Wer weiß, was Armut bedeutet? Weiß ich es, der ich in ärmlichen Verhältnissen groß geworden bin? Ich weiß vor allem eines: Armut versteckt sich. Sie ist da, aber man sieht sie nicht. Deutlich mehr als jeder Zehnte lebt unterhalb der Armutsgrenze. Bei jedem Besuch in der Stadt müssten mir also gleich mehrere Arme entgegenkommen, aber ich kann keinen zweifelsfrei erkennen. Armut, das weiß ich aus eigener Erfahrung, will nicht erkannt werden. Sie tut im Gegenteil alles, um nicht aufzufallen.
Mein Vater war Bergmann, aber er war körperlich zu schwach, um dauerhaft dort zu arbeiten, wo im Bergwerk wirklich Geld verdient wurde. Als Hauer direkt vor Kohle nämlich. Sieben Jahre hat er diese schweißtreibende Knochenarbeit durchgehalten, dann ging es nicht mehr.
Ursprünglich hatte er Kaufmann gelernt, aber in dem Beruf jahrelang keine Arbeit gefunden, bis es auch ihn dahin trieb, wohin es im Ruhrgebiet die meisten Männer zog. In den Pütt nämlich. Oder ins Loch, wie meine Mutter sagte. Gedingeschlepper, so nannte man die Hilfskräfte unter Tage, von denen mein Vater später einer war. Der Lohn war gering, sehr gering. Wir lebten glücklicherweise in einem Haus, das sich seit Generationen im Besitz der Familie Peuckmann befand. Hinter dem Haus hatten wir einen Garten, in dem meine Eltern Gemüse anbauten, dazu hielten wir Hühner. Alles war dem Zweck des Überlebens untergeordnet. Mein Vater rauchte, abends trank er gern eine Flasche Bier. Mehr war nicht drin. Selbst seine Mitgliedschaft in der SPD, für die er in einer kleinen Widerstandszelle in der Nazizeit gearbeitet hatte, musste er aufkündigen, weil er sich die Mitgliedsbeiträge nicht leisten konnte. Meine Mutter gönnte sich so gut wie gar nichts. Doch halt, ein Beet im Garten beanspruchte sie für sich. Dort zog sie Hortensien, die sie so liebte, und die auch ich liebe. Manchmal hatte meine Mutter nur noch zwei Mark, um die vierköpfige Familie über das Wochenende zu bringen. Doch Anschreiben lassen beim Lebensmittelhändler Scholz wollte sie nicht. Sie empfand Scham.
Diese Scham, arm zu sein, habe ich einmal in schrecklicher Weise erlebt. Die Tochter einer siebenköpfigen Bergmannsfamilie (deren Sohn heute Bundestagsabgeordneter ist) kaufte ein paar Lebensmittel, aber als sie bezahlen sollte, lief sie rot an und druckste herum. »Ich soll Sie bitten, ich meine, vielleicht könnten Sie …« Die Verkäuferin wusste sofort, was sie wollte, aber sie ließ das Mädchen zappeln, solange, bis wirklich alle im Laden zu ihr herüberschauten. Endlich erklärte die Verkäuferin, dass sie die Waren anschreiben werde. »Einmal noch, dieses eine Mal noch …« Jahrzehnte später, als die junge Frau von damals stolz ihr Enkelkind im Kinderwagen durch die Fußgängerzone schob, gestand sie mir, dass sie sich bis heute schäme. Dass auch die Karriere ihres Sohnes nichts daran geändert hatte. Scham, die nie vergeht.
Ich musste tatsächlich die Unterwäsche meiner Schwester auftragen, gut, dass das keiner sehen konnte. Von einer Schwester meiner Mutter bekam ich aussortierte Pullover, die deren Sohn getragen hatte. Altmodisch, mehrfach gestopft. Was sollte ich tun? Hauptsache ich hatte Kleidung zum Wechseln. Hosen, die nicht mindestens einmal geflickt waren, besaß ich sowieso nicht.
In meinem Zimmer gab es keine Heizung, im Winter blühten die Eisblumen an den Scheiben, das Bett war bitterkalt. Meine Mutter legte einen Ziegelstein in den Backofen, erhitzte ihn, umwickelte ihn mit einem Handtuch und legte ihn zu meinen Füßen. Wenn der Ziegelstein seine Wärme abgegeben hatte, war mir endlich warm.
