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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Renten und Altersarmut

Armut hat vie­le Gesich­ter und vie­le Grün­de. Es gibt aber weni­ge grund­sätz­li­che Zusam­men­hän­ge, die Armut in einer Gesell­schaft begrün­den. Ent­schei­dend sind vor allem die Regeln, mit denen der gesell­schaft­li­che Reich­tum ver­teilt wird.

Die Ver­tei­lungs­re­geln befin­den sich in Tarif­ver­trä­gen und in Geset­zen. Vor allem die Sozi­al­ge­set­ze beein­flus­sen die Armuts­zah­len und die Ver­än­de­rung der Armut von gesell­schaft­li­chen Grup­pie­run­gen. Knapp 60 Pro­zent der Erwerbs­lo­sen, rund 43 Pro­zent der Allein­er­zie­hen­den und mehr als 35 Pro­zent der Migran­ten sind beson­ders von Armut betrof­fen. Der Anteil der über 65jährigen Men­schen, die in Alters­ar­mut leben, scheint da mit 18 Pro­zent nicht so erheb­lich. Der erste Blick täuscht jedoch gewal­tig. In kei­ner ande­ren Bevöl­ke­rungs­grup­pe wächst die Armut auch nur annä­hernd so schnell wie bei den Alten. Die Rent­ne­rin­nen und Rent­ner trifft es am härtesten.

Das Bun­des­amt für Sta­ti­stik (Desta­tis) führt zwei Sta­ti­sti­ken, die Bele­ge für die dra­ma­ti­sche Zunah­me von Alters­ar­mut liefern:

Erstens die Sta­ti­stik über die Grund­si­che­rung: Seit 2003 weist Desta­tis die Zahl der Bezie­her von Grund­si­che­rung im Alter aus. 2003 waren es 257.734 Per­so­nen, im Jahr 2020 hat­te sich die Zahl auf 564.110 erhöht. Das ist eine Stei­ge­rung um 119 Pro­zent in sieb­zehn Jah­ren. Doch die Zahl der Zula­gen­be­rech­tig­ten liegt weit höher. Sozi­al­wis­sen­schaft­ler des Deut­schen Insti­tuts für Wirt­schafts­for­schung (DIW) haben 2019 ermit­telt, dass 60 Pro­zent der Anspruchs­be­rech­tig­ten die Grund­si­che­rung im Alter nicht in Anspruch neh­men. Die Zahl der Grund­si­che­rungs­be­rech­tig­ten liegt dem­nach bei über 1,4 Mil­lio­nen Menschen.

Wich­tig für die Begriff­lich­keit: Wer gerin­ge­re Ein­künf­te als die Grund­si­che­rung hat, ist von Hun­ger und Obdach­lo­sig­keit bedroht. Man kann die Ein­kom­mens­gren­ze, die zur Grund­si­che­rung berech­tigt, auch als abso­lu­te Armuts­schwel­le bezeich­nen. Nach Desta­tis liegt die­se Armuts­schwel­le im Bun­des­schnitt für Ein­zel­haus­hal­te aktu­ell bei 840 Euro. Ob die Berech­ti­gung zum Emp­fang die­ser Lei­stung vor­liegt, wird peni­bel amt­lich geprüft. Nicht über­prüft wird die Zahl selbst. Als Schwel­le zu Hun­ger und Obdach­lo­sig­keit ist sie viel zu nied­rig angesetzt.

Der zwei­te Beleg für die Zunah­me von Alters­ar­mut ist die Sta­ti­stik über die Armuts­ge­fähr­dungs­schwel­le: Nach einem EU-ein­heit­li­chen Ver­fah­ren wird die Armuts­ge­fähr­dungs­quo­te für ver­schie­de­ne Bevöl­ke­rungs­grup­pen ermit­telt. Als von Armut bedroht gilt, wer weni­ger als 60 Pro­zent des mitt­le­ren Ein­kom­mens erhält. Die­ser Schwel­len­wert lag im Jahr 2019 bei 1.176 Euro. Nach Anga­ben von Desta­tis waren – bezo­gen auf die­sen Schwel­len­wert – 14,8 Pro­zent der Bevöl­ke­rung von Armut bedroht. Mit 18 Pro­zent lag die Armuts­ge­fähr­dungs­quo­te bei den über 65-Jäh­ri­gen deut­lich über dem Durch­schnitts­wert aller Alters­klas­sen. Anders betrach­tet: Der Anteil der von Armut betrof­fe­nen Rent­nern und Rent­ne­rin­nen hat sich in den zurück­lie­gen­den drei­zehn Jah­ren um 66 Pro­zent erhöht.

