Armut hat viele Gesichter und viele Gründe. Es gibt aber wenige grundsätzliche Zusammenhänge, die Armut in einer Gesellschaft begründen. Entscheidend sind vor allem die Regeln, mit denen der gesellschaftliche Reichtum verteilt wird.
Die Verteilungsregeln befinden sich in Tarifverträgen und in Gesetzen. Vor allem die Sozialgesetze beeinflussen die Armutszahlen und die Veränderung der Armut von gesellschaftlichen Gruppierungen. Knapp 60 Prozent der Erwerbslosen, rund 43 Prozent der Alleinerziehenden und mehr als 35 Prozent der Migranten sind besonders von Armut betroffen. Der Anteil der über 65jährigen Menschen, die in Altersarmut leben, scheint da mit 18 Prozent nicht so erheblich. Der erste Blick täuscht jedoch gewaltig. In keiner anderen Bevölkerungsgruppe wächst die Armut auch nur annähernd so schnell wie bei den Alten. Die Rentnerinnen und Rentner trifft es am härtesten.
Das Bundesamt für Statistik (Destatis) führt zwei Statistiken, die Belege für die dramatische Zunahme von Altersarmut liefern:
Erstens die Statistik über die Grundsicherung: Seit 2003 weist Destatis die Zahl der Bezieher von Grundsicherung im Alter aus. 2003 waren es 257.734 Personen, im Jahr 2020 hatte sich die Zahl auf 564.110 erhöht. Das ist eine Steigerung um 119 Prozent in siebzehn Jahren. Doch die Zahl der Zulagenberechtigten liegt weit höher. Sozialwissenschaftler des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) haben 2019 ermittelt, dass 60 Prozent der Anspruchsberechtigten die Grundsicherung im Alter nicht in Anspruch nehmen. Die Zahl der Grundsicherungsberechtigten liegt demnach bei über 1,4 Millionen Menschen.
Wichtig für die Begrifflichkeit: Wer geringere Einkünfte als die Grundsicherung hat, ist von Hunger und Obdachlosigkeit bedroht. Man kann die Einkommensgrenze, die zur Grundsicherung berechtigt, auch als absolute Armutsschwelle bezeichnen. Nach Destatis liegt diese Armutsschwelle im Bundesschnitt für Einzelhaushalte aktuell bei 840 Euro. Ob die Berechtigung zum Empfang dieser Leistung vorliegt, wird penibel amtlich geprüft. Nicht überprüft wird die Zahl selbst. Als Schwelle zu Hunger und Obdachlosigkeit ist sie viel zu niedrig angesetzt.
Der zweite Beleg für die Zunahme von Altersarmut ist die Statistik über die Armutsgefährdungsschwelle: Nach einem EU-einheitlichen Verfahren wird die Armutsgefährdungsquote für verschiedene Bevölkerungsgruppen ermittelt. Als von Armut bedroht gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens erhält. Dieser Schwellenwert lag im Jahr 2019 bei 1.176 Euro. Nach Angaben von Destatis waren – bezogen auf diesen Schwellenwert – 14,8 Prozent der Bevölkerung von Armut bedroht. Mit 18 Prozent lag die Armutsgefährdungsquote bei den über 65-Jährigen deutlich über dem Durchschnittswert aller Altersklassen. Anders betrachtet: Der Anteil der von Armut betroffenen Rentnern und Rentnerinnen hat sich in den zurückliegenden dreizehn Jahren um 66 Prozent erhöht.
In einer Sonderauswertung für 2018, die sich Destatis von Gerd Bosbach und Matthias W. Birkwald gesondert bezahlen ließ, zeigten die Mikrozensusdaten, dass – getrennt betrachtet – die Armutsgefährdungsquote bei den Rentnerinnen und Rentnern etwa 20,5 Prozent betrug, bei den Pensionärinnen und Pensionären dagegen lediglich 0,9 Prozent. Beamte, Soldaten, Richter oder Geistliche haben eindeutig eine bessere Altersvorsorge. Es ist übrigens merkwürdig, dass Destatis die Armutsquoten von Rentnern nicht regelmäßig oder nur gegen Geld ausweist. Die entsprechenden Daten sind jedenfalls vorhanden.
Wichtig für die Begrifflichkeit: Die Armutsgefährdungsschwelle bewertet die Bedürfnisse der Menschen nach ihren materiellen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen. Es handelt sich um eine relative Armutsschwelle, weil sie immer einen Bezug zur soziokulturellen Entwicklung der Gesamtbevölkerung hat. Und zu den Lebenshaltungskosten. Gemeint sind zum Beispiel die Höhe der Miete, die Lebensmittel- oder Verkehrspreise, die Tarife für bezahlte Hilfe (auf die gerade ältere Menschen angewiesen sind) oder die Kosten für Hygieneartikel.
Noch eine Zahl aus 2019: In diesem Jahr gab es nach Angabe des Bundesarbeitsministeriums in Deutschland rund 6,3 Millionen Vollzeitarbeitnehmer, die im Alter mit einer Rente unterhalb von 1200 Euro brutto rechnen müssen. Nach Abzug von Sozialversicherungsbeiträgen für Kranken- und Pflegekasse kommen diese Vollzeitkräfte künftig auf eine Nettorente von unter 1100 Euro im Monat und liegen damit unter der Armutsgefährdungsschwelle. Beinahe jeder dritte Vollzeitbeschäftigte ist also betroffen.
