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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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»Schicksalsgemeinschaft«

Im Leit­ar­ti­kel der FAZ vom 20.1.24, beti­telt »Schick­sals­ge­mein­schaft in Auf­lö­sung«, geht es um Fra­gen zur Reform des Staats­bür­ger­schafts­recht. Im Zwi­schen­ti­tel wird her­aus­ge­ho­ben notiert, es sei »unver­ant­wort­lich, die Zusam­men­set­zung des Staats­vol­kes leicht­fer­tig zu ändern«.

Schaut man sich in phi­lo­so­phi­schen Wör­ter­bü­chern kurz um, so kann man lesen: »Schick­sal­haft erscheint dem Men­schen der Strom des rea­len Gesche­hens, sofern er sein eige­nes, unge­such­tes, unge­woll­tes, im all­ge­mei­nen auch unver­schul­de­tes Aus­ge­lie­fert­sein an ihm emp­fin­det. (…) Was wir in die­sem Stro­me andau­ernd erfah­ren, ist nichts ande­res als die all­ge­mei­ne Här­te des Rea­len.« Die­se Wor­te gehen auf den Phi­lo­so­phen Niko­lai Hart­mann zurück. Unter dem Titel der Gemein­schaft ver­zeich­net das­sel­be Wör­ter­buch aus dem Jah­re 1935: »Schick­sals­ge­mein­schaft, Volks- und Blut­ge­mein­schaft. Mit die­sen Wor­ten soll das gemein­sa­me Ent­hal­ten­sein in einem Gan­zen zum Aus­druck gebracht werden.«

Es ist nun zwei­fels­oh­ne pikant, wenn eine kon­ser­va­tiv aus­ge­rich­te­te Tages­zei­tung mit Begrif­fen han­tiert, denen ihre unse­li­ge Geschich­te jeder­zeit um die Ohren gehau­en wer­den kann. Mit die­ser Ver­wen­dung des Schick­sals­be­grif­fes nimmt der Ver­fas­ser, Rein­hard Mül­ler, Abschied von zahl­rei­chen Vor­stel­lun­gen, die im Ratio­na­lis­mus der Auf­klä­rung wur­zeln. Ereig­nis­se nicht mehr in ihrem Wer­den unter Ein­schluss des eige­nen Han­delns begrei­fen zu kön­nen, ver­ab­schie­det Ratio­na­li­tät aus der Poli­tik. Ein Schick­sal lässt wenig Raum für eine ratio­na­le Durch­drin­gung gegen­wär­ti­ger und ver­gan­ge­ner Poli­tik. Es gibt Grün­de für die Nato, sich aus­zu­deh­nen, eben­so wie es Grün­de gibt für die, die dar­auf ant­wor­ten. Über Grün­de kann man dis­ku­tie­ren und ihre Sach­hal­tig­keit einem Test unter­wer­fen, denn wir haben »ein Recht auf Recht­fer­ti­gun­gen« (Rai­ner Forst).

Wir haben ein Recht dar­auf, Poli­tik auf ihre Wir­kun­gen hin zu ana­ly­sie­ren, und soll­ten es ver­mei­den, z.B. ein­fach eine EU als sakro­sankt hin­zu­stel­len, egal, was dort ent­schie­den wird. Aber es ist auch rich­tig: In Deutsch­land hat­te es kei­ne Volks­ab­stim­mung zur Ein­füh­rung des Euros gege­ben. Wir wur­den »glau­bend« in dies Schick­sal getrieben.

