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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Scham, die für immer bleibt

Wer weiß, was Armut bedeu­tet? Weiß ich es, der ich in ärm­li­chen Ver­hält­nis­sen groß gewor­den bin? Ich weiß vor allem eines: Armut ver­steckt sich. Sie ist da, aber man sieht sie nicht. Deut­lich mehr als jeder Zehn­te lebt unter­halb der Armuts­gren­ze. Bei jedem Besuch in der Stadt müss­ten mir also gleich meh­re­re Arme ent­ge­gen­kom­men, aber ich kann kei­nen zwei­fels­frei erken­nen. Armut, das weiß ich aus eige­ner Erfah­rung, will nicht erkannt wer­den. Sie tut im Gegen­teil alles, um nicht aufzufallen.

Mein Vater war Berg­mann, aber er war kör­per­lich zu schwach, um dau­er­haft dort zu arbei­ten, wo im Berg­werk wirk­lich Geld ver­dient wur­de. Als Hau­er direkt vor Koh­le näm­lich. Sie­ben Jah­re hat er die­se schweiß­trei­ben­de Kno­chen­ar­beit durch­ge­hal­ten, dann ging es nicht mehr.

Ursprüng­lich hat­te er Kauf­mann gelernt, aber in dem Beruf jah­re­lang kei­ne Arbeit gefun­den, bis es auch ihn dahin trieb, wohin es im Ruhr­ge­biet die mei­sten Män­ner zog. In den Pütt näm­lich. Oder ins Loch, wie mei­ne Mut­ter sag­te. Gedin­ge­schlep­per, so nann­te man die Hilfs­kräf­te unter Tage, von denen mein Vater spä­ter einer war. Der Lohn war gering, sehr gering. Wir leb­ten glück­li­cher­wei­se in einem Haus, das sich seit Gene­ra­tio­nen im Besitz der Fami­lie Peuck­mann befand. Hin­ter dem Haus hat­ten wir einen Gar­ten, in dem mei­ne Eltern Gemü­se anbau­ten, dazu hiel­ten wir Hüh­ner. Alles war dem Zweck des Über­le­bens unter­ge­ord­net. Mein Vater rauch­te, abends trank er gern eine Fla­sche Bier. Mehr war nicht drin. Selbst sei­ne Mit­glied­schaft in der SPD, für die er in einer klei­nen Wider­stands­zel­le in der Nazi­zeit gear­bei­tet hat­te, muss­te er auf­kün­di­gen, weil er sich die Mit­glieds­bei­trä­ge nicht lei­sten konn­te. Mei­ne Mut­ter gönn­te sich so gut wie gar nichts. Doch halt, ein Beet im Gar­ten bean­spruch­te sie für sich. Dort zog sie Hor­ten­si­en, die sie so lieb­te, und die auch ich lie­be. Manch­mal hat­te mei­ne Mut­ter nur noch zwei Mark, um die vier­köp­fi­ge Fami­lie über das Wochen­en­de zu brin­gen. Doch Anschrei­ben las­sen beim Lebens­mit­tel­händ­ler Scholz woll­te sie nicht. Sie emp­fand Scham.

Die­se Scham, arm zu sein, habe ich ein­mal in schreck­li­cher Wei­se erlebt. Die Toch­ter einer sie­ben­köp­fi­gen Berg­manns­fa­mi­lie (deren Sohn heu­te Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter ist) kauf­te ein paar Lebens­mit­tel, aber als sie bezah­len soll­te, lief sie rot an und druck­ste her­um. »Ich soll Sie bit­ten, ich mei­ne, viel­leicht könn­ten Sie …« Die Ver­käu­fe­rin wuss­te sofort, was sie woll­te, aber sie ließ das Mäd­chen zap­peln, solan­ge, bis wirk­lich alle im Laden zu ihr her­über­schau­ten. End­lich erklär­te die Ver­käu­fe­rin, dass sie die Waren anschrei­ben wer­de. »Ein­mal noch, die­ses eine Mal noch …« Jahr­zehn­te spä­ter, als die jun­ge Frau von damals stolz ihr Enkel­kind im Kin­der­wa­gen durch die Fuß­gän­ger­zo­ne schob, gestand sie mir, dass sie sich bis heu­te schä­me. Dass auch die Kar­rie­re ihres Soh­nes nichts dar­an geän­dert hat­te. Scham, die nie vergeht.

