»Bravo! Aber das ist ja meisterhaft!«, jubelt Kurt Tucholsky in der Weltbühne (1928) über eine Publikation des Arztes, Schriftstellers und Sozialisten Carl Credé-Hoerder (1878-1952), der vor 70 Jahren in Celle verstorben ist und in den 1920er und 30er Jahren kein Unbekannter war.
Er wird 1878 in Leipzig als Sohn von Sabine Minka, geb. Credé, und des Sanitätsrats Leopold Hörder geboren. Sie entstammte einer hugenottischen Familie von bedeutenden Medizinern (Gynäkologen). In seiner Autobiographie »Vom Corpsstudenten zum Sozialisten. Der Roman eines Arztes« (1928) schreibt Credé-Hoerder: »Meine mütterlichen Vorfahren waren Hugenotten. Wir können unseren Stammbaum bis 1646 verfolgen, und zwar ganz genau für alle Mitglieder der Familie. Von meiner Großmutter Credé her habe ich einen Schuss nicht ungefährlichen Raubritterblutes in den Adern. Es finden sich da Bistrams, Rederns, Kleiste und sogar edle Gänse von Putlitz. (…) Von meinem Vater, von dem man bekanntlich des Lebens ernstes Führen erben soll, habe ich nämlich genug Spießbürgerblut mitbekommen, so viel, dass das bisschen blaue mir nicht gefährlich werden kann.«
Carl Credé-Hoerder erlebt eine gutbürgerliche preußische Kindheit und Jugend, promoviert 1907 in Halle und heiratet 1910 Gertrud Neumann, die mit der Heirat vom Judentum zum Christentum konvertiert. 1911 und 1914 werden ihre Töchter geboren. 1917/18 kommt er nach Celle, das er als »netteste Garnison« sogar als »gemütlich« empfindet, eröffnet 1918 eine Praxis und gehört zwischen 1919 und 1924 dem Bürgervorsteherkollegium an. »Meine Stellung war ganz selbstständig«, schreibt er rückblickend, »und befriedigte mich, besonders, weil ich jetzt endlich einmal nahezu unter Friedensbedingungen operieren konnte. (…) Die Einwohner machten einen so biederen Eindruck, das Leben erschien mir so patriarchalisch und angenehm, die Bekanntschaft mit den Honoratioren, unter denen sich viele feingebildete Menschen befanden, schien uns ein glückliches, angeregtes Dasein zu gewährleisten.«
Der Arzt und angehende Autor Credé veröffentlicht 1919 im Berliner Raben-Verlag seine ersten literarische Zeugnisse unter Pseudonym: »Weltzentrale 3115. Tagebuch eines Tausendjährigen« und »Die große Idee. Die Geburt des goldenen Zeitalters«. Diese inzwischen vergessenen Science-Fiction-Romane des Dreißig- bis Vierzigjährigen sind heute antiquarisch sehr selten erhältlich, die Staatsbibliothek in Berlin vermerkt auf Anfrage: »Kriegsverlust«.
Aber der erste Eindruck, den er von Celle hat, täuscht, schon bald stellt der Arzt fest: »Die Einwohner der guten Stadt Celle sind zur Hälfte Arbeiter. Diese gehören aber überall Krankenkassen an. Die bürgerlichen Kreise ließen sich größtenteils damals in Celle an reaktionärer Gesinnung so leicht nicht übertreffen. Das machten sich meine Gegner zunutze: als roter Doktor wurde ich überall in der Stadt ausposaunt und mir dadurch fast jede Möglichkeit, Privatpraxis zu bekommen, abgeschnitten.«
Credé-Hoerder ist Anfangs Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei, wechselt 1926/27 zur SPD und wird schließlich Mitglied des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, einer 1924 gegründeten Organisation zum Schutz der Weimarer Republik. Vorbei ist es mit der Celler Gemütlichkeit. Seine Praxis wird boykottiert, seine bürgerliche Existenz steht vor der Vernichtung. Der Arzt wird denunziert, weil er gegen den § 218 verstoßen haben soll. 1926 wird er in seiner Praxis verhaftet, sitzt ein halbes Jahr in Untersuchungshaft und wird in einem politisch motivierten Prozess wegen verbotener Schwangerschaftsabbrüche zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er elf Monate in Celle und Hannover absitzt.
