Im Leitartikel der FAZ vom 20.1.24, betitelt »Schicksalsgemeinschaft in Auflösung«, geht es um Fragen zur Reform des Staatsbürgerschaftsrecht. Im Zwischentitel wird herausgehoben notiert, es sei »unverantwortlich, die Zusammensetzung des Staatsvolkes leichtfertig zu ändern«.
Schaut man sich in philosophischen Wörterbüchern kurz um, so kann man lesen: »Schicksalhaft erscheint dem Menschen der Strom des realen Geschehens, sofern er sein eigenes, ungesuchtes, ungewolltes, im allgemeinen auch unverschuldetes Ausgeliefertsein an ihm empfindet. (…) Was wir in diesem Strome andauernd erfahren, ist nichts anderes als die allgemeine Härte des Realen.« Diese Worte gehen auf den Philosophen Nikolai Hartmann zurück. Unter dem Titel der Gemeinschaft verzeichnet dasselbe Wörterbuch aus dem Jahre 1935: »Schicksalsgemeinschaft, Volks- und Blutgemeinschaft. Mit diesen Worten soll das gemeinsame Enthaltensein in einem Ganzen zum Ausdruck gebracht werden.«
Es ist nun zweifelsohne pikant, wenn eine konservativ ausgerichtete Tageszeitung mit Begriffen hantiert, denen ihre unselige Geschichte jederzeit um die Ohren gehauen werden kann. Mit dieser Verwendung des Schicksalsbegriffes nimmt der Verfasser, Reinhard Müller, Abschied von zahlreichen Vorstellungen, die im Rationalismus der Aufklärung wurzeln. Ereignisse nicht mehr in ihrem Werden unter Einschluss des eigenen Handelns begreifen zu können, verabschiedet Rationalität aus der Politik. Ein Schicksal lässt wenig Raum für eine rationale Durchdringung gegenwärtiger und vergangener Politik. Es gibt Gründe für die Nato, sich auszudehnen, ebenso wie es Gründe gibt für die, die darauf antworten. Über Gründe kann man diskutieren und ihre Sachhaltigkeit einem Test unterwerfen, denn wir haben »ein Recht auf Rechtfertigungen« (Rainer Forst).
Wir haben ein Recht darauf, Politik auf ihre Wirkungen hin zu analysieren, und sollten es vermeiden, z.B. einfach eine EU als sakrosankt hinzustellen, egal, was dort entschieden wird. Aber es ist auch richtig: In Deutschland hatte es keine Volksabstimmung zur Einführung des Euros gegeben. Wir wurden »glaubend« in dies Schicksal getrieben.
Sollte man nun auf die Idee kommen, wie es ja zurzeit passiert, die eigenen Handlungen als prinzipiell nur gut einzustufen und die der politischen Konkurrenten als »böse«, so wie es unser Bundespräsident formulierte, dann kann es wie in den Computerspielen nur den ewigen Kampf geben, der sich zu einem »Vernichtungskampf« ausweiten muss, denn vom Bösen würde man schließlich infiziert und unterworfen werden können. Wir erinnern uns noch gut daran, wie unsere politische Klasse weiland auf die Opposition im eigenen Lande reagiert hatte: KPD-Verbot, einige Millionen Akten gegen die potentiellen »Feinde«, wie im Radikalenerlass. Aber die dort angebotenen »Gründegeschichten« konnte man wenigstens diskutieren und wurden noch nicht mit dem Schicksalsbegriff amalgamiert. Gründe lassen sich, so wie heute, durch ewige propagandistische Formeln, Bilder und Nachrichtensequenzen tief ins Bewusstsein der Öffentlichkeit schieben, um auf diese Weise die diagnostizierte »Kriegsmüdigkeit« mit der Peitsche hin zur »Kriegstüchtigkeit« zu treiben. Schließlich können sich »Gründegeschichten« zu Narrativen weiterentwickeln, zu Großerzählungen, worin sich die Sätze nur noch gegenseitig stützen, aber ihren Wirklichkeitsbezug systematisch verlieren.
Peitschen gegen Andersdenkende entwickeln ihre eigenen »Nebenfolgen«, die, würde man noch klar denken wollen, man nicht als »nicht-intendiert« betrachten könnte. Den äußeren Feinden werden zurzeit die inneren Feinde zur Seite gestellt, so dass die Mitte immer schmalbrüstiger wird.