In einer Son­der­aus­wer­tung für 2018, die sich Desta­tis von Gerd Bos­bach und Mat­thi­as W. Birk­wald geson­dert bezah­len ließ, zeig­ten die Mikro­zen­sus­da­ten, dass – getrennt betrach­tet – die Armuts­ge­fähr­dungs­quo­te bei den Rent­ne­rin­nen und Rent­nern etwa 20,5 Pro­zent betrug, bei den Pen­sio­nä­rin­nen und Pen­sio­nä­ren dage­gen ledig­lich 0,9 Pro­zent. Beam­te, Sol­da­ten, Rich­ter oder Geist­li­che haben ein­deu­tig eine bes­se­re Alters­vor­sor­ge. Es ist übri­gens merk­wür­dig, dass Desta­tis die Armuts­quo­ten von Rent­nern nicht regel­mä­ßig oder nur gegen Geld aus­weist. Die ent­spre­chen­den Daten sind jeden­falls vorhanden.

Wich­tig für die Begriff­lich­keit: Die Armuts­ge­fähr­dungs­schwel­le bewer­tet die Bedürf­nis­se der Men­schen nach ihren mate­ri­el­len, sozia­len und kul­tu­rel­len Bedürf­nis­sen. Es han­delt sich um eine rela­ti­ve Armuts­schwel­le, weil sie immer einen Bezug zur sozio­kul­tu­rel­len Ent­wick­lung der Gesamt­be­völ­ke­rung hat. Und zu den Lebens­hal­tungs­ko­sten. Gemeint sind zum Bei­spiel die Höhe der Mie­te, die Lebens­mit­tel- oder Ver­kehrs­prei­se, die Tari­fe für bezahl­te Hil­fe (auf die gera­de älte­re Men­schen ange­wie­sen sind) oder die Kosten für Hygieneartikel.

Noch eine Zahl aus 2019: In die­sem Jahr gab es nach Anga­be des Bun­des­ar­beits­mi­ni­ste­ri­ums in Deutsch­land rund 6,3 Mil­lio­nen Voll­zeit­ar­beit­neh­mer, die im Alter mit einer Ren­te unter­halb von 1200 Euro brut­to rech­nen müs­sen. Nach Abzug von Sozi­al­ver­si­che­rungs­bei­trä­gen für Kran­ken- und Pfle­ge­kas­se kom­men die­se Voll­zeit­kräf­te künf­tig auf eine Net­to­ren­te von unter 1100 Euro im Monat und lie­gen damit unter der Armuts­ge­fähr­dungs­schwel­le. Bei­na­he jeder drit­te Voll­zeit­be­schäf­tig­te ist also betroffen.

Der Unter­schied zwi­schen soge­nann­ter abso­lu­ter und soge­nann­ter rela­ti­ver Armut macht gegen­wär­tig etwa den Unter­schied zwi­schen 1.175 Euro und 840 Euro, also gut 300 Euro aus. Poli­ti­ker, die vor­ge­ben, die Alters­ar­mut bekämp­fen zu wol­len, müs­sen sich dar­an mes­sen las­sen, ob sie eine mone­tä­re Absi­che­rung über der Armuts­ge­fähr­dungs­schwel­le mei­nen oder nur Pla­ce­bos inner­halb des Armuts­be­rei­ches ver­tei­len wol­len. Die Grund­ren­te ist so ein Pla­ce­bo. Sie bringt für eini­ge einen Aus­tausch des Geld­ti­tels – »Grund­ren­te« statt »Grund­si­che­rung« –, für weni­ge einen tat­säch­li­chen Auf­schlag und für vie­le gar nichts. Und alles spielt sich sowie­so nur im Bereich unter­halb der Armuts­ge­fähr­dungs­schwel­le ab. An der Alters­ar­mut ändert sich gar nichts – außer dass die Grund­ren­ten­lei­stun­gen durch weni­ger Büro­kra­tie und Kon­trol­le gelei­stet werden.

Wer Alters­ar­mut bekämp­fen und zurück­drän­gen will, muss sich vor allem dar­über im Kla­ren sein: Sie fällt nicht vom Him­mel. Sie ist durch Geset­ze syste­ma­tisch her­bei­ge­führt wor­den. Die Absen­kung des Ren­ten­ni­veaus und die zahl­rei­chen Geset­ze, mit denen Ren­ten­an­wart­schaf­ten abge­baut oder sogar gestri­chen wur­den, haben die desa­strö­se Ent­wick­lung geschaf­fen (sie­he auch Ossietzky 11/​2021 – »Neu­sprech in der Ren­ten­po­li­tik«). Die­se Geset­ze wir­ken wei­ter und bekom­men durch die von der Agen­da 2010-Poli­tik geschaf­fe­nen Nied­rig­lohn­be­rei­che noch zusätz­li­che Trieb­kraft. Nied­ri­ge Löh­ne bedeu­ten nied­ri­ge Ren­ten. Es ist abseh­bar, dass nicht nur jeder drit­te, son­dern sogar jeder zwei­te Rent­ner­haus­halt eine Ren­te unter­halb der Armuts­ge­fähr­dungs­schwel­le bezie­hen wird.

