land und der Tür­kei oder Maze­do­ni­en, zwi­schen Bul­ga­ri­en und der Tür­kei, zwi­schen Litau­en und Bela­rus. Und so wei­ter. Noch wird der Bau die­ser soge­nann­ten Grenz­schutz­an­la­gen von den natio­na­len Regie­run­gen bezahlt, doch die EU plant nun finan­zi­el­le Hil­fen. An den euro­päi­schen Außen­gren­zen fin­den syste­ma­ti­sche völ­ker­rechts­wid­ri­ge Zurück­wei­sun­gen statt; Fron­tex, die euro­päi­sche Agen­tur für die Grenz- und Küsten­wa­che, betei­ligt sich am gewalt­sa­men Zurück­schlep­pen von Flüchtlingsbooten.

Euro­pa schützt sich mit Bru­ta­li­tät vor den Flüch­ten­den. Täg­lich ertrin­ken Men­schen, die auf den Flucht­rou­ten über Liby­en oder Tune­si­en ihr Glück ver­su­chen, im Mit­tel­meer – bei dem Ver­such, Ita­li­en oder Mal­ta zu errei­chen. Immer wie­der wagen es ver­zwei­fel­te Flücht­lin­ge aus Afri­ka, den zwölf Kilo­me­ter lan­gen und teil­wei­se zehn Meter hohen Grenz­zaun zwi­schen Marok­ko und der spa­ni­schen Enkla­ve Mel­il­la zu stür­men. Nur weni­ge kom­men durch, die mei­sten blei­ben im Zaun hän­gen, ver­let­zen sich lebens­ge­fähr­lich am auf­mon­tier­ten Klin­gen­draht oder wer­den gleich von den Grenz­wa­chen zurückgeprügelt.

Die Auf­zäh­lung der welt­weit ent­stan­de­nen befe­stig­ten Gren­zen aus Mau­ern und Gewalt, die Auf­zäh­lung der häu­fig von Deutsch­land oder der EU unter­stütz­ten Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen im Namen der Flücht­lings­ab­wehr brauch­te Stun­den und sprengt alle Online-Nach­rich­ten­for­ma­te. Immer­hin – die Wor­te »Flücht­lings­kri­se« oder »Über­for­de­rung durch Migran­ten« pas­sen locker in einen 280-Zei­chen-Tweet bei X, vor­mals Twit­ter.

Doch wie bru­tal die euro­päi­schen Sicher­heits­kräf­te auch vor­ge­hen: Die Flücht­lin­ge haben nichts zu ver­lie­ren. Sie kom­men aus Äthio­pi­en, Bur­ki­na Faso und Myan­mar. Aus Nige­ria, Mali, Mada­gas­kar, aus Ban­gla­desch, aus Eri­trea und Soma­lia, aus Afgha­ni­stan, aus dem Kon­go. Sie sind dem syri­schen Bür­ger­krieg ent­kom­men oder den Bom­ben und der all­täg­li­chen Not im Gaza-Strei­fen; sie haben zu Fuß die Saha­ra durch­quert; sie wur­den in Liby­en gefol­tert und in Tune­si­en gehetzt, ver­haf­tet und an der Gren­ze zu Liby­en und Alge­ri­en in der Wüste ausgesetzt.

Die­se Men­schen haben die Höl­le hin­ter sich – und es ist nur noch eine klei­ne rote Linie auf einer Land­kar­te, nur noch ein Zaun, nur noch ein biss­chen Was­ser, was sie von einem bes­se­ren Leben zu tren­nen scheint. Sie wis­sen, dass es die mei­sten von ihnen nicht schaf­fen wer­den, aber ihre Ver­zweif­lung ist so groß, dass sie es trotz­dem ver­su­chen. Not­ge­drun­gen mit der Hil­fe von Schleppern.

Schlep­per sind Geschöp­fe der Poli­tik. Je bru­ta­ler die Siche­rung der Festung Euro­pa, je aus­ge­klü­gel­ter die Abschreckungs- und Über­wa­chungs­sy­ste­me, desto drin­gen­der wird unse­re Berufs­grup­pe gebraucht. Ohne Schlep­per hät­ten vie­le Juden nicht die Flucht vor den Nazis geschafft, ohne Schlep­per hät­ten eini­ge unse­rer Schwe­stern und Brü­der aus der DDR nicht den gelob­ten Westen erreicht.

