Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Romantische KI

Wenn die »VG Wort« einen »Son­der­news­let­ter« zur KI ver­schickt, dann nimmt man ihn als »Wahr­neh­mungs­be­rech­tig­ter« zur Kennt­nis – und fühlt sich eigent­lich nicht gemeint oder betrof­fen. Dass dies viel­leicht leicht­sin­nig ist, sagt man sich. Liest man hin­ge­gen Chri­stia­ne Neu­deckers Erzäh­lung »Die Welt war­tet«, wird es einem mul­mig. Denn was dort einer Schrift­stel­le­rin wider­fährt, ist geeig­net, einen Schrei­ben­den zu erschüt­tern: »Der Deal mit dem Don ist klar: Ich kann so lan­ge blei­ben, wie ich will. Aber ich darf erst abrei­sen, wenn ich ihm den ersten Satz für mein neu­es Buch über­rei­che. Der Satz ist ver­bind­lich und darf nicht mehr abge­än­dert wer­den.« Ein offen­bar leicht zu erfül­len­des Ver­lan­gen, zumal bei der Gegen­lei­stung des »Don«: Kosten­lo­ser Auf­ent­halt in einer luxu­riö­sen anda­lu­si­schen Vil­la, direkt am Meer, ohne zeit­li­che Begren­zung. Das sind Arbeits­be­din­gun­gen wie aus dem Mär­chen­buch, und sie sind es auch, aus dem der KI näm­lich. Nichts in die­ser Welt scheint real zu sein, nicht die »Muse Anna« im hüb­schen Kleid, nicht die Insek­ten­frei­heit des Hau­ses, die piek­fei­ne Sau­ber­keit, ohne dass jemand zu put­zen scheint. Viel­leicht ist noch das in einem selt­sa­men Käm­mer­chen ste­hen­de alt­mo­di­sche Tele­fon real. Aber es scheint kei­ne Lei­tung in die Wirk­lich­keit zu führen.

Der erste Satz ist für Schrei­ben­de bekannt­lich eine Crux, und vor allem scheint es nicht leicht zu sein, der glit­zern­den KI-Welt wie­der zu ent­kom­men. Die Prot­ago­ni­stin nimmt sich vor, den Ver­trag zu erfül­len, ohne ihn zu erfül­len. Wie, das lese man nach. Aber die Gefahr, dass man sie »abschal­tet«, scheint ihr bewusst zu sein.

Die­se Erzäh­lung, wie auch die ande­ren, ist erfüllt vom Geist des roman­ti­schen Schau­er­mär­chens, wobei auf dem Umschlag natür­lich von »gothic novel« gespro­chen wird. Aber was wir ken­nen vom Schat­ten­ver­kauf, selt­sa­men Spie­gel­bil­dern, Gemäl­den, die sich in das Leben ihrer Besit­zer ein­mi­schen – es könn­te aus dem Reper­toire E.T.A. Hoff­manns, Cha­mis­sos oder de la Mot­te Fou­qués stam­men. Schön­ste Roman­tik im Lich­te der KI und der Coro­na­er­fah­run­gen. Es sind durch­aus span­nen­de Geschich­ten ent­stan­den, die einen erschau­ern las­sen, etwa, wenn das Schick­sal der »Tot­läu­fe­rin« erzählt wird – oder das des Schau­spie­lers Adri­an, des­sen Schön­heit in digi­ta­len Abbil­dun­gen zur abscheu­li­chen Frat­ze wird.

Mit­un­ter wird das Grau­en etwas dick auf­ge­tra­gen, was zu sprach­li­chen Auf­blä­hun­gen führt. Aber es gibt auch über­aus tref­fen­de Schil­de­run­gen, z. B. in »Wem du traust«, wo eine Idee ver­folgt wird, die vom Auch-Musi­ker E. T. A. Hoff­mann stam­men könn­te: Einem Diri­gen­ten sagen die Instru­men­te plötz­lich etwas. Und ein offe­nes Ende hält den Leser genau in der Schwe­be zwi­schen Ban­gen und einer viel­leicht doch mög­li­chen Hoff­nung. Ein ande­rer Schluss hin­ge­gen ist ärger­lich: »… kopf­über stürzt er, wie Pro­me­theus, dem es die Flü­gel ver­sengt, abwärts …« Nun, auch Pro­me­theus hat­te sei­nen Ärger mit der gött­li­chen Obrig­keit, aber die Flü­gel wur­den ihm nicht ver­sengt. Das geschah Ika­rus, dem Sohn des Dai­da­los, er kam beim Flie­gen der Son­ne zu nahe, so dass das Wachs schmolz, die Federn sich lösten, er abstürz­te. Vor Irr­tum ist nie­mand gefeit, aber das Buch ging doch wohl durch ein Lektorat?

Eine Lese­emp­feh­lung ist trotz­dem aus­zu­spre­chen, und wer die Wer­ke der Roman­tik liebt, der wird hier auf sei­ne Kosten kom­men: KI; Han­dys, Com­pu­ter – sie bewah­ren uns mit­nich­ten vor dem Ein­bruch des Uner­klär­li­chen in unser Leben, offen­bar ganz im Gegen­teil. Zwar wird man nicht mehr gefragt, ob man sei­nen Schat­ten ver­kau­fen wol­le, denn KI setzt »Ihre Per­sön­lich­keit zusam­men. Mit 92,74-prozentiger Sicher­heit kön­nen wir nun Ihre künf­ti­gen Schrit­te vor­her­sa­gen.« Wenn das Cha­mis­so geahnt hätte …

Chri­stia­ne Neu­decker: Die Welt war­tet. Unheim­li­che Geschich­ten, Luch­ter­hand Lite­ra­tur­ver­lag 2024, 256 S., 22 €.