J’accuse … wir klagen euch an. Durch eure kritiklose Unterstützung der israelischen Besatzung, des israelischen Siedlerkolonialismus, des Apartheidstaates zwischen Mittelmeer und Jordantal tragt ihr bei zu unserer Unterdrückung und zur Verhinderung, dass wir endlich als freie Menschen leben können. Ihr seid mitschuldig!
Mit diesen Sätzen endet ein Zeitschriftenbeitrag zu den Verbrechen der israelischen Armee Anfang Juli 2023 in Jenin im Westjordanland. Sie sind eine flammende Anklage gegen die deutsche Regierungspolitik, die tödliche Exzesse des Regimes in Jerusalem seit Jahrzehnten nahezu stillschweigend hinnimmt, einem stereotypen Rechtfertigungs-Muster folgend: Israel verteidigt, so die deutsche Staatsräson, seine Freiheit gegen palästinensische Terroristen.
Die Anklage könnte ermuntern, mit analytischer Gründlichkeit, historischem Scharfsinn und faktischer Genauigkeit kompromisslos darüber aufklären, dass deutsche Politik und Ökonomie mitverantwortlich sind für Leiden und Sterben nicht nur der Palästinenser.
Wir klagen euch an, könnten die im Mittelmeer Ertrunkenen oder in der Wüste Verdursteten, vor Gewalt und Hunger Geflohenen, einstimmen. Und die gefallenen Söhne ukrainischer und russischer Mütter. Und die vertriebenen und getöteten Indigenen am Amazonas. Und die Opfer der Klimakatastrophe auf der Südhalbkugel. Und unzählige andere Menschen, ausgebeutet, unterdrückt, vertrieben, gesundheitlich ruiniert, gemordet. Alles unter Beteiligung oder mit Billigung deutscher Politiker/innen, deutscher Konzerne, deutscher Soldaten, deutscher Grenzkontrolleure.
Wir klagen euch an, könnten die ungezählten Opfer der Desaster im Inneren dieses Landes schreien: Für Bildungsnotstand und Perspektivlosigkeit von Millionen armer Kinder. Für obszöne Altersarmut. Für Wohnungspolitik, die immer mehr Menschen in Not und Elend stürzt. Für Mindest- als Hungerlohn. Für massives Sozialdumping, damit Milliardensummen in Waffenlieferungen an die Ukraine und immer weitere Aufstockung des Kriegsetats gesteckt werden können. Für den »Asylkompromiss«, der immer mehr Menschen auf der Flucht oder in irgendwelchen Konzentrationslagern sterben lässt und ihre Deportation, wenn sie nicht als Arbeits- oder Pflegekräfte nutzbar sind, beschleunigt. Für Klimapolitik mit klimazerstörenden und asozialen Folgen. Für Verkehrspolitik, die den Öffentlichen Nah- und Fernverkehr zugunsten des individuellen Autoverkehrs ruiniert. Für Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung, die viele kranke Menschen das Leben kostet. Wir klagen euch an, weil ihr vorsätzlich Kollateralschäden in unvorstellbarem Ausmaß in diesen missachtenden Affront gegen unzählige Menschen einwebt.
Wir klagen euch an, weil ihr als politische Klasse vor allem gut für euch selbst sorgt. Weil ihr das Parlament bei folgenschweren Entscheidungen, die alle Menschen bedrohen, wie Kriegsbeteiligung und Rüstungsproduktion und Waffenlieferungen, ignoriert. Weil ihr, über demokratische Routinen oder per Geburt oder Vermögen mächtig geworden, gern von Freiheit und Wehrhaftigkeit »unserer« Demokratie, von Menschenrechten und westlichen Werten wie Meinungsfreiheit, von Wohlstand und Wachstum, von sozialer Gerechtigkeit und Armutsbekämpfung heuchelt: Eure Abwicklung der Reste sozialer Politik, der entdemokratisierende Umbau der Gesellschaft und die offensive Militarisierung der politischen Agenda sind nichts weniger als die Aufkündigung des Gesellschaftsvertrages, dessen verfassungsfixierte Basis die Würde aller Menschen und der soziale Ausgleich innerhalb der Gesellschaft sind.
