Oft heißt es, die Revolution von 1848 sei »gescheitert«. Tatsächlich scheinen alle Revolutionen entweder ihre Versprechen nicht eingehalten oder bestimmte Bevölkerungsgruppen von diesen Versprechen ausgeschlossen zu haben.
Die Amerikanische Revolution brachte den Sklaven, ganz zu schweigen von den Ureinwohnern, erst nach einem mörderischen Bürgerkrieg mehr Freiheit. Die amerikanischen Frauen erlangten erst im frühen 20. Jahrhundert die bürgerlichen Rechte. Die französischen Revolutionäre, die sowohl die politische Ungleichheit als auch die Armut des Volkes abschaffen wollten, zahlten einen hohen Preis für die Erzwingung der Gleichheit. Sie sahen sich gezwungen, ein terroristisches Regime zu errichten, dem sie schließlich selbst zum Opfer fielen. Dreimal kehrten die Franzosen zur monarchischen Regierungsform zurück, ehe es ihnen gelang, eine Republik auf Dauer zu etablieren. Die russischen Revolutionäre bauten die neue Gesellschaft der Gleichen auf der physischen Vernichtung der bürgerlichen Klasse auf. Was sie letztlich erreichten, war ein blutiger Bürgerkrieg und ein jahrzehntelanges menschenverachtendes Terrorregime, das Millionen Opfer forderte und dessen tiefgreifende Einschnitte die russische Gesellschaft bis heute lähmen.
Revolutionen verkünden, die Unfreiheit abschaffen zu wollen; sie verheißen, niemand solle mehr ausgebeutet werden; sie versprechen die politische und die soziale Gleichheit. Kurzum, sie stehen für eine Zukunft im Glück. Wenn sie ihren Erfolg erzwingen wollen, enden sie im Terror – oder sie erliegen ihren Gegnern. Insofern stehen Revolutionen auch beispielhaft für beeindruckendes Scheitern. Doch welches Erbe hinterlassen »gescheiterte« Revolutionen wie die von 1848?
Die Geschichte der okzidentalen Revolutionen hat immer wieder bestätigt, wovon schon die antiken Philosophen überzeugt waren: Politische Selbstregierung ist die beste aller Formen des Zusammenlebens. Dieses Wissen haben alle »gescheiterten« Revolutionen wieder und wieder ausgesät.
Die Botschaft der französischen Revolutionäre lautete: Das Volk nimmt sich das natürliche Recht, sich selbst zu regieren. Es ermächtigt sich, das monarchische Regime zu stürzen und eine Republik zum Wohle aller zu errichten. In dieser Revolution wurde die Beseitigung der sozialen Not zum ersten Mal in der Geschichte der Revolutionen gleichrangig neben die Erringung politischer Freiheit gestellt.
Ein weiteres Vorbild, dem sich die »48er« verbunden fühlten, waren die Vereinigten Staaten von Amerika. Was in den USA seit 1765 erkämpft wurde: das selbstbestimmte Zusammenleben von Gleichen mit Gleichen (de facto von weißen männlichen Siedlern unter Ausklammerung sozialer Probleme), garantierte Menschenrechte, freier Handel und Freundschaftsverträge zwischen den 13 ehemaligen Kolonien, die sich 1776 zu den United States of America zusammenschlossen und eine föderale Republik bildeten – das wollten die Männer und Frauen der Revolution von 1848 auch.
Ob begeistert oder ängstlich, in Europa betrachtete man den Fortgang der beiden Revolutionen an allen Höfen, in allen Klassen und Schichten äußerst aufmerksam. Am Ende entfachte die Französische Revolution das, was ihre Anhänger befürchtet und ihre Gegner an den europäischen Höfen vorausgesagt hatten: ein Terrorregime, das geradezu nach einem Staatsstreich rief (den Napoleon dann vollzog). Doch dessen ungeachtet entzündete sich der revolutionäre Ursprungsimpuls, das Streben nach Unabhängigkeit und Freiheit in ganz Europa und wurzelte gerade auch im »gemeinen Volk«. Diese Freiheitslust nahm nationale Form an, je mehr sich Napoleon anschickte, ein gleichsam »französisiertes« Europa zu errichten, das auf der Grundlage der französischen Gesetzgebung – Bürgerliches Gesetzbuch (Code Civil) und Strafgesetzbuch (Code Pénal) – regiert werden sollte.