Mein Schreibtisch während der Schulzeit war ein uralter, ausrangierter Küchentisch mit einer welligen Platte, auf der schwer zu schreiben war. Mehrfach meckerten mich die Lehrer an, weil ich eine so krakelige Handschrift hätte. Mich rechtfertigen konnte ich nicht, sonst hätte auch mich die Scham erfasst, denn ob die Lehrer dafür Verständnis gehabt hätten, dass einer ihrer Schüler keine richtige Schreibunterlage hatte?
Das alles klingt hart, klingt entbehrungsreich, und das war es auch. Aber vieles wurde aufgefangen durch die Solidarität der kleinen Leute untereinander. Wenn etwas fehlte, konnte man es sich beim Nachbarn leihen. Vor ihm brauchte man sich nicht zu schämen. Auch wusste der Nachbar, dass garantiert die Situation kommen würde, in der er selbst in Not geraten und auf Hilfe angewiesen sein würde. Inmitten der materiellen Beschränktheit gab der Zusammenhalt eine Wärme, die viele Defizite wettmachte.
Kultur kam in meinem Kinderalltag nicht vor, aber ich vermisste auch nichts. Niemand in unserer Straße sprach kulturelle Themen an, niemand spielte ein klassisches Instrument, Mozart und Beethoven hatten sich bei uns nie vorgestellt. Ein paar Männer in unserer Siedlung hatten eine Mandoline, ein Arbeiterinstrument, ein paar meiner Freunde spielten Mundharmonika. Schade, dass ich nicht wenigstens das gelernt habe.
Zoobesuche? Das war etwas für Kinder aus reichen Familien, aber nicht für mich. Einmal sind wir alle, meine Oma war dabei, in den Tierpark in Hamm gegangen. Direkt am Eingang, in einem vier mal fünf Meter großen Gitterkäfig, lag ein einsamer Löwe. Er hatte nicht mal eine Deckung, hinter die er sich zurückziehen konnte. Dass das Tierquälerei war, wäre mir damals nicht in den Sinn gekommen. Wichtig war, dass ich einen Löwen gesehen hatte, einen richtigen Löwen, wie ich ihn bisher nur von Fotos kannte. Der Rest des Tierparks war so ärmlich, wie wir es waren. Ein paar Ziegen, Schafe, ein Esel, Hühner. Ach ja, und Papageien, bunte Aras, die mir besonders gefielen.
Eines Tages hielt ein großer Lastwagen auf dem freien Platz vor unserem Haus, darin befand sich tatsächlich ein ausgestopfter Wal. Mein Gott, ein Wal! Endlich die Chance, so ein Tier zu sehen. Aber wer den hinter hohen Planen versteckten Wal anschauen wollte, musste eine Mark an der Kasse entrichten. Eine Mark! Da brauchte ich meine Mutter erst gar nicht zu fragen. Der Lastwagen verschwand drei Tage später, ohne dass ich erfahren hatte, wie ein Wal aussah.
Wie viel ich damals nicht kannte, welche Welten mir verschlossen blieben! Meine längsten Reisen in den ersten zehn Lebensjahren gingen nach Dortmund zum Einkaufen und nach Hamm und Ahlen zu Verwandten. Dann überraschte uns mein Vater mit der Information, dass die Arbeiterwohlfahrt in den großen Ferien auf Norderney ein Zeltlager für Arbeiterkinder veranstalten würde. Der Preis für drei Wochen war äußerst günstig. Meine Eltern berieten sich und beschlossen, dass ich auch »mal was von der Welt sehen sollte«. Ich hatte noch nie das Meer gesehen, ich konnte mir nicht einmal vorstellen, wie es aussah. Während der Überfahrt stand ich an Deck des Schiffes, atmete die salzige Seeluft ein und starrte auf die grüne See. Wenn du jetzt noch die Berge siehst, musste ich denken, dann hast du die ganze Welt kennengelernt. Ich wollte mehr lernen, mehr wissen. Wahllos habe ich alles gelesen, was irgendwie erreichbar war. Woher kam dieser Bildungshunger, woher mein Interesse an Büchern? In einem Umfeld, das bildungsferner kaum sein konnte.
