Salto mortale
Als Einzelhandelsgeschäfte schließen mussten, Hotels keine Gäste mehr aufnehmen durften, Besuche in Alters- und Pflegeheimen auch von den nächsten Angehörigen nicht mehr durchgeführt werden konnten, die Schulen schlossen, ja, sogar Spielplätze abgesperrt wurden, da ging es – so hieß es – um den Schutz des Lebens und die körperliche Unversehrtheit. Zunehmend schien es so, und die Sterbestatistiken zeigten es, dass vor allem die kleine Gruppe der über Siebzigjährigen geschützt werden musste. Für die Jüngeren, vor allem die Kinder und Jugendlichen, bestand so gut wie überhaupt keine Gefahr. Die meisten der »an« oder irgendwie »mit« Covid-19 Gestorbenen hatten die durchschnittliche Lebenserwartung erreicht oder sie sogar überschritten.
Aber die politische Klasse, unterstützt durch ihre Leitmedien, schien wild entschlossen zu sein, eine Art Experiment durchzuführen. Wie weit kann man die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger einschränken, die Freiheitsräume beschneiden, ohne dazu hinreichende Veranlassung zu haben? Oder anders gefragt: Würde es möglich sein, bei einer Gefahrenlage, deren Ausmaß unsicher und deren Vorhandensein strittig war, gleichwohl ein Regime durchzusetzen, das in seiner Übergriffigkeit nur äußerst begrenzt in den Rahmen des Grundgesetzes passte? Wäre es möglich, mit Hilfe der Medien flächendeckend eine Art Notstand der Demokratie plausibel zu machen und die Bevölkerung hinter sich zu scharen?
Das Experiment gelang. Alles drehte sich nur noch um Infektionen. Hinter der Maske der Zustimmung, die bald jeder demonstrieren musste, etablierte sich so etwas wie dumpfe Unterwerfung, die sich als Menschenfreundlichkeit tarnen durfte. Eine Art gesunde Volksgemeinschaft entstand, auch wenn eine starke Minderheit daran nicht teilnehmen wollte.
Denn gefragt und gezweifelt werden durfte nicht. Könnte es sein, dass der Schaden, den die staatlichen Eingriffe auslösten, größer, vielleicht weit größer als der Nutzen sein würde? Dass jede Abwägung, jede Verhältnismäßigkeit ausgeblendet wurde? Dass nicht selten um der Härte der Maßnahme willen der Willkür anstelle der wissenschaftlichen Klärung der Vorzug gegeben wurde?
Wer so oder ähnlich fragte, fand sich als »Covidiot« im Abseits wieder. Guten Glaubens, in einer demokratischen Streitkultur zu leben, überraschte ihn eine Kultur der Beschimpfungen. Selbst wissenschaftliche Kritiker verwandelten sich unversehens in Antisemiten, Esoteriker oder Aluhutträger. Wer der Impfung misstraute, mutierte zum Tyrannen über die rechtschaffene Mehrheit, die verzweifelt mit dem Virus rang. Wer körperliche Unversehrtheit nicht im Sinne der politischen Klasse verstand, ihr nicht abnahm, dass Gesundheit nun der Generalnenner aller politischen Zielsetzungen war, musste erfahren, dass er nicht mehr dazu zu gehörte. »Demokratie« existierte nur noch insoweit, als sie identisch war mit der Realitätswahrnehmung der politischen Elite.
Wenige Monate später hat sich der Wind vollständig gedreht. Nun stehen nicht mehr Leben und körperliche Unversehrtheit nach Artikel zwei des Deutschen Grundgesetzes im Mittelpunkt staatlichen Handelns, nun werden keine Alten und Kranken mehr geschützt. Leben und Überleben sind zu Werten dritter oder vierter Rangordnung herabgestuft worden. Mussten sich die Menschen während der Pandemie fast jede beliebige Einschränkung gefallen lassen, weil jedes einzelne Sterberisiko als untragbar angesehen wurde, werden nun alle, ob alt oder jung, krank oder gesund gezwungen, das größte aller nur denkbaren Risiken einzugehen: nämlich den Horror eines möglichen Welt- oder Atomkriegs.