Soll­te man nun auf die Idee kom­men, wie es ja zur­zeit pas­siert, die eige­nen Hand­lun­gen als prin­zi­pi­ell nur gut ein­zu­stu­fen und die der poli­ti­schen Kon­kur­ren­ten als »böse«, so wie es unser Bun­des­prä­si­dent for­mu­lier­te, dann kann es wie in den Com­pu­ter­spie­len nur den ewi­gen Kampf geben, der sich zu einem »Ver­nich­tungs­kampf« aus­wei­ten muss, denn vom Bösen wür­de man schließ­lich infi­ziert und unter­wor­fen wer­den kön­nen. Wir erin­nern uns noch gut dar­an, wie unse­re poli­ti­sche Klas­se wei­land auf die Oppo­si­ti­on im eige­nen Lan­de reagiert hat­te: KPD-Ver­bot, eini­ge Mil­lio­nen Akten gegen die poten­ti­el­len »Fein­de«, wie im Radi­ka­len­er­lass. Aber die dort ange­bo­te­nen »Grün­de­ge­schich­ten« konn­te man wenig­stens dis­ku­tie­ren und wur­den noch nicht mit dem Schick­sals­be­griff amal­ga­miert. Grün­de las­sen sich, so wie heu­te, durch ewi­ge pro­pa­gan­di­sti­sche For­meln, Bil­der und Nach­rich­ten­se­quen­zen tief ins Bewusst­sein der Öffent­lich­keit schie­ben, um auf die­se Wei­se die dia­gno­sti­zier­te »Kriegs­mü­dig­keit« mit der Peit­sche hin zur »Kriegs­tüch­tig­keit« zu trei­ben. Schließ­lich kön­nen sich »Grün­de­ge­schich­ten« zu Nar­ra­ti­ven wei­ter­ent­wickeln, zu Groß­erzäh­lun­gen, wor­in sich die Sät­ze nur noch gegen­sei­tig stüt­zen, aber ihren Wirk­lich­keits­be­zug syste­ma­tisch verlieren.

Peit­schen gegen Anders­den­ken­de ent­wickeln ihre eige­nen »Neben­fol­gen«, die, wür­de man noch klar den­ken wol­len, man nicht als »nicht-inten­diert« betrach­ten könn­te. Den äuße­ren Fein­den wer­den zur­zeit die inne­ren Fein­de zur Sei­te gestellt, so dass die Mit­te immer schmal­brü­sti­ger wird.

Die stän­di­ge Wie­der­ho­lung der so wich­ti­gen »Gemein­schaft« lässt ihre tat­säch­li­che Hete­ro­ge­ni­tät aus dem Blick gera­ten. Wenn es dar­auf ankä­me, könn­ten die Bay­ern kaum mit den Ber­li­nern zusam­men­kom­men, ohne alte Ani­mo­si­tä­ten zu akti­vie­ren. Den Weiß­wurst-Äqua­tor gibt es noch, so wie den zwi­schen den Bür­gern der alten Bun­des­re­pu­blik und den Neu­bür­gern im »Osten«. Vor gut zwei Jah­ren woll­te und konn­te ein Eth­no­lo­ge in der FAZ noch die Fra­ge dis­ku­tie­ren, was die Thü­rin­ger wohl für Men­schen sei­en. Auf die Idee, sie aus der ver­ding­lich­ten Sicht­wei­se durch ein­fa­che Gesprä­che zu befrei­en, kam der dama­li­ge Autor nicht.

Soweit es um Krie­ge geht oder, wie man euphe­mi­stisch sagt, um die »Wahr­neh­mung unse­rer Ver­ant­wor­tung in der Welt«, kann man Opfer bekla­gen. Bei den anste­hen­den Ein­sät­zen wird man davon eine wach­sen­de Zahl zu regi­strie­ren haben. Und prompt kommt aus dem Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­ri­um ein Papier, mit dem eine neue und bes­se­re »Gefal­le­nen-Erin­ne­rungs­po­li­tik« gefor­dert wird. Für die­sen Zusam­men­hang ist nur wesent­lich: Die Toten eines Krie­ges kön­nen zwar den eige­nen Tod als Schick­sal in Kauf neh­men, auf jeden Fall gehö­ren sie nicht mehr zur »Gemein­schaft«. Das »Schick­sal« ist, wie die Gefah­ren ver­letzt oder getö­tet zu wer­den, offen­bar sehr selek­tiv. Eine Fir­ma wie Rhein­me­tall jubi­liert wegen der höch­sten Absatz­chan­cen an Muni­ti­on und Pan­zern und will schnell in der Ukrai­ne inve­stie­ren, um nah am »Markt« (des Todes) zu sein.