Rückblickend schreibt er: »Als ich dann endlich frei wurde und erfuhr, wie sogenannte ›gute‹ Freunde meine schuldlose Frau, meine armen Kinder zu behandeln gewagt hatten, wie man sie ostentativ ›geschnitten‹ hatte, da habe ich den letzten Rest von Achtung vor einer Menschenkategorie verloren, die wohl gesellschaftlichen Schliff und geistige Bildung besitzen mag, sich aber an Ruppigkeit der Gesinnung und Feigheit so leicht nicht übertreffen lässt.«
1926, noch im Gerichtsgefängnis, entsteht sein wichtigstes Buch, eine sozialpolitische Kampf- und Aufklärungsschrift, das Manuskript zu »Volk in Not! Das Unheil des Abtreibungsparagraphen § 218«, das mit 16 Illustrationen von Käthe Kollwitz 1927 bei Carl Reissner (Dresden) erscheint und aus bitterer Erfahrung sein Lebensthema anschlägt. Im Vorwort schreibt er: »Diese Schrift ist ein Notschrei von Millionen deutscher Frauen und Männer, sie ist mit Herzblut geschrieben, von einem Arzt, der aus dem glücklichsten Familienleben, aus fleißigster Berufsarbeit jäh herausgerissen wurde, um angeklagt, verurteilt zu werden und ins Gefängnis zu kommen. Beinahe 50 Jahre alt, hatte ich – in Krieg und Frieden – meinen Mitmenschen treu gedient und zahlreiche vor Siechtum und Tod retten können. Ich wurde mit zwei befreundeten Ärzten zugleich verurteilt (…). Wir hatten aus ärztlichen Gründen Schwangerschaften unterbrochen, immer im festen Glauben, dazu berechtigt, ja verpflichtet zu sein. (…) Ich will beweisen, wie überlebt und schädlich der § 218 unseres Strafgesetzbuches ist, wie grausam er unser armes Volk plagt, und wie wir Ärzte heute unseren Beruf in innerem Zwiespalt und steter Gefahr ausüben müssen. (…) Ich will niemanden anklagen, sondern nur dazu beitragen, dass bessere Verhältnisse geschaffen werden.«
Im Gefängnis entwickelt er sich zum sozialkritischen Autor aus unmittelbarer und praktischer Erfahrung. 1928 veröffentlicht er unter dem Pseudonym Carl Phönix zusammen mit Adolf Glücksmann (Pseudonym Adolf Felsart) »Das ABC des Angeklagten«. Sein eigener Fall wird hier in allen Facetten thematisiert. Tucholsky rezensiert den juristischen Ratgeber in der Weltbühne vom 8. Januar 1928: »Es ist ein gut gemeintes Werkchen, einer ›Klatsche‹ nicht unähnlich, wie wir die verbotenen Übersetzungen auf der Schule genannt haben; es ist geduckt geschrieben: es will den Richtern nicht zu nahe treten, den Anwälten auch nicht – es hat, in ziemlich verständiger Form, die Paragrafen der Strafprozessordnung in lesbare Absätzchen aufgelöst und wendet sich mit trautem ›Du‹ an die Objekte dieser Justiz, die auf dem Volkskörper haftet wie ein chronischer Ausschlag. Das ist kein schönes Bild, es entspricht aber.« Am Ende ruft Tucholsky begeistert aus: »Bravo! Aber das ist ja meisterhaft!«
Credé, als man ihm juristisch die medizinische Praxis versagt, tauscht sogleich das Stethoskop gegen Füllfederhalter, Papier und Schreibmaschine aus. Er praktiziert nun als schreibender Arzt, der keine medizinischen, sondern sozialpolitische Rezepte ausstellt. Mit seinen Theaterstücken trifft er den Nerv der Zeit. Er kennt die Personen, die auf der Bühne Gestalt annehmen, schon seit langem aus seiner Arzt- und Lebenspraxis. Menschen aus allen Schichten, aber in erster Linie gequälte Menschen, wie es sie nach dem Ersten Weltkrieg überall gibt. Den Kampf gegen den § 218 bringt er als einer der ersten mit seinem Drama und der zentralen Problemstellung zur Sprache.
Reichsweit bekannt wird er 1929 durch die Inszenierung seines Theaterstückes »§ 218 – Gequälte Menschen« durch Erwin Piscator, der damit in ganz Deutschland gastiert. Am 20. November 1929 erscheint zu der Aufführung in der Piscator-Bühne (Wallner-Theater, Berlin) ein Programmheft mit Beiträgen u. a. von Bertolt Brecht, Albert Einstein und Arnold Zweig.
Nun formiert sich gegen die Aufführungen im rechtskatholischen und nationalsozialistischen Spektrum juristischer und gewalttätiger Widerstand. In Thüringen verbietet der Innenminister Wilhelm Frick (NSDAP) die Aufführungen. Anschließend werden Aufführungen in Essen, Würzburg und Schweinfurt verboten. Dennoch kommt das Stück im Laufe des Jahres mehr als 300-mal auf die Bühne. In der Spielzeit 1930/31 ist Credé in Deutschland der meistgespielte Bühnenautor.