Der Unterschied zwischen sogenannter absoluter und sogenannter relativer Armut macht gegenwärtig etwa den Unterschied zwischen 1.175 Euro und 840 Euro, also gut 300 Euro aus. Politiker, die vorgeben, die Altersarmut bekämpfen zu wollen, müssen sich daran messen lassen, ob sie eine monetäre Absicherung über der Armutsgefährdungsschwelle meinen oder nur Placebos innerhalb des Armutsbereiches verteilen wollen. Die Grundrente ist so ein Placebo. Sie bringt für einige einen Austausch des Geldtitels – »Grundrente« statt »Grundsicherung« –, für wenige einen tatsächlichen Aufschlag und für viele gar nichts. Und alles spielt sich sowieso nur im Bereich unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle ab. An der Altersarmut ändert sich gar nichts – außer dass die Grundrentenleistungen durch weniger Bürokratie und Kontrolle geleistet werden.
Wer Altersarmut bekämpfen und zurückdrängen will, muss sich vor allem darüber im Klaren sein: Sie fällt nicht vom Himmel. Sie ist durch Gesetze systematisch herbeigeführt worden. Die Absenkung des Rentenniveaus und die zahlreichen Gesetze, mit denen Rentenanwartschaften abgebaut oder sogar gestrichen wurden, haben die desaströse Entwicklung geschaffen (siehe auch Ossietzky 11/2021 – »Neusprech in der Rentenpolitik«). Diese Gesetze wirken weiter und bekommen durch die von der Agenda 2010-Politik geschaffenen Niedriglohnbereiche noch zusätzliche Triebkraft. Niedrige Löhne bedeuten niedrige Renten. Es ist absehbar, dass nicht nur jeder dritte, sondern sogar jeder zweite Rentnerhaushalt eine Rente unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle beziehen wird.
Zur Bekämpfung der Altersarmut müssen eine Reihe von Gesetzen, vor allem der Agenda 2010-Gesetze, rückgängig gemacht bzw. korrigiert werden. Das Rentenniveau muss so weit erhöht werden, dass die Renten mindestens 75 Prozent der im Arbeitsleben erzielten Nettoeinkünfte entsprechen.
Als Erstes muss aber eine Mindestaltersversorgung durch den Sozialstaat garantiert werden. Eine Mindestrente, die über der Armutsgefährdungsschwelle liegt und mit der allgemeinen Lohnentwicklung dynamisiert wird.
Stattdessen wollen Politiker, die Armut und damit auch Altersarmut zu verantworten haben, die Lage lieber beschönigen bzw. die Armut ganz wegdefinieren. Ex-Sozialministerin Andrea Nahles: »Altersarmut in Deutschland ist heute noch eher ein Randphänomen. Wer im Alter bedürftig ist, wird von der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung aufgefangen.« (Im Mai 2016 auf eine Anfrage von rentenpolitikwatch.de.) Oder Gesundheitsminister Jens Spahn: »Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut.« (Im März 2018 in einem Interview mit der Berliner Morgenpost.)
Die Bertelsmann-Stiftung wiederum kam 2019 sogar in einer »Studie« zu deutlich »günstigeren« Altersarmutsergebnissen. Sie schrumpfte die Armutsgefährdungsschwelle für Rentenbezieher auf 905 Euro herunter, was gleich auch von verschiedenen Medien veröffentlicht wurde. (Destatis hatte im gleichen Jahr für 2018 einen allgemeinen Wert von 1.135 Euro veröffentlicht.) Wie kam die Bertelsmann-Stiftung also auf ihre 905 Euro? Ganz einfach. Sie nahm nur die Alterseinkommen und errechnete von dieser Zahl die 60-Prozent-Quote. Genauso gut könnte man auch eine Millionärs-Armutsschwelle ermitteln, die dann möglicherweise einen Wert von drei Millionen Euro hätte. Das ist natürlich absurd, aber ebenso absurd ist die Berechnung einer speziellen Alters-Armutsschwelle. Schließlich leben die Alten in der gleichen Gesellschaft mit den gleichen oder (wegen des Alters) meist sogar höheren Kosten. Der Zweck der Bertelsmann-Rechnung liegt auf der Hand: Die Anzahl der armen Alten wird durch diese Methode kräftig reduziert.
Der Kampf gegen die Altersarmut geht also schon bei der Begrifflichkeit oder den Berechnungsmethoden los. Ist die Menschenwürde älterer Menschen schon dann unangetastet, wenn ihnen genug zum Essen und ein Dach über dem Kopf bleibt? Oder gehört zu einem menschenwürdigen Leben auch die Teilhabe am gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben?
Dass dies grundsätzlich möglich und finanzierbar ist, zeigen die Mindestversorgungsysteme in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, z. B. in Österreich, den Niederlanden, in Dänemark oder Schweden.