Nach innen und nach außen, in heißen wie »kalten« Kriegen gehören Kasernierung, (Zwangs-)Umsiedlung, Vertreibung, Pogrom, Genozid zu den Mitteln, ein Gebiet störungsfreier zu machen und einen Herrschaftsbereich auszudehnen. Für untauglich und das Wohl des eigenen Volks schädigend befundene Ansässige müssen »homogenisiert«, im buchstäblichen wie übertragenen Sinn aus dem Weg geräumt werden. Umsetzbarkeit und Berechtigung dieses Anspruchs hängen von Ausmaß und Erfolg der Macht ab, die aus den Gewehrläufen kommt.
Worauf angeblich schon Henry Kissinger hinwies: Interessenlagen entscheiden für Staaten und alle, die welche werden wollen, über Freund und Feind. Darin sind sich alle Staaten der Erde als ziemlich beste Feinde bei der Austragung der für ihr jeweiliges Wohlergehen nötigen Gegensätze einig. Die obengenannten Gewaltsorten bewerten sie geostrategisch und stellen ihr entsprechendes Handeln als ein Müssen wegen hoher Gebote von Zeitenwenden und anderen Allsubjekten dar. Die Moral ist dabei immer doppelt – je nachdem. So ist z. B. der Einsatz eines »harten Besens« durch Aserbeidschan und die Türkei gegen Bergkarabach und Kurden weniger verwerflich als die »abgrundtiefe Barbarei«, um die es sich handelt, wenn der Feind zu ihm greift.
In Nahost, wo Israel den Gazastreifen als Freiluftgefängnis abgesteckt und dort Palästinenser auf engstem Raum zusammengepfercht hat, tragen Lenker und Kämpfer zweier Herrschaftsbereiche ihre Feindschaft tödlich aus. Die von den Insassen per Wahlen akklamierte Hamas hat sich daran gemacht, das Gebiet als Koranknast auszugestalten, und es laut politologischer Expertise (Gerald Steinberg in konkret 11/23, S.3) geschafft, sich auch mit als humanitäre Hilfe deklariertem deutschen Geld für ihren Kampf Waffen zu besorgen. Obwohl die Hamas damit über Wesentliches verfügt, ohne das nicht Staat zu machen ist: exklusive Gewaltmittel für Markierung und Garantie von Machtbereichen, bleibt ihr allseitige internationale Anerkennung als Staat versagt. Verwirklicht hingegen ist das Recht des feindlichen Nachbars auf seine Existenz, dank der unverzichtbaren Hilfe von Weltkriegssiegern und wegen des Bedarfs an einer in westlichem Interesse fungierenden Ordnungsmacht mit unschlagbarer Waffenüberlegenheit, die weit über Gaza hinaus die Region befriedet; auch der iranische Erzfeind muss sich hüten, das Unterstützen der Hisbollah und Entsenden von Kämpfern zu weit zu treiben, denn eine nukleare Prophylaxe gegen ihn behält sich Israel vor. Ob es für Palästinenser ein Gebiet mit Staatsrang geben wird, hängt somit in erster Linie von Israel ab, das sich als grundsätzlich bedrohter und für Juden weltweit zuständiger Staat seinen Kurs auch nicht von seiner Schutzmacht, den USA, und von der UNO schon gleich gar nicht vorschreiben lässt.
Dem Expansionismus Israels, das es sich leisten kann, bei Friedensregelungen, vor allem solchen, die territoriale Abtretungen bedeuten würden, auf unabsehbare Zeit zu spielen, währenddessen sich neue Landzerstückelungs- und Besiedlungsfakten quasi von selbst und unumkehrbar »einstellen«, setzt die Hamas, die sich nach ihrer Lesart aus Kriegern, für die BBC aus Militanten und für deutsche Nachrichten aus Terroristen rekrutiert, den eigenen Expansionismus (»Agenda 1948«) entgegen. Wegen ihrer militärischen Unterlegenheit greift sie zum asymmetrischen »Krieg des kleinen Mannes«, zu Terror. Das heißt nicht, dass die von der »humansten Armee der Welt«, die vor Bombardierungen auf Dächer »klopft«, geübte Vergeltung gelinder ausfiele, gerechter aber auf jeden Fall schon. Der Amok der Hamas mag »verrückt« anmuten angesichts der ihr nur zu bekannten Vernichtungspotenz des überrumpelten gegnerischen Militärs, hat aber eine (Abschlachtungs-)Logik. Diese unterscheidet sich nicht diametral von der des regelbasierten Feindes.