Auf den ersten Blick könnte eine solche These absurd erscheinen. Wer von den Politikerinnen und Politkern riskiert Krieg und Zerstörung, gar ein Massensterben in Deutschland? Und welche politische Klasse ist so verrückt, dass sie ihre Wertsetzungen innerhalb weniger Monate radikal auswechselt und plötzlich im Vergleich zu vorher eine totale Kehrwende hinlegt? Und doch ist es so. Schauen wir uns an, was zurzeit geschieht.
Wir befinden uns mitten in einem neuen Experiment, einem noch einschneidenderen als dem vorherigen. Diesmal lautet die Frage folgendermaßen: Was wird passieren, wenn wir uns mit offenem Feuer einem Pulverfass nähern? Wird es hochgehen, explodieren, wird unsere Politik den europäischen Krieg, den Weltkrieg oder gar den Atomkrieg auslösen? Zugegeben: Wir wissen es nicht, aber wir experimentieren, wir testen es aus. Artilleriewaffen, Schützenpanzer, Kampfpanzer, Ausbildung von ukrainischem Militär – bald auch Kampfjets, Langstreckenraketen, Kriegsschiffe, U-Boote, vielleicht schließlich Streumunition und Phosphor-Brandwaffen –, Russland warnt und warnt. Irgendwo gibt es eine rote Linie, aber wo?
Und schon wieder darf nicht gefragt und gezweifelt werden. Die quasi offizielle Devise lautet: Niemals wird Russland zu Atomwaffen greifen. Selbstverständlich besteht hier keine Gefahr. Jetzt ist Mut angesagt, denn Putin versteht nur die Sprache der Gewalt. Wer jetzt an die eigene Haut denkt oder an die seiner Lieben, übersieht, dass Russland allein verantwortlich ist für diesen Krieg, egal, was daraus resultiert. Ein neuer Heroismus wird verkündet. Ist die andere Seite im Unrecht, sind wir im Recht. Und sind wir im Recht, dann sind Gedanken an das eigene Überleben schäbig. Alles andere ist Angstmacherei – bald wird es heißen: Defätismus.
Eine gemeinsame Klammer verbindet den Salto Mortale, der im Übergang von der Coronaphase zum neuen Bellizismus stattgefunden hat. Es ist die Rolle der Massenmedien. Denn das erste Experiment hat ein Ergebnis für das zweite eingefahren, das für die politische Klasse unschätzbar ist. Es lautet: Was auch immer die politische Klasse durchsetzen möchte, eine Weltsicht, ein Projekt, eine Wertsetzung – es braucht nicht mehr pluralistisch verhandelt zu werden, garantiert durchführbar ist es mit Hilfe der Medien. Was Hans Magnus Enzensberger einst »Bewusstseinsindustrie« nannte, eine Industrie, die Bewusstsein fabriziert, um es anschließend für sich nutzen zu können, diese Industrie ist höchst effektiv, man kann sich darauf verlassen. Wirken zumindest die großen Medien mit, wird Demokratie identisch mit den Vorstellungen der oberen Zehntausend. Ohne Probleme können diese morgen das Gegenteil dessen auf die Agenda setzen, was gestern noch alternativlos war.
Bleibt die Frage, in welcher Weise zurzeit die Verlautbarungsorgane der Tonangebenden, von der Bundespressekonferenz bis zu den Tageszeitungen, vorgehen, um Zustimmung zu produzieren. Ein simples Rezept zeigt sich hier: Der Tenor der Botschaften wird einfach umgedreht, ins Gegenteil gewendet, beibehalten wird der Moralismus. Wer zu den Guten gehören, sich an die Brust klopfen will, folge diesem Rezept: Gestern war schwarz die Wahrheit, heute ist es weiß, gestern hieß es, Gefahren aufplustern, jetzt heißt es, Gefahren ausblenden. Damals tönte es »Vorsicht, Vorsicht«, jetzt ist Vorsicht etwas für schwache Nerven. Vordem drohte flächendeckend der unsichtbare Tod, jetzt kann uns nichts passieren, auch wenn in der Ukraine die Fetzen fliegen.