Mit euren Floskelschwaden habt ihr schon immer demokratiezermürbende Eingriffe zugedeckt: Als die »Sozialklausel« des Ahlener Programms der CDU gestrichen wurde – und die SPD einige Jahre später mit dem Godesberger Programm nachzog –, als der Marshall-Plan die kapitalistischen Produktionsverhältnisse in Westdeutschland zementierte, als Wiederaufrüstung und atomare Teilhabe der Bundesrepublik beschlossen waren, als Deutschland seine Souveränität auf unabsehbare Zeit an die USA abtrat und als schon 1956 mit dem Verbot der KPD die Meinungsfreiheit ihr Siechtum begann, das sich ein Jahrzehnt später mit den »Maulkorbgesetzen« und einem für viele Menschen existenzzerstörenden Radikalenerlass fortsetzte. Wer, faktisch unterlegt und argumentativ fundiert, nachweist, dass eure Narrative lügen und betrügen, dass eure Politik vernichtet und tötet, dass ihr jahrzehntelang ein mehr und mehr obrigkeitsstaatlich funktionierendes System geschaffen habt, wird von euch als verschwörungstheoretisch, als demokratiefeindlich oder terrorismusverdächtig denunziert. Den nach 1945 von vielen Menschen ersehnten demokratischen und sozialistischen Aufbruch haben machtpolitische und ökonomische Interessen in diesem Land längst erledigt. Ihr macht euch mitschuldig an einer Zukunft unserer Kinder, die ungerecht, kriegerisch, klimatisch unerträglich sein wird.
Dieser Bankrott eines neoliberal-militärisch verseuchten Systems muss mit intellektueller Redlichkeit und Konsequenz laut, unüberhörbar, penetrant und hartnäckig demaskiert werden. Die dafür zuständige friedens- und menschenrechtsaffine Intelligenz aber handelt zwar wortreich und wortgewandt, bleibt jedoch systemimmanent gelähmt. Franco Basaglia wirft Intellektuellen »Befriedungsverbrechen« vor. Sie verfügen über das Wissen, so unmenschliche wie bigotte gesellschaftliche Zustände, deren praktisches Fundament seit fünfhundert Jahren kolonialistisch und deren ideologische Basis rassistisch ist, zu durchschauen und zu verändern, dienen aber tatsächlich als eine ihrer wichtigsten Stützen: Ihre »Domestizierungs- und Entmündigungsprojekte« als Anwälte, Medizinerinnen, Psychotherapeuten, Sozialarbeiterinnen, Hochschul-Lehrer und nicht zuletzt Politikerinnen sichern die Funktionsfähigkeit des Systems. Sie rechtfertigen sich mit einem gesellschaftlichen Konsens über Verfassung, demokratische Spielregeln, Menschenrechte und Sozialstaat, den es noch nie gab, und mit dem demokratieaffinen Gebot, nur über den argumentativen Austausch sei Veränderung möglich. Aus dieser von Jürgen Habermas propagierten diskursiven Maxime ist ein ideelles Sedativum für das Gros der links-liberalen Intellektuellen geworden, eine Falle für kompromisslose radikale Kritik an macht- und wohlstandssichernden Mechanismen. Der rüde exkommunizierende Umgang mit den – besorgten und qualifizierten – Bedenken gegenüber Maßnahmen im Rahmen der Corona-Pandemie hat den Diskurs als Basis des gesellschaftlichen Miteinanders ohnehin entsorgt.
Die Befriedung von leidenden und unterdrückten Menschen in Verhältnissen, von denen Adorno meinte, »es gibt kein richtiges Leben im falschen«, ist so hinterhältig wie zynisch, weil dem vorgeblich mitfühlenden Wort in der Regel die an- und einpassende Handlung folgt, sie begründet eine Mit-Verantwortung der Intellektuellen für das Elend vieler Menschen. Ihr Handlungsmuster ähnelt bis heute dem der Hofnarren: Deren Freiheit bestand darin, Selbstbetrug, Obszönität und sogar Untaten der fürstlichen Damen und Herren zu ihrem Pläsir bloßzulegen, aber ihre Narretei blieb folgenlos, für sie wie für die Herrschenden.