Mangels Möglichkeiten zum direkten Angriff auf politisch Zuständige richten sich Attentate und Schikanen ohne Ansehen der Person und auch nach Zufall gegen jedwede Subjekte des Feindes. Da dieser ihnen eine nationale/ethnische Zugehörigkeit auferlegt hat, zählen sie als Einzelteile seines Bestands, sind seine lebenden Personalausweise, geben Schutzschilde und Zielscheiben ab. Für letztere gilt: »Nur ein toter… ist ein guter…«. Zusätzlich laden alle auf »killing fields« Anzutreffenden eine Kontaktschuld auf sich. Dass die Überfallenen von dieser nicht wissen (können), schützt sie nicht vor einer »Sühne« mit dem Tod. Eine »unschuldige Zivilbevölkerung« gibt es für diese Logik des Abschlachtens nicht. Hätte sich die Hamas denn nicht stattdessen an einem »sauberen Krieg mit offenem Visier« versuchen können? Dieser ist eine Chimäre; auch die Logik regulären modernen Kriegs bezieht Bevölkerungen mit allen Mitteln und Konsequenzen in seine Führung ein. Dessen ungeachtet gilt das Massaker der Hamas als wahnsinnig, als Tat ohne (triftigen) Anlass; die Zustände in Gaza könnten und dürften keiner sein, sondern ein schweres von Israel auferlegtes, aber in Gottes Namen hinzunehmendes Schicksal. Somit könne nichts Objektives, sondern allein ideologische Verblendung, der Antisemitismus der Hamas und des politischen Islams, ein Beweggrund sein.
Es mangelt nicht an Vermutungen dazu, welches Kalkül die Hamas mit ihrem Massaker verfolgt haben könnte: sie wollte und konnte die Verlegung von Teilen des israelischen Militärs an eine andere Front nutzen. Sie wollte mit der Betätigung und dem »Erfolg« ihrer Widerstandskraft ein Fanal für die Region setzen, um damit Israels Nachbarn von einem Annäherungskurs an den Feind abzubringen und von ihnen Solidarität gegen die israelische Antwort zu erzwingen. Das sind strategisch-taktische Überlegungen, wie sie in jedem Lehrbuch zur »Fortsetzung der Politik mit anderen (?) Mitteln« zu finden sind: Mit Opfern Resultate erzielen. Für die Absolutheit ihrer »erfolgreichen«, da umgesetzten massakrierenden Strategie setzt die Hamas, zur Entrichtung des unumgänglichen Preises bereit, die Bewohner ihres Machtgebiets als Märtyrer mit und wider Willen gegnerischer Vergeltung aus. Dass sie das tut, ist kein Alleinstellungsmerkmal von Terrorismus. Auch als Staaten vervollkommneten Mächten ist der Einsatz von Leib und Leben ihrer Mitglieder für den Erfolg gerechter Sachen eine Selbstverständlichkeit. Staat und Bürger, Nation und Volk repräsentieren sich wechselseitig: zum einen die staatlich-nationale Seite mit ihrer Machtvollkommenheit Bürger und Volk, die sie zu Gefolgschaft verpflichtet. Umgekehrt in eins gesetzt verkörpern letztere als menschliche Verfügungsmasse mit allen praktischen Konsequenzen. inklusive Tod, den Willen und das Handeln von Staat und Nation.
»Kein Mitgefühl mit den Tätern«, ermahnt die FAZ vom 10.11.2023. In der Tat könnte man »lumpenpazifistisch« fragen: Weshalb nur sollte man Schlächtereien überhaupt Verständnis entgegenbringen? Das – Vorsicht, »Äquidistanz«! – beiderseitige Umbringen im Namen von Höherem, zuerst von der Hamas, dann von Israel veranstaltet, bringt der einen Seite den leichenträchtigen »Erfolg«, der schon im Vollzug des Massakers selbst liegt, und der anderen die Lizenz zu Auslöschungsschlägen. Wenn z. B. Yanis Varoufakis darauf besteht, dass Gräuel, egal von wem begangen, als Verstöße gegen ein Übermaßverbot (?) immer »Kriegsverbrechen« seien, so offenbart er sich nach zu teilender Meinung als unsolidarischer Gleichmacher, denn: »Die Hamas greift an, Israel verteidigt sich« (Bild schon 2019). Israel gebührt Verständnis; ein Verständnis, das sich gerade in einem von eigener Täterschaft geläuterten Deutschland so umfassend wie möglich zu manifestieren hat.