Der Kampf, den Credé-Hoerder gegen das Verbot der Abtreibung seit 1926 führt, wird europaweit bekannt. Das daraus entstehende Tatsachen-Drama mit klarer Tendenz wird von vielen Blättern als »Parteitheater« abqualifiziert. Gewogene Kritiker wie Alfred Kerr schwärmen von einem »herrlichen Theaterabend«, sehen aber gleichzeitig, dass das Zeitstück thematisch zwar notwendig, doch kunstlos ist (Berliner Tageblatt vom 4. April 1930); aber es appelliere erfolgreich und deutschlandweit an das soziale Gewissen.
Das im Gegensatz zum klassischen Theaterbegriff agi(ti)erende politische Theater mit eindeutigen Zeit-, Tendenz- und Kampfstücken, den Themen Justiz, Jugend und insbesondere zum § 218, behandelt allgegenwärtige und existenzielle Fragen. 1929, kurz vor Credés § 218-Drama, wird in Berlin am Lessing-Theater »Cyankali« von Friedrich Wolf uraufgeführt, ebenfalls ein Agitationsstück über den § 218 in der Weimarer Republik zur Zeit der Weltwirtschaftskrise. Der Autor wird ebenfalls verhaftet, aber dafür findet er mit dem Stück Widerhall bis nach New York, Tokio, Moskau und Paris. Das gleiche Thema behandelt auch der Arzt und Schriftsteller Alfred Döblin in seinem im Dezember 1930 uraufgeführten Stück »Die Ehe«, das aber nach sechs Aufführungen in München als »kommunistisches Propagandastück« verboten wird.
Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten werden Credés Theaterstücke nicht mehr aufgeführt. Die kassenärztliche Zulassung wird ihm entzogen, seine Schriften und Bücher verbrannt. Krank und zur Untätigkeit verurteilt können er und seine Frau auf der Insel Rügen untertauchen. Er beschäftigt sich fortan mit der stillen Welt der Briefmarken. 1940 erscheint, unter dem Pseudonym Alexander Hardtmut, seine »Schule der Philatelie: Briefmarken erzählen Weltgeschichte«, während Großdeutschland dabei ist, die ganze Welt zu erobern, die fünf Jahre später als Scherbenhaufen zu besichtigen ist. Auch auf Rügen steht er zwar unter der Kontrolle der Gestapo, aber der dortige Nazi und Amtsvorsteher mit Goldenem Parteiabzeichen ist ein Jugendfreund und plaudert nach einigen Gläsern aus, wann es für Credé in Celle gefährlich werden wird. So entgeht er einer drohenden KZ-Lagerhaft. Sein gesundheitlicher Zustand wird lebensbedrohlich, und er versteckt sich bei seiner Tochter in Hamburg. Später verschwindet er in aller Stille wieder nach Celle in seine Wohnung und verlässt das Haus nicht mehr.
1945 bemüht er sich in Celle um die Strafverfolgung der Täter des Novemberpogroms von 1938 gegen die jüdischen Einwohner der Stadt. Er wendet sich an den von den Briten eingesetzten Oberbürgermeister Walther Hörstmann. Eindringlich bittet er darum, die Stadt möge sich für eine juristische Verfolgung der Verbrechen der Pogromnacht einsetzen. Neben dem Sinnen auf Gerechtigkeit geht es ihm auch darum, dass die Deutschen sich selbst um die Aufklärung der Verbrechen und die Bestrafung der Täter kümmern und dies nicht den Alliierten überlassen sollten. Der Vorgang ist im Einzelnen offenbar nicht vollständig erhalten, aber aufschlussreich genug, denn das Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom Dezember 1945 ermöglichte es den deutschen Gerichten, Verfahren gegen die Täter der Pogromnacht in Gang zu bringen. Durch Credés Bemühungen ist es in Celle zwar zu umfangreichen Ermittlungsverfahren, aber nicht zu einem Prozess gekommen.
Der Arzt und Schriftsteller, der wie kein anderer Autor am Ort »die soziale und politische Wirklichkeit in vergleichbarer Weise« in den Blick genommen und darzustellen versucht hat, stirbt am 27. Dezember 1952, kurz vor seinem 74. Geburtstag in Celle, wo er 35 Jahre gewirkt und gelebt hat. Eine Entschädigung, wie sie ihm nach 1945 zugestanden hätte, wurde ihm nicht gewährt. Das Procedere zog sich über seinen Tod hinaus hin. Der Erbengemeinschaft (Ehefrau und Töchter) wird im Juli 1960, acht Jahre nach dem Tod des Arztes, im Vergleichsverfahren 21.000 DM zugesprochen.
Ausführliche Literaturnachweise in: Oskar Ansull, »Heimat, schöne Fremde. CELLE, Stadt & Land. Eine literarische Sichtung«, Wehrhahn-Verlag, Hannover 2019.