Als Reaktion darauf zündeten mutige Männer und Frauen überall in Europa die Fackel der nationalen Freiheit. Doch es dauerte 140 Jahre, bis die Ernte eingeholt werden konnte. In Deutschland gelang es erst nach zwei »gescheiterten« Revolutionen (1848, 1918), zwei von Deutschland zu verantwortenden Weltkriegen und einen vom Volk erzwungenen Machtwechsel in der DDR (1989), eine stabile Demokratie zu etablieren.
Emma Herwegh, die Frau des kämpferischen Demokraten Georg Herwegh, bemerkte in ihrem Bericht über Aufschwung und Niedergang der revolutionären Bewegung in Deutschland, die angestrebte Republik müsse unbedingt »kosmopolitisch« sein.⃰ Im damaligen Kontext hieß das, im Verbund mit anderen, ähnlichen Bewegungen zu handeln.
Die »48er« kämpften für die Gründung eines demokratischen deutschen Nationalstaats, doch sie waren keine Nationalisten: »Die Freiheit ist nicht national«, wie der entschiedene 48er-Demokrat Arnold Ruge schrieb. Dies muss besonders festgehalten werden, da es seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa üblich geworden ist, den »Geist« der Nationenbildung mit ethnischem Nationalismus (im Unterschied zum republikanischen Patriotismus) gleichzusetzen.
Nicht alle nationalen Bewegungen strebten damals eine Demokratie an. In Griechenland ging es Anfang des 19. Jahrhunderts nicht um die Errichtung einer Demokratie, wohl aber um die politische Freiheit, um die Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich. In Polen (Posen) stand der Adel gegen die preußische Herrschaft auf, in Ungarn erhob sich der Adel gegen die österreichische Dominanz. Auch dort wollte man die Freiheit der nationalen Unabhängigkeit, wie auch in Norditalien. Nationenbildung und europäische Verbundenheit schlossen dabei einander nicht aus. Die Bewegungen waren umso stärker, je mehr ihre Protagonisten überzeugt waren, Teil einer europäischen Bewegung zu sein.
In Deutschland, Frankreich und der Schweiz gingen die Forderungen der revolutionären Bewegungen am weitesten. Die führenden Demokraten von 1848 stellten sowohl politische – nationale Unabhängigkeit, Wahlrecht der (männlichen) Bürger – wie soziale Fragen – Senkung der Steuern, Handelsfreiheit, Reform der Rechtsprechung – ins Zentrum. Ihr Ziel war eine demokratische Selbstregierung auf republikanischem Fundament mit sozialem Ausgleich.
Ihre Moral war von einem starken Fortschrittsglauben geprägt. Danach vervollkommne sich die Menschheit kontinuierlich zu einer jeweils höheren Entwicklungsstufe. In etwa so, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel den Gang der Weltgeschichte in seiner »Phänomenologie des Geistes« beschrieben hatte. Den Gang der Geschichte zu beschleunigen, dazu fühlten sich die Revolutionäre von 1848 berufen.
Mehr als anderthalb Jahrhunderte später ist der Fortschritt auf die Verbindung von technologischem Wandel und Wachstumsprinzip geschrumpft. In der Folge hat sich in den westlichen Gesellschaften die soziale Spaltung vertieft, die zu den besten Zeiten der »sozialen Marktwirtschaft« fast überwunden schien. Heute erscheint sie so unumkehrbar, dass sie das Vertrauen in die Demokratie untergräbt. Auch die selbst verursachte Zerstörung der umweltlichen Lebensgrundlagen bedroht langfristig die Demokratie. Beide Faktoren, die soziale Spaltung und die Zerstörung der Umwelt stellen das Zusammenleben in Freiheit in Frage.
Vor diesem Hintergrund sind in den vergangenen Jahren Identitäre und Verschwörungstheoretiker, Neo-Nazis, rechtsextreme Parteien, gewaltfreudige linksradikale Gruppen, ausländische bzw. inländische Terrorkommandos auf den Plan getreten. Sie alle wollen »das System« entweder zerstören oder radikal verändern.
Immer wieder werden stabile Demokratien von selbstzerstörerischen Tendenzen heimgesucht. Diese zeigen sich in verschiedenen Formen: Verachtung demokratischer Regeln; Hass auf den Staat; Autoritätsgläubigkeit bei gleichzeitiger Verachtung demokratischer Autorität; Ablehnung pluraler Gesellschaftsverfassung; soziale Phobien; Glaube an nationalistische und rassistische Mythen.
