Der Westend-Verlag hat einen Sammelband unter dem Titel »Ukrainekrieg« herausgegeben. Dieses Buch berührt Aspekte, die weit über den Horizont dieses Krieges in Osteuropa hinausgehen: Es befasst sich mit Fragen der Globalstrategie, mit diplomatischen Alternativen zur Nato-Politik der Abschreckung, mit der psychologischen Kriegsführung und den ökonomischen Interessen westlicher Weltkonzerne als Hintergrund der Eskalationsdynamik. Die fast 50 Seiten umfassende Einleitung klärt über die transatlantischen Narrative auf, die das schwarzweiß-Bild vom demokratischen Westen einerseits und von der Gefahr aus dem Osten andererseits transportieren, indem sie die Nato-Expansion als Spannungsquelle und die verschiedenen Friedenspläne, denen gegenüber sich die Nato desinteressiert verhält, ausblenden.
Eine Schwäche weist die Einleitung des Buches insofern auf, als sie sich in der Analyse nicht mit den internationalen Verträgen befasst, gegen die die Nato-Osterweiterung verstößt, darunter der 2+4-Vertrag über Deutschland, die Charta von Paris sowie die Europäische Sicherheitscharta von 1999. Dies führt zu der auf den ersten Blick plausiblen Wiederholung des Nato-Narrativs, demzufolge der Krieg in der Ukraine im Wesentlichen eine militärische Aggression Russlands ist, woraus sich die Schlussfolgerung ergibt, dass seine Bestrafung gerecht und eine Belohnung des Aggressors etwa durch die Vereinbarung einer Neutralität der Ukraine keinesfalls zu akzeptieren wären.
Im weiteren Verlauf macht das Buch dieses Defizit mehr als wett. Im Zusammenhang mit der nuklearen Eskalationsgefahr führen die Autoren aus: »Jede Woche steigt das Risiko, dass der Konflikt außer Kontrolle gerät und die Nato zur unmittelbaren Kriegspartei wird. Der dritte Weltkrieg hätte spätestens dann begonnen.«
Der weite Horizont des Sammelbandes wird auch im Einleitungskapitel über China, Türkei, Iran deutlich: »Die chinesische Führung kann kein Interesse an einer Niederwerfung und Auflösung der Russischen Föderation haben. Ein Szenario mit Nato-Truppen kurz vor der chinesischen Grenze und russischen Rohstoffen, die den USA im Kampf gegen China zur Verfügung stünden, kann keine verlockende Vorstellung für die chinesische Führung sein.«
Die konkrete Vorgeschichte des 24.2.2022 analysieren die Autoren wie folgt: Selenskyj forderte im Jahr vor der Eskalation des Krieges nach Gesprächen mit dem US-Präsidenten und dem Nato-Generalsekretär die zeitnahe Aufnahme der Ukraine in die Nato, da das »der einzige Weg« sei, den Krieg im Donbass zu beenden. Dies übergeht auch die Warnungen des US-Strategen Henry Kissinger, die Ukraine als Teil einer Ost-West-Konfrontation zu behandeln, würde jede Aussicht auf ein kooperatives internationales System »für Jahrzehnte zunichtemachen«. In diesem Zusammenhang erinnert das Buch an die von Russland geforderten Sicherheitsgarantien, die die Nato Anfang 2022 zurückwies. Der Nato-Generalsekretär wird mit den Worten zitiert: »Kein anderer hat irgendetwas zu melden, und natürlich hat Russland kein Vetorecht in der Frage, ob die Ukraine Nato-Mitglied werden kann.«
Weitere Rückbezüge in die Geschichte des Verhältnisses zwischen Russland und Staaten im Westen sowie zu den Interessen der fossilen Konzerne im Westen bereichern den Tiefgang des Buches. Auch die Kritik an den Sanktionen als mehr im Interesse der USA als im westeuropäischen Interesse beschlossene Bestrafungs-Maßnahmen, die man selten in Texten zum Ukraine-Krieg findet, zeichnen diesen Sammelband aus.
Im Schlussteil des Buches zitiert der Autor Stefan Luft Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung, der seine Kritik an der Spitze der rot-grünen Regierung wie folgt auf den Punkt bringt: Ausgerechnet Rot-Grün begreift Friedensfähigkeit als Kriegsführungsfähigkeit; dieses Zitat ist zwar aus der Zeit des völkerrechtswidrigen Krieges der Nato gegen Jugoslawien, es hat aber von seiner Aktualität nichts eingebüßt. Schließlich rundet das Buch seine Analysen mit einem Interview mit dem sozialdemokratischen Politiker Klaus von Dohnanyi ab, der darauf verweist, welches Versäumnis die vom Westen sabotierten Vereinbarungen im Minsk II-Prozess darstellen: »Merkel verdanken wir die Abkommen Minsk I und Minsk II, die für den Donbass eine gewisse Selbstständigkeit im Rahmen ukrainischer Staatshoheit vorsah, ähnlich wie etwa in Spanien für das Baskenland. Ich glaube, dass Merkel angesichts ihrer Erfahrungen (…) den Ernst der Lage schon viel früher durchschaut hatte.« Er betont, dass es einen Frieden in Europa nur mit und nicht gegen Russland gibt. Abschließend zitiert er Willy Brandt: »Außenpolitik ist Generalstabsarbeit am Frieden.« Dem ist nichts hinzuzufügen.
Sandra Kostner, Stefan Luft (Hrsg.): Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht. Frankfurt 2023, 352 S., 24 €.