Ich muss­te tat­säch­lich die Unter­wä­sche mei­ner Schwe­ster auf­tra­gen, gut, dass das kei­ner sehen konn­te. Von einer Schwe­ster mei­ner Mut­ter bekam ich aus­sor­tier­te Pull­over, die deren Sohn getra­gen hat­te. Alt­mo­disch, mehr­fach gestopft. Was soll­te ich tun? Haupt­sa­che ich hat­te Klei­dung zum Wech­seln. Hosen, die nicht min­de­stens ein­mal geflickt waren, besaß ich sowie­so nicht.

In mei­nem Zim­mer gab es kei­ne Hei­zung, im Win­ter blüh­ten die Eis­blu­men an den Schei­ben, das Bett war bit­ter­kalt. Mei­ne Mut­ter leg­te einen Zie­gel­stein in den Back­ofen, erhitz­te ihn, umwickel­te ihn mit einem Hand­tuch und leg­te ihn zu mei­nen Füßen. Wenn der Zie­gel­stein sei­ne Wär­me abge­ge­ben hat­te, war mir end­lich warm.

Mein Schreib­tisch wäh­rend der Schul­zeit war ein uralter, aus­ran­gier­ter Küchen­tisch mit einer wel­li­gen Plat­te, auf der schwer zu schrei­ben war. Mehr­fach mecker­ten mich die Leh­rer an, weil ich eine so kra­ke­li­ge Hand­schrift hät­te. Mich recht­fer­ti­gen konn­te ich nicht, sonst hät­te auch mich die Scham erfasst, denn ob die Leh­rer dafür Ver­ständ­nis gehabt hät­ten, dass einer ihrer Schü­ler kei­ne rich­ti­ge Schreib­un­ter­la­ge hatte?

Das alles klingt hart, klingt ent­beh­rungs­reich, und das war es auch. Aber vie­les wur­de auf­ge­fan­gen durch die Soli­da­ri­tät der klei­nen Leu­te unter­ein­an­der. Wenn etwas fehl­te, konn­te man es sich beim Nach­barn lei­hen. Vor ihm brauch­te man sich nicht zu schä­men. Auch wuss­te der Nach­bar, dass garan­tiert die Situa­ti­on kom­men wür­de, in der er selbst in Not gera­ten und auf Hil­fe ange­wie­sen sein wür­de. Inmit­ten der mate­ri­el­len Beschränkt­heit gab der Zusam­men­halt eine Wär­me, die vie­le Defi­zi­te wettmachte.

Kul­tur kam in mei­nem Kin­der­all­tag nicht vor, aber ich ver­miss­te auch nichts. Nie­mand in unse­rer Stra­ße sprach kul­tu­rel­le The­men an, nie­mand spiel­te ein klas­si­sches Instru­ment, Mozart und Beet­ho­ven hat­ten sich bei uns nie vor­ge­stellt. Ein paar Män­ner in unse­rer Sied­lung hat­ten eine Man­do­li­ne, ein Arbei­ter­instru­ment, ein paar mei­ner Freun­de spiel­ten Mund­har­mo­ni­ka. Scha­de, dass ich nicht wenig­stens das gelernt habe.

