Unser Schiff hieß »Wittstock«. Das Minen-Such- und -Räumschiff (MSR) fuhr unter der Flagge der Volksmarine, ich war Steuermann der »Wittstock« und gelegentlich Teil einer Delegation, die die Patenstadt besuchte. Wir fuhren gern in die Kreisstadt im Norden des Bezirkes Potsdam. Auch wegen der vielen hübschen Mädchen im Obertrikotagenbetrieb »Ernst Lück« (OTB), von denen wir stets freundlich willkommen geheißen wurden. (Ein Bild dieser vielen selbstbewussten jungen Frauen kann man sich in Volker Koepps Dokumentarfilmen »Mädchen in Wittstock« machen, die er damals über den Zeitraum von zwanzig Jahren zu drehen begann.) Der volkseigene Betrieb mit Kinderkrippe und -garten, Lehrlingswohnheim, Betriebsambulanz, Schwimmhalle und Sportplätzen et cetera beschäftigte in seiner besten Zeit fast dreitausend Menschen, dabei lebten in Wittstock keine fünfzehntausend. Mit einem betriebseigenen Fuhrbetrieb wurden die im Umkreis von hundert Kilometern lebenden Werktätigen zur Schicht geholt und wieder nach Hause gefahren. Der OTB war der größte und gewiss auch modernste Betrieb im Kreis und dennoch der mit der längsten Tradition: Tuchmacher gab es in Wittstock seit 1325.
Vom VEB gibt es nur noch die Geschichte. Die Treuhand verscherbelte ihn 1990 an einen »Investor«, der machte zwei Jahre später dicht. So erging es auch dem Möbelkombinat, das in der ehemaligen Wegner’schen Tuchfabrik produzierte. Auch dort hatte sich der Investor, gleichfalls ein windiger Wessi, vom Acker gemacht hat, nachdem die Fördermittel aufgezehrt waren.
Die sechsgeschossige Ruine steht unübersehbar jenseits der Dosse. Während der Landesgartenschau hat man auf dem Werksgelände einen temporären Parkplatz eingerichtet. Und auf einer Tafel erklärt: »Das zuletzt in der DDR als Möbelfabrik genutzte Gebäude steht seit über zwei Jahrzehnten leer. Als markantes Wahrzeichen der einstigen Tuchmacherstadt ist es ein Denkmal des Landes Brandenburg. Bis zum Jahr 2025 soll es renoviert und zu einem Bildungszentrum ausgebaut werden.«
Von April bis Oktober diesen Jahres lädt die Landesgartenschau unter der Zeile »Rundum schöne Aussichten« ein, und die Aussicht wird von eben jenem traurigen Anblick getrübt. Die Plastik mit Riesenlibellen davor – sie muten wie Heuschrecken an – welche Symbolik. Am Ende verstehen sie es, möchte man mit Hacks ausrufen …
Trotzdem: Ein Besuch der Brandenburger Landesgartenschau lohnt. Zwischen der zweieinhalb Kilometer langen Stadtmauer und den Bächen Dosse und Glinze legten die Planer in bewusster Erinnerung an die Vergangenheit ein farbiges Tuch aus blühenden Blumen und Sträuchern. Dazwischen oder darauf lässt sich angenehm flanieren und im Amtshof, am Fuße des imposanten Turms der alten Bischofsburg, Unterhaltung von der Bühne oder Bratwurst vom Grill genießen. Auch dieses Areal einschließlich Bürgermeisterhaus und Bischofsgarten wurde für einen siebenstelligen Betrag eigens für die Landesgartenschau hergerichtet. Die Schau pflanzt sich fort bis zu St. Marien in der Altstadt, jener Bischofskirche aus Backstein, welche im 13. Jahrhundert zu bauen begonnen wurde und schon immer viel zu groß für die kleine Stadt war. Vor dem herrlichen Schnitzaltar blühten im Mai Dutzende Apfelbäume in Kübeln, und Anwohner hatten Blumenkörbe gespendet, ihre Namen offenbarten die Schilder, die zwischen den Blüten sprossen: Ruth und Käthe, Familie Metz und Ute Zellmer …
Ich war, wie erwähnt, damals gern in Wittstock. Und ich gebe freimütig zu: Die Stadt ist gegenwärtig gewiss ansehenswerter als damals. Aber was gaben wir dafür hin? Oder wie es heute immer heißt: Stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis wirklich?