Das Bürokratiemonster soll erlegt werden. Das ist die Botschaft, die tagtäglich über unsere Bildschirme flimmert und die Radiowellen zum Beben bringt. Nun hat das, was wir bis vor Kurzem immer noch Bundesregierung nannten, für diese Ausgeburt des Bösen ein schuldiges Gesetz gefunden, das noch 2023 abgeschafft werden sollte, so der Kanzler beim Kongress der deutschen Arbeitgeber und schon vorher der unternehmerwillfährige Wirtschaftsminister. Es geht um das »Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz« (oft auch kürzer als Lieferkettengesetz bezeichnet) aus dem Jahr 2021, noch unter der schwarz-roten Koalition verabschiedet. Natürlich will es auch die CDU abschaffen, wie ihrem Wahlprogramm zu entnehmen ist. Dieses jetzt zum Abschuss freigegebene Gesetz wurde geschaffen, um Unternehmen, die global tätig sind, dazu zu bringen, genauer darauf zu achten, was in ihren Lieferketten, also etwa in den Fabriken in Ostasien, wo viele der in Europa vertriebenen Artikel, z. B. Textilien, hergestellt werden, geschieht. Und dass dort viel passiert, was nichts mit menschenwürdiger Arbeit zu tun hat, sondern schwerste Menschenrechtsverletzungen nicht unüblich sind, das lässt sich an vielen Beispielen aufzeigen.
Nur zwei besonders krasse Fälle aus den Jahren 2012 und 2013 aus Pakistan und Bangladesch seien erwähnt: Im September 2012 starben 258 Arbeiterinnen und Arbeiter bei einem Brand in der Textilfabrik »Ali Enterprises« in der Stadt Karatschi in Pakistan. Mindestens 32 Menschen wurden verletzt, teilweise lebensgefährlich. Sie erstickten oder verbrannten, weil viele Fenster vergittert, Notausgänge verschlossen und nur eine Tür des Gebäudes geöffnet waren. Wichtigster Kunde der abgebrannten Fabrik war das deutsche Textilunternehmen KiK, das nach eigenen Angaben im Jahr 2011 bis zu 75 Prozent der Produktion kaufte. Man habe regelmäßig die Arbeitsplatzsicherheit und sonstige Arbeitsbedingungen durch Audit-Firmen begutachten lassen, versicherte KiK. Außerdem sei man mit eigenen Mitarbeitern bei seinen Zulieferern vor Ort, beispielsweise um Themen wie Brandschutz zu diskutieren.
Die Überlebenden und Hinterbliebenen des Fabrikbrands gründeten mithilfe der pakistanischen Gewerkschaft NTUF die Organisation »Ali Enterprises Factory Fire Affectees Association« und zogen vor das Landgericht Dortmund, allerdings erfolglos, da ihre Ansprüche nach dessen Auffassung verjährt waren.
Der bekannteste und schlimmste Vorfall in Bangladesch war der Einsturz der »Rana-Plaza«-Textilfabrik nahe Dhaka 2013, bei dem mehr als 1100 Menschen starben und über 2000 verletzt wurden. Die Fabrik produzierte für Firmen wie Primark, Benetton, Mango und KiK.
Das jetzt so gescholtene Gesetz hat bislang nur menschenrechtliche Standards umgesetzt, festgeschrieben unter anderem in den UN Guiding Principles of Business and Human Rights von 2011, politisch implementiert durch den 2016 verabschiedeten Nationalen »Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte«, verstärkt durch EU-Rechtsakte wie die Corporate Social Responsibility Richtlinie von 2014 und die Verordnung zu sog. Konfliktrohstoffen aus 2017. All das scheint den mutigen Kettensägern entgangen zu sein. Zwar richten sich diese Vorschriften nicht direkt an Unternehmen, sondern an die Staaten, die sie verabschiedet haben. Gleichwohl hat sich inzwischen die Auffassung durchgesetzt, dass es eine »unternehmerische Verantwortung« bzw. »eine menschenrechtliche Sorgfaltspflicht deutscher Unternehmen« gibt, wie es im Nationalen Aktionsplan heißt. Deutschland ist hier also mitnichten vorgeprescht.
Wer solche die unternehmerische »Freizügigkeit« einschränkenden Vorschriften bekämpfen will, der verweist hier wie in vielen anderen Fällen auf die Selbstregulierungskräfte des Marktes und die ach so erfolgreichen Bemühungen der Unternehmen, solcher Verantwortung gerecht zu werden. Das mache eine gesetzliche Regelung überflüssig. Leider zeigt sich hier und anderswo, dass die Behauptung solcher Bemühungen oft nicht das Papier wert ist, auf das sie in regelmäßigen Abständen geschrieben wird, auch wenn sich etwa KiK, wie einem Bericht der Frankfurter Rundschau zu entnehmen ist, um Besserung bemüht. Der Applaus der Wirtschaft für die Kettensägenfantasien zeigt aber, dass man dort eigentlich keine Änderungen will.
Doch gibt es auch noch die europäische Ebene: Selbst, wenn in Deutschland die Kettensäger erfolgreich werden, sind die ach so gegängelten Unternehmen noch lange nicht aus dem Schneider. Zum großen Bedauern der FDP hat die Europäische Union nämlich mittlerweile eine Richtlinie verabschiedet, die durchaus noch weiter geht als das deutsche Gesetz, und das sogar gegen den Widerstand des Hegemons Bundesrepublik. Die Richtlinie eröffnet nämlich ausdrücklich die Möglichkeit von Schadensersatzforderungen gegen Unternehmen, die ihre Lieferkette nicht angemessen kontrollieren; das deutsche Gesetz hatte versucht, solche Strafen weitgehend auszuschließen. So ganz stumpf wäre die Kettensäge gleichwohl nicht; denn die Richtlinie muss erst noch in deutsches Recht umgesetzt werden, und dazu hat die Bundesrepublik zwei Jahre nach Veröffentlichung der Richtlinie Zeit. Auch danach gibt es noch Fristen, wann deren Bestimmungen konkret in Kraft treten.
Aber was für ein Bild gibt ein Land ab, das sich immer nur dann lautstark für Menschenrechte einsetzt, wenn die eigene Wirtschaft davon nicht betroffen ist?
Der Vergleich des Bundeskanzlers mit einer Kettensäge – gern auch vom argentinischen Präsidenten benutzt – ist vielleicht nicht so falsch. Mit ihr begrenzen er und Habeck möglicherweise die Bürokratie. Dafür zerstören sie einen Gutteil deutscher Glaubwürdigkeit in Punkto Menschenrechte und Kampf gegen völkerrechtswidrige Zustände. Vielleicht sollten sie erst einmal einen Kurs im Umgang mit Kettensägen machen. Teilweise sind dafür nämlich entsprechende Schulungen verpflichtend!