Zur Bekämp­fung der Alters­ar­mut müs­sen eine Rei­he von Geset­zen, vor allem der Agen­da 2010-Geset­ze, rück­gän­gig gemacht bzw. kor­ri­giert wer­den. Das Ren­ten­ni­veau muss so weit erhöht wer­den, dass die Ren­ten min­de­stens 75 Pro­zent der im Arbeits­le­ben erziel­ten Net­to­ein­künf­te entsprechen.

Als Erstes muss aber eine Min­dest­al­ters­ver­sor­gung durch den Sozi­al­staat garan­tiert wer­den. Eine Min­dest­ren­te, die über der Armuts­ge­fähr­dungs­schwel­le liegt und mit der all­ge­mei­nen Lohn­ent­wick­lung dyna­mi­siert wird.

Statt­des­sen wol­len Poli­ti­ker, die Armut und damit auch Alters­ar­mut zu ver­ant­wor­ten haben, die Lage lie­ber beschö­ni­gen bzw. die Armut ganz weg­de­fi­nie­ren. Ex-Sozi­al­mi­ni­ste­rin Andrea Nah­les: »Alters­ar­mut in Deutsch­land ist heu­te noch eher ein Rand­phä­no­men. Wer im Alter bedürf­tig ist, wird von der Grund­si­che­rung im Alter und bei Erwerbs­min­de­rung auf­ge­fan­gen.« (Im Mai 2016 auf eine Anfra­ge von rentenpolitikwatch.de.) Oder Gesund­heits­mi­ni­ster Jens Spahn: »Hartz IV bedeu­tet nicht Armut, son­dern ist die Ant­wort unse­rer Soli­dar­ge­mein­schaft auf Armut.« (Im März 2018 in einem Inter­view mit der Ber­li­ner Mor­gen­post.)

Die Ber­tels­mann-Stif­tung wie­der­um kam 2019 sogar in einer »Stu­die« zu deut­lich »gün­sti­ge­ren« Alters­ar­muts­er­geb­nis­sen. Sie schrumpf­te die Armuts­ge­fähr­dungs­schwel­le für Ren­ten­be­zie­her auf 905 Euro her­un­ter, was gleich auch von ver­schie­de­nen Medi­en ver­öf­fent­licht wur­de. (Desta­tis hat­te im glei­chen Jahr für 2018 einen all­ge­mei­nen Wert von 1.135 Euro ver­öf­fent­licht.) Wie kam die Ber­tels­mann-Stif­tung also auf ihre 905 Euro? Ganz ein­fach. Sie nahm nur die Alters­ein­kom­men und errech­ne­te von die­ser Zahl die 60-Pro­zent-Quo­te. Genau­so gut könn­te man auch eine Mil­lio­närs-Armuts­schwel­le ermit­teln, die dann mög­li­cher­wei­se einen Wert von drei Mil­lio­nen Euro hät­te. Das ist natür­lich absurd, aber eben­so absurd ist die Berech­nung einer spe­zi­el­len Alters-Armuts­schwel­le. Schließ­lich leben die Alten in der glei­chen Gesell­schaft mit den glei­chen oder (wegen des Alters) meist sogar höhe­ren Kosten. Der Zweck der Ber­tels­mann-Rech­nung liegt auf der Hand: Die Anzahl der armen Alten wird durch die­se Metho­de kräf­tig reduziert.

Der Kampf gegen die Alters­ar­mut geht also schon bei der Begriff­lich­keit oder den Berech­nungs­me­tho­den los. Ist die Men­schen­wür­de älte­rer Men­schen schon dann unan­ge­ta­stet, wenn ihnen genug zum Essen und ein Dach über dem Kopf bleibt? Oder gehört zu einem men­schen­wür­di­gen Leben auch die Teil­ha­be am gesell­schaft­li­chen, sozia­len und kul­tu­rel­len Leben?

Dass dies grund­sätz­lich mög­lich und finan­zier­bar ist, zei­gen die Min­dest­ver­sor­gung­s­y­ste­me in unse­rer unmit­tel­ba­ren Nach­bar­schaft, z. B. in Öster­reich, den Nie­der­lan­den, in Däne­mark oder Schweden.