Die ständige Wiederholung der so wichtigen »Gemeinschaft« lässt ihre tatsächliche Heterogenität aus dem Blick geraten. Wenn es darauf ankäme, könnten die Bayern kaum mit den Berlinern zusammenkommen, ohne alte Animositäten zu aktivieren. Den Weißwurst-Äquator gibt es noch, so wie den zwischen den Bürgern der alten Bundesrepublik und den Neubürgern im »Osten«. Vor gut zwei Jahren wollte und konnte ein Ethnologe in der FAZ noch die Frage diskutieren, was die Thüringer wohl für Menschen seien. Auf die Idee, sie aus der verdinglichten Sichtweise durch einfache Gespräche zu befreien, kam der damalige Autor nicht.
Soweit es um Kriege geht oder, wie man euphemistisch sagt, um die »Wahrnehmung unserer Verantwortung in der Welt«, kann man Opfer beklagen. Bei den anstehenden Einsätzen wird man davon eine wachsende Zahl zu registrieren haben. Und prompt kommt aus dem Verteidigungsministerium ein Papier, mit dem eine neue und bessere »Gefallenen-Erinnerungspolitik« gefordert wird. Für diesen Zusammenhang ist nur wesentlich: Die Toten eines Krieges können zwar den eigenen Tod als Schicksal in Kauf nehmen, auf jeden Fall gehören sie nicht mehr zur »Gemeinschaft«. Das »Schicksal« ist, wie die Gefahren verletzt oder getötet zu werden, offenbar sehr selektiv. Eine Firma wie Rheinmetall jubiliert wegen der höchsten Absatzchancen an Munition und Panzern und will schnell in der Ukraine investieren, um nah am »Markt« (des Todes) zu sein.
Durch Kriege wird das Staatsvolk vermindert, sicher noch nicht »aufgelöst«. Wenn in dem Artikel von einer veränderten Zusammensetzung des Staatsvolkes qua politischer Entscheidung gesprochen wird, kann man das Echo des Dritten Reiches hören, wo es Analog um die »Reinheit« des deutschen Volkes ging. Zudem sollten Feinde aussortiert und in Schutzhaft genommen, andere sollten der Vernichtung anheimgegeben werden. Für praktische Wirksamkeit, also den pragmatischen Aspekt der Sprache, sollte man nicht nur Worte bemühen, denn die können rhetorisch hin und her gebogen werden. Jedenfalls tritt der Verfasser des Leitartikels ein neues Politikfeld los: die Zusammensetzung des Staatsvolkes. Ob es ihm entgangen ist, dass wir inzwischen in Europa einen vergleichsweise freien Arbeitsmarkt haben, so dass deshalb Wanderungsbewegungen stattfinden, die nicht mehr für Steuerungsfantasien zugänglich sind?
Die Idee des Rechtsstaates wird Schritt für Schritt aufgeladen mit Bekenntnissen zum Staat und dem, was die Politik als »Staatsräson« ausgibt, wie als Tageslosung. Wer sich nicht fügt, dürfte schnell sehr schräg angesehen werden und einem moralischen Verdikt zum Opfer fallen. Der Staat sollte einmal durch den Rechtsstaat an totalitären und despotischen Versuchungen gehindert werden, indem Gesetze allgemeines Verhalten und Handlungen regeln. Ursprünglich waren es sogar Schutzrechte des Bürgers gegen den Staat. Ab wann nun muss der Staat vor seinen Bürgern geschützt werden? Erinnern wir uns des Slogans: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, aber wo geht sie hin?
Dem Verfasser des Leitartikels sollte klar sein, dass unsere DAX-Unternehmen hochgradig international verflochten sind und dass deren Manager auf der Welt herumreisen, um sich die Weisungen von Kapitaleignern abzuholen. Da hilft der von Minister Habeck jüngst gewünschte »Standortpatriotismus« nichts. Das Kapital hat nun mal keine »Heimat«, ist geschichtslos und keinem »Schicksal« unterworfen. Es interessiert sich längst nicht mehr für die »Zusammensetzung« eines Staatsvolkes. Der Begriff »Volk« würde in dessen Wortschatz nicht mehr vorkommen.
Der Verfasser Reinhard Müller verwendet eine Begrifflichkeit, die, so kann man es bei Erich Rothacker und dessen Geschichtsphilosophie von 1934 nachlesen, auf Gedanken von Oswald Spenglers Buch vom Untergang des Abendlandes zurückgreift. Wird daraus der Schluss gezogen, die nicht mehr vorhandene »Einheit« eines Staatsvolkes vor der Auflösung durch Akte des Bekennens zu schützen, wird der freie Raum ehemals liberaler Grundvorstellungen verlassen. Bekenntnisgemeinschaften sind Religionen oder deren Ersatzstücke.