Wenn die »VG Wort« einen »Sondernewsletter« zur KI verschickt, dann nimmt man ihn als »Wahrnehmungsberechtigter« zur Kenntnis – und fühlt sich eigentlich nicht gemeint oder betroffen. Dass dies vielleicht leichtsinnig ist, sagt man sich. Liest man hingegen Christiane Neudeckers Erzählung »Die Welt wartet«, wird es einem mulmig. Denn was dort einer Schriftstellerin widerfährt, ist geeignet, einen Schreibenden zu erschüttern: »Der Deal mit dem Don ist klar: Ich kann so lange bleiben, wie ich will. Aber ich darf erst abreisen, wenn ich ihm den ersten Satz für mein neues Buch überreiche. Der Satz ist verbindlich und darf nicht mehr abgeändert werden.« Ein offenbar leicht zu erfüllendes Verlangen, zumal bei der Gegenleistung des »Don«: Kostenloser Aufenthalt in einer luxuriösen andalusischen Villa, direkt am Meer, ohne zeitliche Begrenzung. Das sind Arbeitsbedingungen wie aus dem Märchenbuch, und sie sind es auch, aus dem der KI nämlich. Nichts in dieser Welt scheint real zu sein, nicht die »Muse Anna« im hübschen Kleid, nicht die Insektenfreiheit des Hauses, die piekfeine Sauberkeit, ohne dass jemand zu putzen scheint. Vielleicht ist noch das in einem seltsamen Kämmerchen stehende altmodische Telefon real. Aber es scheint keine Leitung in die Wirklichkeit zu führen.
Der erste Satz ist für Schreibende bekanntlich eine Crux, und vor allem scheint es nicht leicht zu sein, der glitzernden KI-Welt wieder zu entkommen. Die Protagonistin nimmt sich vor, den Vertrag zu erfüllen, ohne ihn zu erfüllen. Wie, das lese man nach. Aber die Gefahr, dass man sie »abschaltet«, scheint ihr bewusst zu sein.
Diese Erzählung, wie auch die anderen, ist erfüllt vom Geist des romantischen Schauermärchens, wobei auf dem Umschlag natürlich von »gothic novel« gesprochen wird. Aber was wir kennen vom Schattenverkauf, seltsamen Spiegelbildern, Gemälden, die sich in das Leben ihrer Besitzer einmischen – es könnte aus dem Repertoire E.T.A. Hoffmanns, Chamissos oder de la Motte Fouqués stammen. Schönste Romantik im Lichte der KI und der Coronaerfahrungen. Es sind durchaus spannende Geschichten entstanden, die einen erschauern lassen, etwa, wenn das Schicksal der »Totläuferin« erzählt wird – oder das des Schauspielers Adrian, dessen Schönheit in digitalen Abbildungen zur abscheulichen Fratze wird.
Mitunter wird das Grauen etwas dick aufgetragen, was zu sprachlichen Aufblähungen führt. Aber es gibt auch überaus treffende Schilderungen, z. B. in »Wem du traust«, wo eine Idee verfolgt wird, die vom Auch-Musiker E. T. A. Hoffmann stammen könnte: Einem Dirigenten sagen die Instrumente plötzlich etwas. Und ein offenes Ende hält den Leser genau in der Schwebe zwischen Bangen und einer vielleicht doch möglichen Hoffnung. Ein anderer Schluss hingegen ist ärgerlich: »… kopfüber stürzt er, wie Prometheus, dem es die Flügel versengt, abwärts …« Nun, auch Prometheus hatte seinen Ärger mit der göttlichen Obrigkeit, aber die Flügel wurden ihm nicht versengt. Das geschah Ikarus, dem Sohn des Daidalos, er kam beim Fliegen der Sonne zu nahe, so dass das Wachs schmolz, die Federn sich lösten, er abstürzte. Vor Irrtum ist niemand gefeit, aber das Buch ging doch wohl durch ein Lektorat?
Eine Leseempfehlung ist trotzdem auszusprechen, und wer die Werke der Romantik liebt, der wird hier auf seine Kosten kommen: KI; Handys, Computer – sie bewahren uns mitnichten vor dem Einbruch des Unerklärlichen in unser Leben, offenbar ganz im Gegenteil. Zwar wird man nicht mehr gefragt, ob man seinen Schatten verkaufen wolle, denn KI setzt »Ihre Persönlichkeit zusammen. Mit 92,74-prozentiger Sicherheit können wir nun Ihre künftigen Schritte vorhersagen.« Wenn das Chamisso geahnt hätte …
Christiane Neudecker: Die Welt wartet. Unheimliche Geschichten, Luchterhand Literaturverlag 2024, 256 S., 22 €.