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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Rotkäppchen und der braune Wolf

Den­ke ich an die neue­ren, längst nicht mehr neu­en Wahl­er­geb­nis­se in Euro­pa, packt mich das Grau­en. Rechts außen braucht es kei­ne Argu­men­te, kein bür­ger­li­ches Män­tel­chen und nicht mal den Min­dest­leu­mund der Geset­zes­treue mehr – die wer­den immer gewählt. Der Gedan­ke beschleicht mich, die bür­ger­li­che Mit­te könn­te schon so schwach sein, dass ich ihr etwas Gutes tun muss. Sie wäh­len zum Bei­spiel. Um das noch Schlim­me­re zu ver­hin­dern. Von der Wei­ma­rer Repu­blik erzählt man sich, sie sei unter­ge­gan­gen, weil die Mit­tel­par­tei­en nicht mehr gewählt wur­den. Dar­an ist ein Haken, den ich in einer Kopro­duk­ti­on mit den Gebrü­dern Grimm zu bezeich­nen hoffe.

Reden wir über Rot­käpp­chen, das lie­be Arbei­ter­mäd­chen, das alle gern­hat­ten und das soli­da­risch han­del­te mit den Schwa­chen. Wie der Name sagt, die Kap­pe zeigt und die Ein­stel­lung beweist: Rot­käpp­chen war links. Als nun das lie­be Rot­käpp­chen erfuhr, dass es sei­ner bür­ger­lich-par­la­men­ta­ri­schen Groß­mutter schlecht gehe, woll­te es nicht säu­men, sie zu besu­chen und ihr zu brin­gen, was die Gesund­heit der betag­ten Frau wie­der­her­stel­len konnte.

Kuchen und Wein, so viel ein pro­le­ta­ri­scher Haus­halt davon her­gibt, pack­te die Mut­ter in Rot­käpp­chens Korb. Aber Rot­käpp­chen wuss­te, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, son­dern auch etwas Schö­nes braucht. Dar­um ging es bewusst vom Weg ab, als es die hüb­schen Blu­men auf der Wie­se sah, brauch­te dafür nicht den Rat­schlag des durch­trie­be­nen Wolfs, son­dern nur Augen im Kopf und, zum Pflücken, Hän­de an den Hand­ge­len­ken, pro­le­ta­ri­sche Grund­aus­stat­tung. Schon hat­te es bei­sam­men, was die bür­ger­li­che Groß­mutter gern­hat­te und von ihren arbei­ten­den Kin­dern und Enkeln auch einforderte.

Dem bösen Wolf ist Rot­käpp­chen auf dem Weg zur Groß­mutter also gar nicht begeg­net, behaup­te ich (auch wenn der Grimm der Gebrü­der mich von hier an ver­folgt). Sie hat zwar von ihm gehört, weiß, dass er ger­ne Men­schen frisst und da angeb­lich nicht wäh­le­risch ist, alte Damen genau­so mag wie Mäd­chen mit rotem Barett. Aber das sind Medi­en­be­rich­te. Man weiß nicht, was dran ist. »War­um sich um sowas einen Kopp machen?« denkt Rot­käpp­chen, geht froh­ge­mut zum Haus der Groß­mutter, einer statt­li­chen Vil­la mit Gar­ten, und klin­gelt. Nach der Gesichts­er­ken­nung durch die Sprech­an­la­ge und einer par­ti­el­len Deak­ti­vie­rung der Alarm­an­la­ge tritt Rot­käpp­chen ein, geht zum Schlaf­zim­mer der Groß­mutter und macht erst­mal ein Kom­pli­ment: »Oma, du siehst aus wie immer.« Dann erkun­digt es sich nach dem Erge­hen. Oh, ganz schlecht sei das, heißt es. Auf Lebens­mit­tel­lie­fe­run­gen und Blu­men­sträu­ße müs­se die Groß­mutter immer län­ger war­ten. Der Ego­is­mus der Pro­du­zie­ren­den neh­me krass zu, andau­ernd strei­ken wür­den die. Neu­er­dings gebe es sogar Lie­fer­ket­ten­ge­set­ze und Pflan­zen­schutz­auf­la­gen, als ob Steu­er­last und Büro­kra­tie für ihres­glei­chen nicht schon lebens­be­droh­lich genug wären. Das Land, »euer Opa«, sei nicht mehr wett­be­werbs­fä­hig, und sie, »euer aller Oma«, las­se sich nicht län­ger von selbst­süch­ti­gen Nach­fol­ge­ge­nera­tio­nen auf der Nase her­um­tan­zen. Ande­re Sai­ten wür­den jetzt auf­ge­zo­gen, schreit die Groß­mutter und ras­selt dazu mit einem Schlüs­sel­bund, das Rot­käpp­chen noch nicht kennt.

»Hier sind Kuchen und Wein«, ver­sucht es Rot­käpp­chen, »und da ein hüb­scher Blumenstrauß«.

»Zu spät«, schnauzt die Groß­mutter. »Komm mal mit, Klei­nes«, sagt die angeb­lich Kran­ke, springt aus dem Bett und zieht Rot­käpp­chen hin­ter sich her durch Haus und Gar­ten zu dem Tor eines weit­läu­fi­gen Zwin­gers, in dem Rot­käpp­chen sogleich den Wolf erblickt. Er ist braun, was Rot­käpp­chen irri­tiert, sieht sonst aber aus wie im Schul­buch. Die Groß­mutter steckt mit der Rech­ten den Schlüs­sel ins Tor­schloss und reckt den Zei­ge­fin­ger der Lin­ken hoch in den Him­mel. »Das habt ihr nun von eurer Frech­heit. Mit die­sem Wolf gemein­sam habe ich in Thü­rin­gen schon einen Mini­ster­prä­si­den­ten gewählt und Grund­er­werbs­steu­ern gesenkt. Den las­se ich jetzt raus und in mein Schlaf­zim­mer. Das heißt, zual­ler­erst lass ich ihn dich wegputzen.«

Rot­käpp­chen streckt ihrer­seits einen Zei­ge­fin­ger in die Höhe. Er zit­tert. Reflex­ar­tig nimmt die Groß­mutter ihr Enkel­kind dran: »Ja, Rot­käpp­chen?« Das Kind gibt alles, was es in der Schu­le gelernt hat, auch rhe­to­risch: »Groß­mutter, wenn du das machst, frisst der brau­ne Wolf uns beide.«

»Pech, Grün­schna­bel, dass du sowas glaubst«, sagt die Groß­mutter. »Der Wolf da frisst kei­ne Inha­be­rin einer Bank­kar­te, deren PIN er nicht kennt. Uns mag er nicht, aber unser Geld. Und wenn wir ihm zei­gen, wie er dran­kommt, mag er uns irgend­wie doch.« Damit öff­net die Groß­mutter das Zwin­ger­tor. Rot­käpp­chen fragt sich, ob der Wolf es lan­ge neben der Groß­mutter in deren Bett aus­hal­ten wird. Es ist Rot­käpp­chens letz­ter Gedanke.

Moral aus der Histo­rie: Wenn die Mit­te dafür bereit­steht, die extre­me Rech­te an die Macht zu brin­gen, ist die Mit­te kein Schutz, son­dern die aku­te Hauptgefahr.

Moral-PS: Von links mit der Mit­te koalie­ren kann hel­fen – so lan­ge kommt Rechts nicht dran.

Moral-PPS: Die angeb­lich rech­ten 16- bis 24jährigen Deut­schen haben bei der Euro­pa­wahl genau­so viel AFD gewählt wie der Durch­schnitt – aber nur gut halb so viel CDU!