Diese Selbstverpflichtung bekräftigt Robert Habeck mit seiner »Hammer-Rede« (Bild). Die Botschaft an sein Volk versäumt nicht, staatsmännisch Mitleid mit echt, nicht vorgeblich unschuldigen Opfern auch in Gaza auszudrücken, aber der Schwerpunkt seines Vortrags liegt auf der »Staatsraison« Deutschlands. Worum handelt es sich bei dieser Berufungsinstanz, die von rechts bis links hoch im Kurs steht? Zunächst einmal ist sie »etwas ganz Großes«. Sie ist geheiligt dadurch, dass es zu ihr angeblich aus einem Vorlauf früherer Fakten namens Nationalgeschichte und Tradition heraus einfach kommen musste – ein Schema, dessen Bestandteile wiederholt historisch neu zu »denken« = bewerten sind, damit das Vorher weiterhin zum immer komplexer werdenden Jetzt passt. Überdies ist die Staatsräson nicht nur ein Gewordenes, sondern vor allem eine ehrfurchtgebietende Unumstößlichkeit, dadurch geweiht, dass es sie gibt, sie »also« unbestreitbar Fakt ist: Der Wille des Staates, so spricht der Herr, gilt absolut und geschehe. Richtiges Meinen ist daher zu form(ier)en, »falsche« Äußerungen mit aller Entschiedenheit zu unterbinden/ahnden. Nach Aufarbeitung einer unseligen Phase liegt unverbrüchliche Solidarität mit jedweden Aktionen Israels in der »DNS« eines neuen »Menschen«-, genauer: Staatsbürgerschlags. Angesichts dieser Ladung Wahrheit und Klarheit verbleibt Kommentatoren zu ihrem Lob nur noch der übliche Nachsatz, das Gesagte dürfe aber kein bloßes Lippenbekenntnis bleiben.
Nun ist es an Israel, die Agenda exekutieren zu müssen, die es sich gesetzt hat. Die »Gesetze des Kampfes«, an die US-Sicherheitsberater John Kirby alle erinnert, die das vielleicht schon wieder vergessen haben, sorgen dabei dafür, dass auch die Seite im Recht mit Widerstreben nicht um ein Mindestmaß an Erbarmungslosigkeit herumkommt: Ihr Krieg kann nicht anders als »blutig«, »hässlich« und »unschön« ausfallen. Leider. Das ist, vor und nach Hiroshima, Dresden, Belgrad, nun einmal, wie schon »body mass«-Expertin Albright wusste, der Preis des Lohns gerechter Kämpfe.
Wie steht nun Deutschland in dem ganzen globalen Tohuwabohu da, zu dessen Ordnung es berufen ist? Nach Ansicht von Boris Pistorius, einem weiteren Staatsraisonneur, einerseits nicht schlecht; die Moral seiner unterausgestatteten starken Truppe ist ausgezeichnet, wovon die Bundeswehr-Webseiten ein von Nationalismus besoffenes, Pardon: patriotisches Bild liefern. Aber: Die Mentalität der Zivilen ist noch unter aller Kanone. Damit sich die, die machen, was wirklich zählt, nicht wieder wie in unseligen Zeiten einen Dolchstoß von Ohnemicheln einfangen, darf das Volk nicht von der Fahne gehen. Dafür zu werben, ist die Mission von Boris Pistorius; das noch zu träge gemeine Volk will er aufrütteln, ihm reinen Wein eingießen. Damit unsere Jungs und Mädels gut kämpfen können, muss auch die Zivilgesellschaft zur Zahlung des höchsten Preises, des Blutzolls, bereit sein. »Deutschland, seine Politik, seine Gesellschaft und seine Bundeswehr müssen kriegstüchtig werden? Ja, das müssen sie. Pistorius hat sich getraut, eine unbequeme Wahrheit auszusprechen: Es braucht eine neue Wehrhaftigkeit im Denken und im Handeln. Es wurde Zeit, dass das ausgesprochen wird.« Das verklart sekundierend ZDF-Korrespondentin Ines Trams, eine der medialen Stimmen, die zeigen, dass Bellizismus keine Männerdomäne zu sein braucht. Der Weg zur Front eines direkten Kriegs mit dem notorisch angriffsgierigen Russland ist kurz gemacht worden und muss für Nato-Logistikkommandeur Alexander Sollfrank und mithin »uns« als ein noch zu schaffender »militärischer Schengen«-Raum nach vorn »verteidigbar« sein. Dieser Auftrag braucht selbstverständlich ein Volk von wehrhaft Gemachten, schweigend Zustimmenden und vor allem freiwillig Kriegsbereiten. Die Stimmungsmache dafür kommt schon jetzt ins Haus. Den Rest – »Ruhm und Ehre« nicht nur in der Ukraine – besorgt die Staatsraison, die nicht fragt, ob »wir« sie repräsentieren wollen. Wir sollen es einfach.