Meine Mutter, die aus einer Bauernfamilie stammte, hatte als Lehrmädchen bei einem Gemüsehändler in Hamm gearbeitet. Dort, so erzählte sie immer wieder, versammelte sich abends die Familie, um Geschichten vorzulesen. Meine Mutter, die dabei strickte, hat diese Abende genossen. Spannende, romantische, anrührende Geschichten. Wie wenig Anregung doch ausreichen kann, um Interesse an Bildung zu wecken. Damals hat meine Mutter beschlossen, ihren künftigen Kindern Zugang zu Bildung zu verschaffen, damit sie rauszukommen aus den engen, ärmlichen Verhältnissen. Meine ältere Schwester konnten meine Eltern noch nicht zu einer weiterführenden Schule schicken, weil solche Schulen damals Geld kosteten, aber bis bei mir der Wechsel anstand, war das Schulgeld abgeschafft. Glück gehabt. Wer weiß, wie mein Leben sonst verlaufen wäre. Natürlich durfte ich nicht zum Gymnasium gehen. Dorthin, befand der Rektor meiner Schule, sollten nur Kinder, deren Eltern Englisch sprechen oder wenigstens Englisch-Nachhilfestunden bezahlen konnten. Also besuchte ich die Realschule, womit meine Mutter zufrieden war. »Ein kleiner städtischer Beamter«, sagte sie zu Verwandten und Freunden, »das kann er doch werden.« Doch das wollte ich nicht. Auf keinen Fall. Woher kam bei dem kleinen Zwölfjährigen der Wunsch, mehr zu wollen, Abitur zu machen, vielleicht sogar zu studieren? Ich weiß es nicht und staune über mich selbst. Nach vier Jahren wechselte ich zu einem Aufbaugymnasium. Meine Eltern trugen alles mit, sie waren stolz auf mich. Ich bestand das Abitur und meine Eltern hörten zu, wie ich in der Aula die Abschlussrede meines Abitur-Jahrgangs hielt. Meine Mutter zitterte und machte sich auf ihrem Stuhl ganz klein. Danach die Erleichterung. Ich hatte keinen Fehler gemacht. Ich freute mich mehr für meine Mutter als für mich.
Die nächste Hürde war das Studium. Mein Vater war inzwischen Rentner. 598 Mark Rente bekamen wir. Kann man von knapp 600 Mark einen Sohn studieren lassen? Meine Mutter schaffte es. Doch ich weiß nicht wie. Wie teilte sie das Geld ein? Ein gutes Jahr nach Studienbeginn wurde mir dank veränderter Berechnungsgrundlagen endlich ein Stipendium nach dem damals existierenden Honnefer Modell gewährt. Kurz darauf bekam ich das erste Geld und weil rückwirkend für drei Monate gezahlt wurde, erhielt ich bei der Sparkassenfiliale auf dem Unigelände einen 1000-Markschein. Ungläubig starrte ich darauf. Ich hatte nicht gewusst, dass es solche Scheine gab.
Von einem Moment zum anderen war ich nicht mehr arm. Aber wie arm ist unsere Familie wirklich gewesen? Ich weiß doch, Armut versteckt sich. Was haben meine Eltern vor mir verborgen, um mir eine glückliche Kindheit zu ermöglichen? Ich bin sicher, dass ich nicht alles weiß und ihnen deshalb umso dankbarer.
Ab und zu gehe ich zum Friedhof und erzähle meinen Eltern von meinem Leben, von meiner Familie. Ich weiß, ich stehe auf ihren Schultern. Meine Erfolge und auch die meiner Söhne sind meinen Eltern zu verdanken. Als ich kürzlich zum Friedhof kam, um ihnen zu sagen, dass mein jüngster Sohn, ihr Enkel, seine Doktorarbeit mit toller Note abgeschlossen hat, sah ich schon von Ferne, dass der Rhododendron auf dem Grab prachtvoll in lila Blüte stand. Es kam mir so vor, als hätten sich meine Eltern für die gute Nachricht geschmückt.