Ähnlich gegensätzlich auch die Feindbilder: Vormals galten Leugner und Verharmloser als politisch gefährlich, heute sind Leugner und Verharmloser moralisch integre Saubermänner. Damals war Angst und Angstmacherei angesagt, jetzt ist Furchtlosigkeit eine hehre Tugend. Denn wer würde seinen Freund im Stich lassen, wenn ihm ein Schurke an die Gurgel geht? Damit hat sich die Rollenverteilung zwischen damals und heute radikal umgedreht. Fast könnte man davon reden, dass aus den Mitgliedern der politischen Klasse – in Analogie zu den »Covidioten« – »Kriegsidioten« geworden sind, die ihre Rolle so überzeugend spielen, als trügen sie einen Aluhut.
Ohne Aluhut und schlicht unter Anwendung von Folgerichtigkeit zeigt sich dagegen eine einfache Logik. Sie enthüllt, in welcher Grenzsituation wir uns befinden. Es geht nicht um eine Infektion, die Alte und Kranke gefährdet, jetzt geht es wirklich ums Ganze. Fruchtlos sind Debatten, ob ein atomarer Schlagabtausch sofort die gesamte Menschheit auslöschen würde oder »nur« Teile davon, vielleicht nur Europa. Da noch kein allgemeiner Atomkrieg stattgefunden hat, haben wir keine verbindlichen Daten. Was aber zahlreiche wissenschaftliche Studien für wahrscheinlich halten, ist schrecklich genug. Auch die neuesten taktischen Kernwaffen machen keinen Unterschied zwischen Kombattanten und Zivilisten. Wird nach dem Übertreten der nuklearen Schwelle die Eskalation nicht sofort gestoppt, dürfte die Zahl der unmittelbaren Opfer in die Millionen gehen.
Vor allem die klimatischen Auswirkungen wären irreparabel. Durch die Aufwirbelung von Staub und Ruß könnte es zu einem monatelangen »nuklearen Winter« kommen, der weltweite Hungersnöte im Gefolge hätte. Milliarden Menschen wären betroffen, und die meisten hatten mit dem Ukrainekonflikt nichts zu tun. Selten denken wir daran, dass jeder Atomkrieg zugleich ein Massenmord an Unbeteiligten ist. In weit entfernten Weltgegenden müssten sie ebenso sterben wie in der Nähe des Kriegsschauplatzes, sofort oder im Zeitverlauf danach.
Den Leugnern der Gefahr sollte auch dieses gesagt werden: Sowohl Russland als auch die USA und damit die Nato betrachten Atomwaffen als ziemlich normales Kriegsgerät. Bis ins Detail ausgearbeitet sind führbare Nuklearkriege Bestandteil militärischer Planungen in Ost und West. Ob als atomare Artillerie auf dem Schlachtfeld oder als Hyperschallraketen für den interkontinentalen Einsatz – ihre Nutzung hat einen festen Platz im Konzept zeitgemäßer Kriegsführung. Viele beruhigen sich damit, Kernwaffen seien ausschließlich zur Abschreckung da. Das ist ein Ammenmärchen von gestern. Weshalb soll der Einsatz von Nuklearwaffen im Ukrainekrieg völlig ausgeschlossen sein?
Eigentlich sollte es auch der politischen Klasse und ihren medialen Unterstützern nicht schwerfallen, jene Logik zu begreifen, die zur Abwendung eines möglichen Atomkriegs allein greift, denn im Hinblick auf diese Katastrophe sitzen wir alle im gleichen Boot.
Daher sollte ein einfacher Grundsatz angewendet werden. Er lautet so: Droht der Menschheit ein Übel, das jedes vorstellbare Maß übersteigt, wäre sein Eintreten also eine Art weltweite Superkatastrophe, so ist es moralische Pflicht, alles zu tun, um dieses Übel zu verhindern. Die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit seines Eintretens spielt dabei keine Rolle. Um die Lebensgrundlage der Menschheit, gar deren Existenz darf nicht gepokert werden. Absolut verboten ist es jedenfalls zu verharmlosen, wegzuschauen oder Warner als Angsthasen zu diffamieren.
Fraglich ist es, ob die politische Klasse, ob ihre Medien diese einfache Logik verstehen werden. Alles hängt davon ab, dass eine kritische Öffentlichkeit entsteht, die den politischen Entscheidern deutlich mitteilt: Wir wollen leben, bitte handelt entsprechend!