Zoo­be­su­che? Das war etwas für Kin­der aus rei­chen Fami­li­en, aber nicht für mich. Ein­mal sind wir alle, mei­ne Oma war dabei, in den Tier­park in Hamm gegan­gen. Direkt am Ein­gang, in einem vier mal fünf Meter gro­ßen Git­ter­kä­fig, lag ein ein­sa­mer Löwe. Er hat­te nicht mal eine Deckung, hin­ter die er sich zurück­zie­hen konn­te. Dass das Tier­quä­le­rei war, wäre mir damals nicht in den Sinn gekom­men. Wich­tig war, dass ich einen Löwen gese­hen hat­te, einen rich­ti­gen Löwen, wie ich ihn bis­her nur von Fotos kann­te. Der Rest des Tier­parks war so ärm­lich, wie wir es waren. Ein paar Zie­gen, Scha­fe, ein Esel, Hüh­ner. Ach ja, und Papa­gei­en, bun­te Aras, die mir beson­ders gefielen.

Eines Tages hielt ein gro­ßer Last­wa­gen auf dem frei­en Platz vor unse­rem Haus, dar­in befand sich tat­säch­lich ein aus­ge­stopf­ter Wal. Mein Gott, ein Wal! End­lich die Chan­ce, so ein Tier zu sehen. Aber wer den hin­ter hohen Pla­nen ver­steck­ten Wal anschau­en woll­te, muss­te eine Mark an der Kas­se ent­rich­ten. Eine Mark! Da brauch­te ich mei­ne Mut­ter erst gar nicht zu fra­gen. Der Last­wa­gen ver­schwand drei Tage spä­ter, ohne dass ich erfah­ren hat­te, wie ein Wal aussah.

Wie viel ich damals nicht kann­te, wel­che Wel­ten mir ver­schlos­sen blie­ben! Mei­ne läng­sten Rei­sen in den ersten zehn Lebens­jah­ren gin­gen nach Dort­mund zum Ein­kau­fen und nach Hamm und Ahlen zu Ver­wand­ten. Dann über­rasch­te uns mein Vater mit der Infor­ma­ti­on, dass die Arbei­ter­wohl­fahrt in den gro­ßen Feri­en auf Nor­der­ney ein Zelt­la­ger für Arbei­ter­kin­der ver­an­stal­ten wür­de. Der Preis für drei Wochen war äußerst gün­stig. Mei­ne Eltern berie­ten sich und beschlos­sen, dass ich auch »mal was von der Welt sehen soll­te«. Ich hat­te noch nie das Meer gese­hen, ich konn­te mir nicht ein­mal vor­stel­len, wie es aus­sah. Wäh­rend der Über­fahrt stand ich an Deck des Schif­fes, atme­te die sal­zi­ge See­luft ein und starr­te auf die grü­ne See. Wenn du jetzt noch die Ber­ge siehst, muss­te ich den­ken, dann hast du die gan­ze Welt ken­nen­ge­lernt. Ich woll­te mehr ler­nen, mehr wis­sen. Wahl­los habe ich alles gele­sen, was irgend­wie erreich­bar war. Woher kam die­ser Bil­dungs­hun­ger, woher mein Inter­es­se an Büchern? In einem Umfeld, das bil­dungs­fer­ner kaum sein konnte.