In der europäischen Geschichte sind antidemokratische Bewegungen sowohl aus den Reihen der Intelligenz und des Bildungsbürgertums wie aus der Arbeiterschaft und dem Kleinbürgertum hervorgegangen. In den letzten Jahren sind diese Tendenzen aber auch von staatlichen Machtzentren gefördert worden (z. B. in Ungarn, in Russland, in der Türkei). Daraus sind Hybrid-Formen entstanden, die sogenannten »illiberalen Demokratien«, in denen demokratische Regelwerke und Institutionen aus völkischem, nationalistischem oder/und schlicht aus wirtschaftlichem beziehungsweise kriminellem Machtinteresse manipuliert werden. Ihre Protagonisten verstehen sich als explizite Kritiker der liberalen Demokratie, erklären diese für antisozial (Stichwort: zügelloser Kapitalismus zum Nutzen einiger weniger), antinational und unmoralisch. Dem stellen sie den »fürsorglichen«, in nationalem Interesse handelnden Staat entgegen. In der Regel installiert dieser eine Regierung mit diktatorischen Vollmachten, die sichere Renten und Gehälter, kurz eine vom Staat »erfolgreich« kontrollierte Wirtschaft zu garantieren verspricht.
Aber auch in vermeintlich stabileren Demokratien wie Italien (so zum Beispiel unter dem damaligen Parteiführer und Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi) wurden und werden demokratische Institutionen von regierenden Parteiregimes angegriffen (Beispiel: die Funktionalisierung der Gewaltenteilung im Interesse der Exekutive bzw. unkontrollierter Machtgruppen, Manipulation des Parlaments und der unabhängigen Gerichtsbarkeit).
Die Bilder, die Feinde (weg mit »dem System«) und Verteidiger (die beste aller Ordnungen) über die Demokratie verbreiten, könnten gegensätzlicher nicht sein. Doch diese Labels gehen auf reale Eigenarten der Demokratie zurück. Demokratie ist fragil und daher angreifbar, weil sie auf Freiheit und Vertrauen beruht. Ihre Gegner suchen genau dieses Fundament unter ihre Kontrolle zu bringen. Und sie ist so robust und erneuerungsfähig wie die Institutionen, die die Freiheit schützen, und die Zivilgesellschaften, die sie mit Leben erfüllen. Sie ist diejenige politische Form, in der Reformen und Korrekturen wie auch Angriffe und Zerstörungsversuche aus der Gesellschaft heraus entstehen. Das unterscheidet sie von anderen politischen Ordnungen. In jeder wirtschaftlichen und zivilisatorischen Krise steht der politische Rahmen, den die Demokratie verkörpert, erneut in der Kritik. So auch gegenwärtig, wo nichts weniger ansteht als der freiwillige Rückbau eines ausschließlich an technisch-wirtschaftlichem Wachstum orientierten Welt- und Selbstverständnisses. In solchen Zeiten der Krise lohnt es, die Schriften der Kämpfer von damals aufzuschlagen und zu fragen: Was und wie können die Verteidiger der Freiheit von den »gescheiterten 48ern« lernen?
Folgende Elemente treten aus der »Erbmasse« der Revolution von 1848 hervor:
Freiheit ist mehr als persönliche Bewegungs- und Wahlfreiheit. Ihr Zentrum bildet die menschliche Fähigkeit zur selbstbestimmten Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens;
Freiheit und plurale Organisation der Gesellschaften bedingen einander;
persönliche und politische Freiheit sind entscheidend dafür, ein würdiges Leben führen zu können; ohne politische Freiheit gibt es keine persönliche Freiheit;
Freiheit ist zerstörbar, muss daher verteidigt werden.
PS: Wenn nationale und europäische Interessen gegeneinander ausgespielt werden, ist dies ein Rückfall hinter die Ziele der Revolution von 1848.
⃰ Vgl. Emma Herwegh: Es lebe die Demokratische Republik, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, S. 29 f.
Antonia Grunenberg ist pensionierte Professorin für Politikwissenschaft. Sie ist Mitgründerin und Vorstandsmitglied des 1995 gegründeten »Hannah Arendt Vereins für politisches Denken«, Bremen, der jährlich den »Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken« vergibt. Jüngste Veröffentlichung: Demokratie als Versprechen. Warum es sich lohnt, für die Freiheit zu kämpfen, Europa Verlag 2022, 208 S., 20 €.