Es war eine fast alttestamentarische Klage, es waren prophetische Worte, die Abbé André Payon, Pfarrer der Gemeinden La-Celle-Saint-Avant, Draché und Maillé, 1944/45 als Augenzeuge des Massakers niederschrieb, seinen existentiellen Schrecken mit Worten bändigend:
»Der kleine Marktflecken Maillé, das sind Ruinen, unerklärliche Ruinen. Sie werden nicht für immer traurig in den verhangenen Novemberhimmel ragen, die Menschen werden das Dorf wiederaufbauen. Aber der Friedhof dort oben im Westen, am Abhang des Hügels gelegen, der sich hinter dem Ruinenfeld erhebt, wird für alle Zeiten Zeugnis ablegen für die Barbarei der Deutschen. Er wird wieder und wieder von dem Drama des 25. August 1944 künden, als 124 Franzosen, wie bei einer Treibjagd umstellt, in einem entsetzlichen Blutbad umkamen, als 52 von 60 Wohnhäusern, in denen vielfach Leichen lagen, wie Fackeln brannten, als zu den Schrecken des Mords und der Feuersbrunst die Beschießung durch ein Geschütz hinzukam.« (»Maillé – Martyrium eines Dorfes«, zitiert nach der Übersetzung von Ingo Fellrath, Tours 2008).
Heute, 75 Jahre nach dem Verbrechen, ist Maillé wiederaufgebaut. Und der Friedhof des südlich von Paris nahe Tours und der regionalen Hauptstadt Orléans im Departement Indre-et-Loire gelegenen Dorfes gibt immer noch Zeugnis von deutscher Schande: Waffen-SS oder auch Wehrmachtseinheiten, Überlebende berichteten von »sehr jungen Männern«, hatten hier die 124 Menschen im Alter von drei Monaten bis 89 Jahren umgebracht. Blindwütig, wie im Blutrausch. Umstände und sogenannte Gründe sind bis heute ungeklärt oder umstritten. Abbé Payon legt Vergeltung nahe, eventuell für Taten, an denen niemand aus dem bäuerlichen Ort beteiligt war: Partisanen sollen am Vorabend in der Nähe einem deutschen Auto aufgelauert haben. Das Dorf musste es büßen.
Das Symbol für derartige Kriegsverbrechen in Frankreich ist aber Oradour sur Glane, und so kam es, dass Maillé fast vergessen wurde und bis heute unter zu geringer Achtung der eigenen Tragödie im eigenen Land und im Land der Täter leidet. Nicht der Sozialist François Mitterrand, sondern der Konservative Nicolas Sarkozy war der erste französische Staatspräsident, der des Massakers gedachte, nach 64 Jahren. Am 25. August 2008 weihte er eine kleine Gedenkstätte ein und sprach von einem »moralischen Fehler«, den Frankreich begangen habe, »indem es gegenüber dem Schmerz der Überlebenden teilnahmslos blieb«.
Ein wesentlicher Grund für die verdrängte Erinnerung in Frankreich ist auch der Zeitpunkt des Massakers. An eben diesem 25. August 1944 wurde Paris von dem deutschen Kommandanten Dietrich von Choltitz an die Résistance und das französische Militär übergeben. Auf dem Eiffelturm und dem Arc de Triomphe wehte wieder die Trikolore. Einen Tag später inszenierte sich der aus Algerien nach Frankreich zurückgekehrte spätere Regierungschef de Gaulle mit einer Siegesparade über die Avenue des Champs-Élysées als Befreier. Paris, ganz Frankreich feierte. Der landesweite Jubel über die Befreiung der Hauptstadt überflutete die Trauer in der Provinz.
Und in der Bundesrepublik Deutschland? 2008 hat sich Oberstaatsanwalt Ulrich Maaß, damals 62 Jahre alt, des Falls angenommen. Er leitete in Dortmund die »Schwerpunktstaatsanwaltschaft für NS-Verbrechen«. Zusammen mit zwei Kriminalisten reiste er nach Maillé, »zwecks in Augenschein- und Beweisaufnahme«, und »füllte die historische Leere schon einmal mit seiner persönlichen Demut« (Der Tagesspiegel, 11. August 2008). Zu einer Anklage kam es nicht. Der Leutnant der Reserve Gustav Schlüter, der den Befehl erteilt haben soll, war zwar 1952 wegen Beihilfe zum Mord in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden, durfte aber weiter unbehelligt in Hamburg leben, wo er 1965 starb.
Im Gespräch mit dem Tagesspiegel zog Maaß eine bittere Bilanz: »Und dann … gibt es noch eine Besonderheit der NS-Täter. Anders als andere Kriminelle begehen die meisten in der Bundesrepublik nie wieder ein Gewaltdelikt. Nie wieder geben sie Anlass, ihre Vergangenheit zu überprüfen. Eigentlich ist es ja unser gesellschaftliches Ziel, Kriminelle wieder zu resozialisieren. Aber genau das ist hier das Problem. Es ist hervorragend gelungen.« Und die »sehr jungen Männer« mit den Gewehren sind inzwischen sehr alte Männer, wenn sie überhaupt den Krieg überlebt haben.
25. August 2019. Aus Deutschland ist erstmals eine kleine Delegation zu der Gedenkfeier angereist, auf Einladung von Bernard Eliaume, dem Bürgermeister von Maillé, der auch 2008 den deutschen Oberstaatsanwalt empfangen und der das Vorwort zu der Broschüre des Abbé Payon geschrieben hat: Mitglieder des Vereins Gegen das Vergessen – Für Demokratie, der Internationalen katholischen Friedensbewegung pax christi und der Deutsch-Französischen Gesellschaft Cluny Hamburg. Sie legten Blumen nieder. Auch ein Vertreter der deutschen Botschaft war gekommen.
Am Tag nach der Gedenkfeier mit Reden, Kirchgang und der Totenklage mit dem Verlesen der Namen aller 124 Opfer sprachen Mitglieder der Delegation mit »Zeitzeugen«, mit Menschen um die 80 Jahre also, die als Kinder überlebt hatten, damals zwischen zwei und zehn Jahren alt, sowie mit Angehörigen aus der nächsten Generation: tränenreich, berührend, emotional fordernd, in großer Herzlichkeit. Nicht wenige der Französinnen und Franzosen hatten noch nie gegenüber Deutschen von ihren Erlebnissen und Erinnerungen gesprochen. Und bisher auch keine offizielle deutsche Delegation mit ihnen.
Die beiden Teilnehmer aus Hamburg, sie emeritierte Historikerin, er pensionierter Richter, legten einen Kranz nieder. Auf der Schleife stand, in Französisch und Deutsch:
A.F.A Deutsch-Französische Gesellschaft
Cluny de Hambourg Cluny Hamburg
fondée en 1947 1947 gegründet
Remords éternels Ewige Scham