Natür­lich wer­de ich mir mei­ne Hil­fe als Schlep­pe­rin rund um das Mit­tel­meer gut bezah­len las­sen. Schließ­lich muss ich ein Schiff besor­gen, was immer schwie­ri­ger wird; schließ­lich muss ich gehei­me Wege fin­den – zum Bei­spiel vor­bei an den bru­ta­len liby­schen Mili­zen (die übri­gens auch von Deutsch­land finan­ziert oder aus­ge­bil­det wer­den); schließ­lich muss ich für Was­ser und ein wenig Nah­rung sor­gen. Eben die gan­ze Orga­ni­sa­ti­on und Ver­ant­wor­tung tra­gen – und das Risi­ko, ver­haf­tet, selbst gefol­tert, viel­leicht erschos­sen zu werden.

Lei­stung muss sich loh­nen, da sind wir uns doch sicher einig, Sie und ich. Doch anders als die mil­lio­nen- und mil­li­ar­den­schwe­ren Finanz­jon­gleu­re, die mit Was­ser, Lebens­mit­teln und Böden spe­ku­lie­ren und so Exi­stenz­grund­la­gen künf­ti­ger Flücht­lin­ge ver­nich­ten, gel­te ich als Abschaum und erhal­te kei­nen Platz in der Opern­lo­ge der Rei­chen und Schö­nen. Uns Schlep­per mag man nicht. Nicht, weil wir auf unmo­ra­li­sche Wei­se Geld ver­die­nen – na und? –, son­dern weil wir Sie mit Men­schen und Pro­ble­men kon­fron­tie­ren, mit denen Sie nicht kon­fron­tiert wer­den wollen.

Längst hat die EU damit begon­nen, mei­ne künf­ti­gen Kol­le­gen und mich mili­tä­risch zu bekämp­fen. Krieg zu füh­ren gegen die Schlep­per­ban­den. Und zwi­schen Liby­en und Ita­li­en unse­re Boo­te zu zer­stö­ren zu las­sen. Zum Bei­spiel durch die Bun­des­wehr oder die Grenz­schutz­agen­tur Fron­tex. Nur durch den Kampf gegen die Schlep­per, so die Behaup­tung, kön­ne das Mas­sen­ster­ben der Flücht­lin­ge im Mit­tel­meer und auf ande­ren Flucht­rou­ten ver­hin­dert wer­den. Die Pro­pa­gan­da hat längst Erfolg. Umfra­gen zei­gen, dass die Mehr­heit von Ihnen die Schlep­per dafür ver­ant­wort­lich macht, dass Men­schen vor uner­träg­li­chen Lebens­be­din­gun­gen flie­hen – und dass sie unter­wegs sterben.

Sie glau­ben also auch: Mit jedem Schlep­per, der in der Nazi­zeit ver­haf­tet und getö­tet wur­de, wur­de der Mord an den Juden verhindert?

Ja, Sie sind gemeint. Wol­len Sie zur beque­men Tages­ord­nung über­ge­hen? Ihre Hän­de in Unschuld waschen? Heu­te Abend noch ein net­tes Restau­rant besu­chen, viel­leicht sogar mit inter­na­tio­na­ler Küche?

Bes­ser wäre, Sie wür­den statt­des­sen auf die Stra­ße gehen, um gegen die­sen unge­heu­er­li­chen Zynis­mus, gegen die­se Bru­ta­li­tät zu demon­strie­ren; bes­ser wäre, Sie bela­gern Ihre Abge­ord­ne­ten, damit sie auf die Regie­rung ein­wir­ken; bes­ser wäre, Sie schrei­en end­lich auf – gegen die EU mit ihren Mili­tär­ak­tio­nen gegen Flücht­lings­schleu­ser im Mit­tel­meer, gegen die finan­zi­el­le Unter­stüt­zung Liby­ens, wo Flücht­lin­ge gefol­tert, mit hei­ßem Öl über­gos­sen, ver­ge­wal­tigt, ver­kauft wer­den. Gegen die zahl­lo­sen staat­lich finan­zier­ten Ver­bre­chen in Ihrem Namen. Gegen den aktu­el­len soge­nann­ten EU-Asyl­kom­pro­miss, dem soeben auch die fei­nen Grü­nen zuge­stimmt haben. Gegen die geplan­ten Haft­la­ger an den EU-Außengrenzen.

Ich jeden­falls will nicht auf der einen Sei­te des Zau­nes leben, an des­sen ande­rer Sei­te Men­schen hän­gen, die wir ermor­det haben. Sie blicken uns an, die Toten. – Schau­en Sie hin.