Mei­ne Mut­ter, die aus einer Bau­ern­fa­mi­lie stamm­te, hat­te als Lehr­mäd­chen bei einem Gemü­se­händ­ler in Hamm gear­bei­tet. Dort, so erzähl­te sie immer wie­der, ver­sam­mel­te sich abends die Fami­lie, um Geschich­ten vor­zu­le­sen. Mei­ne Mut­ter, die dabei strick­te, hat die­se Aben­de genos­sen. Span­nen­de, roman­ti­sche, anrüh­ren­de Geschich­ten. Wie wenig Anre­gung doch aus­rei­chen kann, um Inter­es­se an Bil­dung zu wecken. Damals hat mei­ne Mut­ter beschlos­sen, ihren künf­ti­gen Kin­dern Zugang zu Bil­dung zu ver­schaf­fen, damit sie raus­zu­kom­men aus den engen, ärm­li­chen Ver­hält­nis­sen. Mei­ne älte­re Schwe­ster konn­ten mei­ne Eltern noch nicht zu einer wei­ter­füh­ren­den Schu­le schicken, weil sol­che Schu­len damals Geld koste­ten, aber bis bei mir der Wech­sel anstand, war das Schul­geld abge­schafft. Glück gehabt. Wer weiß, wie mein Leben sonst ver­lau­fen wäre. Natür­lich durf­te ich nicht zum Gym­na­si­um gehen. Dort­hin, befand der Rek­tor mei­ner Schu­le, soll­ten nur Kin­der, deren Eltern Eng­lisch spre­chen oder wenig­stens Eng­lisch-Nach­hil­fe­stun­den bezah­len konn­ten. Also besuch­te ich die Real­schu­le, womit mei­ne Mut­ter zufrie­den war. »Ein klei­ner städ­ti­scher Beam­ter«, sag­te sie zu Ver­wand­ten und Freun­den, »das kann er doch wer­den.« Doch das woll­te ich nicht. Auf kei­nen Fall. Woher kam bei dem klei­nen Zwölf­jäh­ri­gen der Wunsch, mehr zu wol­len, Abitur zu machen, viel­leicht sogar zu stu­die­ren? Ich weiß es nicht und stau­ne über mich selbst. Nach vier Jah­ren wech­sel­te ich zu einem Auf­bau­gym­na­si­um. Mei­ne Eltern tru­gen alles mit, sie waren stolz auf mich. Ich bestand das Abitur und mei­ne Eltern hör­ten zu, wie ich in der Aula die Abschluss­re­de mei­nes Abitur-Jahr­gangs hielt. Mei­ne Mut­ter zit­ter­te und mach­te sich auf ihrem Stuhl ganz klein. Danach die Erleich­te­rung. Ich hat­te kei­nen Feh­ler gemacht. Ich freu­te mich mehr für mei­ne Mut­ter als für mich.

Die näch­ste Hür­de war das Stu­di­um. Mein Vater war inzwi­schen Rent­ner. 598 Mark Ren­te beka­men wir. Kann man von knapp 600 Mark einen Sohn stu­die­ren las­sen? Mei­ne Mut­ter schaff­te es. Doch ich weiß nicht wie. Wie teil­te sie das Geld ein? Ein gutes Jahr nach Stu­di­en­be­ginn wur­de mir dank ver­än­der­ter Berech­nungs­grund­la­gen end­lich ein Sti­pen­di­um nach dem damals exi­stie­ren­den Hon­ne­fer Modell gewährt. Kurz dar­auf bekam ich das erste Geld und weil rück­wir­kend für drei Mona­te gezahlt wur­de, erhielt ich bei der Spar­kas­sen­fi­lia­le auf dem Unige­län­de einen 1000-Mark­schein. Ungläu­big starr­te ich dar­auf. Ich hat­te nicht gewusst, dass es sol­che Schei­ne gab.

Von einem Moment zum ande­ren war ich nicht mehr arm. Aber wie arm ist unse­re Fami­lie wirk­lich gewe­sen? Ich weiß doch, Armut ver­steckt sich. Was haben mei­ne Eltern vor mir ver­bor­gen, um mir eine glück­li­che Kind­heit zu ermög­li­chen? Ich bin sicher, dass ich nicht alles weiß und ihnen des­halb umso dankbarer.

Ab und zu gehe ich zum Fried­hof und erzäh­le mei­nen Eltern von mei­nem Leben, von mei­ner Fami­lie. Ich weiß, ich ste­he auf ihren Schul­tern. Mei­ne Erfol­ge und auch die mei­ner Söh­ne sind mei­nen Eltern zu ver­dan­ken. Als ich kürz­lich zum Fried­hof kam, um ihnen zu sagen, dass mein jüng­ster Sohn, ihr Enkel, sei­ne Dok­tor­ar­beit mit tol­ler Note abge­schlos­sen hat, sah ich schon von Fer­ne, dass der Rho­do­den­dron auf dem Grab pracht­voll in lila Blü­te stand. Es kam mir so vor, als hät­ten sich mei­ne Eltern für die gute Nach­richt geschmückt.