Durch Krie­ge wird das Staats­volk ver­min­dert, sicher noch nicht »auf­ge­löst«. Wenn in dem Arti­kel von einer ver­än­der­ten Zusam­men­set­zung des Staats­vol­kes qua poli­ti­scher Ent­schei­dung gespro­chen wird, kann man das Echo des Drit­ten Rei­ches hören, wo es Ana­log um die »Rein­heit« des deut­schen Vol­kes ging. Zudem soll­ten Fein­de aus­sor­tiert und in Schutz­haft genom­men, ande­re soll­ten der Ver­nich­tung anheim­ge­ge­ben wer­den. Für prak­ti­sche Wirk­sam­keit, also den prag­ma­ti­schen Aspekt der Spra­che, soll­te man nicht nur Wor­te bemü­hen, denn die kön­nen rhe­to­risch hin und her gebo­gen wer­den. Jeden­falls tritt der Ver­fas­ser des Leit­ar­ti­kels ein neu­es Poli­tik­feld los: die Zusam­men­set­zung des Staats­vol­kes. Ob es ihm ent­gan­gen ist, dass wir inzwi­schen in Euro­pa einen ver­gleichs­wei­se frei­en Arbeits­markt haben, so dass des­halb Wan­de­rungs­be­we­gun­gen statt­fin­den, die nicht mehr für Steue­rungs­fan­ta­sien zugäng­lich sind?

Die Idee des Rechts­staa­tes wird Schritt für Schritt auf­ge­la­den mit Bekennt­nis­sen zum Staat und dem, was die Poli­tik als »Staats­rä­son« aus­gibt, wie als Tages­lo­sung. Wer sich nicht fügt, dürf­te schnell sehr schräg ange­se­hen wer­den und einem mora­li­schen Ver­dikt zum Opfer fal­len. Der Staat soll­te ein­mal durch den Rechts­staat an tota­li­tä­ren und des­po­ti­schen Ver­su­chun­gen gehin­dert wer­den, indem Geset­ze all­ge­mei­nes Ver­hal­ten und Hand­lun­gen regeln. Ursprüng­lich waren es sogar Schutz­rech­te des Bür­gers gegen den Staat. Ab wann nun muss der Staat vor sei­nen Bür­gern geschützt wer­den? Erin­nern wir uns des Slo­gans: Alle Staats­ge­walt geht vom Vol­ke aus, aber wo geht sie hin?

Dem Ver­fas­ser des Leit­ar­ti­kels soll­te klar sein, dass unse­re DAX-Unter­neh­men hoch­gra­dig inter­na­tio­nal ver­floch­ten sind und dass deren Mana­ger auf der Welt her­um­rei­sen, um sich die Wei­sun­gen von Kapi­tal­eig­nern abzu­ho­len. Da hilft der von Mini­ster Habeck jüngst gewünsch­te »Stand­ort­pa­trio­tis­mus« nichts. Das Kapi­tal hat nun mal kei­ne »Hei­mat«, ist geschichts­los und kei­nem »Schick­sal« unter­wor­fen. Es inter­es­siert sich längst nicht mehr für die »Zusam­men­set­zung« eines Staats­vol­kes. Der Begriff »Volk« wür­de in des­sen Wort­schatz nicht mehr vorkommen.

Der Ver­fas­ser Rein­hard Mül­ler ver­wen­det eine Begriff­lich­keit, die, so kann man es bei Erich Roth­acker und des­sen Geschichts­phi­lo­so­phie von 1934 nach­le­sen, auf Gedan­ken von Oswald Speng­lers Buch vom Unter­gang des Abend­lan­des zurück­greift. Wird dar­aus der Schluss gezo­gen, die nicht mehr vor­han­de­ne »Ein­heit« eines Staats­vol­kes vor der Auf­lö­sung durch Akte des Beken­nens zu schüt­zen, wird der freie Raum ehe­mals libe­ra­ler Grund­vor­stel­lun­gen ver­las­sen. Bekennt­nis­ge­mein­schaf­ten sind Reli­gio­nen oder deren Ersatzstücke.