»Empört euch«, hatte Stéphane Hessel 2014 diese hauptberuflich loyalen Intellektuellen laut und nachdrücklich aufgefordert, Noam Chomsky hat sie die »neuen Mandarine« genannt und ihnen Gleichgültigkeit gegenüber Unrecht und Gewalt vorgeworfen, Jean Ziegler wird nicht müde, sie zum Widerstand gegen Kolonialismus und Ausbeutung und zur Aufgabe ihrer Doppelmoral aufzurufen. Nicht befrieden, also loyal einem menschen- und naturvernichtenden System dienen, sondern es aus den Angeln heben, nicht die Tasten der Laptops malträtieren, sondern Sand ins Getriebe der Macht-Maschinerie streuen – eine Alternative dazu gibt es nicht, wenn aus domestizierenden Handlungsansätzen befreiende Praxis werden soll. »Wir können uns die Motive für Widerstand bei unseren Klienten nicht ausleihen, wir brauchen eigene, um mit ihnen gemeinsam zu kämpfen«, hatte Basaglia an seine Kollegen appelliert. Verweigerung, Agitation und dann die Herrschenden davonjagen, um ihr immer maßloser werdendes zerstörerisches Wüten zu beenden – oder auf der Anklagebank neben ihnen landen.
Radikale Forderungen nach revolutionärer politischer Praxis stellen nicht zuletzt die mit den beschädigten Seelen Konfrontierten: Franco Basaglia hat als Psychiater das vom kapitalistischen System verursachte menschliche Elend ganz praktisch zu verändern versucht, sein italienischer Kollege Giovanni Jervis hat aufgezeigt, dass Isolation und Passivität als Ergebnisse entmündigender Eingriffe durch ExpertInnen Menschen verrückt machen und seelisch verstümmeln, Klaus Dörner wies nach, dass Diagnosen kränken und töten können. Basaglia resümiert seinen jahrzehntelangen Spagat zwischen Befreiung und Anpassung der Irren mit Hinweis auf den zweigleisigen Weg, den Frantz Fanon gegangen ist: Die fachlichen Fähigkeiten nutzen, um den Leidenden beizustehen, und politisch revolutionär handeln, um die Seelen und Körper zerstörenden Bedingungen zu beseitigen. Zu ähnlichen Überlegungen komprimiert Igor Caruso die Erfahrungen seiner psychoanalytischen Praxis: »Die geschichtliche Aufgabe des Menschen kann wie folgt zusammengefasst werden: Sowohl die Zustände als auch das Bewusstsein in dialektischer Wechselwirkung zu ändern. (…). Die Kluft zwischen diesen beiden Ebenen kann, wie Marx erkannte, letztlich nur durch Veränderung der gesellschaftlichen Zustände erreicht werden, jedoch nicht ohne individuelle Anstrengung.«
J’accuse … Wir klagen euch an. In Frankreich rebellierten Millionen gegen eine asoziale Rentenreform, nach dem Todesschuss eines Polizisten auf einen farbigen Jugendlichen folgten Aufstände in vielen Städten. In Israel gehen Hunderttausende gegen eine ultrarechte Regierung auf die Straße, die den demokratischen Grundkonsens der Gewaltenteilung aufkündigt, »wir werden so lange auf der Straße bleiben, bis diese Justizreform vom Tisch ist«, so eine israelische Demonstrantin im Interview in der Tagesschau vom 11. Juli 2023. Wissen um den »Ausgang aus der unverschuldeten Unmündigkeit« macht Aufklärung zu scheinheiliger Kollaboration, wenn es nicht in praktischem Widerstand mündet – und erstickt die zaghaftesten Zweifel am eigenen Handeln und Meinen als Beitrag zu gesellschaftlicher Rechtslastigkeit als existenzieller Basis der AfD.