»Die Reichen jubeln, die Armen leiden«, berichtete am 8. März 2013 der SPIEGEL über den damaligen Boom der US-Börse. »Die Wall Street schreibt täglich Rekorde, doch nicht alle können sich darüber freuen. Der Boom geht an den meisten Amerikanern vorbei. Das US-Spardiktat macht das nur schlimmer – die Kluft zwischen Arm und Reich wächst.« Diese Beschreibung gilt im Großen und Ganzen für alle Länder der ersten Welt, und an ihr hat sich bis heute nichts geändert. In Deutschland besitzen die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung circa 67 Prozent des gesamten vorhandenen Vermögens. Die unteren fünfzig Prozent besitzen etwa 2 Prozent. In der EU besitzt das reichste Prozent 22 Prozent des Vermögens, in den USA sind es 35 Prozent. Wir finden diese Grundform der Ungleichgeit in allen Gesellschaften. Dabei ist die begriffliche Trennung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit wichtig. Ungleichheit lässt sich statistisch objektiv beschreiben, eine Definition von Ungerechtigkeit, der alle zustimmen würden, gibt es so wenig wie von Gerechtigkeit. Seltsam ist dabei, dass man auf diesen Begriff, der in Bezug auf die sozioökonomischen Besitzverhältnisse nicht verbindlich definierbar ist, nicht verzichten kann.
Allein für die Sanierung von Straßen und Autobahnbrücken wären (Stand Mai 2024) in den kommenden 10 Jahren 600 Milliarden Euro nötig, was nur über Schulden zu finanzieren ist, sagen sowohl das arbeitgeberfreundliche Institut der deutschen Wirtschaft (IW) als auch das eher neukeynesianisch orientierte Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Kanzler und Finanzminister jedoch lehnen das ab. Die Brücken, Straßen und Bahngleise müssen weiter verrotten. Eine Reform der Pflegeversicherung, die auch aus Steuern finanziert werden müsste, ist nicht durchsetzbar. Das Bildungs- und das Gesundheitssystem sind chronisch unterfinanziert, die Wohnungsnot nimmt zu, genauso die Altersarmut und Kinderarmut, Kommunen können ihre öffentlichen Schwimmbäder nicht mehr finanzieren; die klimapolitischen Ziele werden regelmäßig verfehlt, weil für eine sinnvolle Politik die öffentliche Hand so wenig Geld hat wie für alles andere. »Wenn gefühlt jede zweite Rolltreppe in Deutschland kaputt ist, dann sagt das etwas«, meint sogar Stefan Schaible, Chef des Beratungskonzerns Roland Berger im SPIEGEL-Interview (23.04.2024) Man kann also von einem veritablen Staatsversagen sprechen.
Gleichzeitig fällt auf, dass die Klasse der wirklich Reichen und Superreichen steuerlich vom Staat nicht adäquat zu ihren Möglichkeiten herangezogen wird. Das Vermögen selbst wird gar nicht besteuert, Einkommen aus Vermögen mit nur 25 Prozent. Ein BMW-Aktionär, der im Jahr z.B. eine Milliarde Euro an Dividenden aus seinen Aktien verdient, gibt nur 250 Millionen Euro an die Allgemeinheit ab. Für viele Leute klingt das nach sehr viel, denn so viel würden sie in fünftausend Jahren nicht verdienen. Für Milliardäre allerdings ist es ein lächerlicher Betrag. Es gibt einige wenige Reiche, die selber sagen, dass sie zu wenig Steuern bezahlen. Aber es ist eben nur ihrem Empfinden nach so, denn Ungerechtigkeit ist eine subjektive Kategorie. Ein fundamentalistischer, der neoliberalen Sparpolitik verpflichteter Finanzminister Lindner empfindet ganz anders. Kenner der Geschichte aber fühlen sich durch ihn an Heinrich Brüning erinnert, der Deutschland 1932 mit seinem Sparkurs dem Rechtsextremismus auslieferte, während ein F.D. Roosevelt mit seinem New Deal (Schulden und Steuererhöhungen für die Reichen) die USA aus der Weltwirtschaftskrise rettete.
Bedenkt man allerdings, dass der Hauptzweck jeder Art und Form von Herrschaft von der Antike bis heute (mit der einzigen Ausnahme des gescheiterten Kommunismus-Versuchs in den gut 70 Jahren zwischen 1917 und 1990 in der Sowjetunion) Schutz und Bewahrung des Reichtums der Begüterten war und ist, dann relativiert sich der Vorwurf des Staatsversagens. Der Daseinszweck auch des modernen Staates, so lesen wir etwa bei Hobbes und Locke, bei Kant und Hegel, ist der Schutz des privaten Eigentums. Eigentum ist die Ermöglichung von Handlungsfreiheit. Wer irgendwie handelt, verfügt in der Regel über Dinge und über Menschen. Und dieses »Verfügen über« wird vom Bürgertum Freiheit genannt, wobei mehr Freiheit für den einen Menschen auf Kosten der Freiheit anderer geht. (Es gibt auch andere Verständnisse von Freiheit, etwa das von Karl Marx, in dem mehr Freiheit des einen auch mehr Freiheit des anderen bedeutet. Aber diese Möglichkeit ist heute den wenigsten bewusst.) Um über etwas oder jemanden verfügen zu können, bedarf es der Verfügungsgewalt darüber, und diese beruht letztlich immer auf Eigentum. Wer z. B. so viel Grund besitzt, dass er ihn allein nicht bearbeiten kann, braucht die Arbeitskraft anderer Menschen, die seinen Grund (als Sklaven, Leibeigene oder Lohnarbeiter) bearbeiten. Da ein Mensch sein Eigentum nicht allein schützen kann, und je größer es ist, umso weniger, braucht er die staatliche Gewalt und das von ihr gesetzte Recht, damit ihm sein Eigentum erhalten bleibt. Insofern sind Steuern eine nur scheinbar paradoxe Angelegenheit; zwar nimmt der Staat mit den Steuern den meisten Bürgern etwas weg, wodurch er seinem Daseinszweck zunächst zu widersprechen scheint. Allerdings braucht er zum Schutz des Eigentums der Bürger Polizei, Gerichte, eine Verwaltung usw., und die muss er finanzieren. Jeder, auch wenn er noch so reich ist, sieht also ein, dass er ein wenig abgeben muss, wenn sein Reichtum geschützt werden soll.
Der Philosoph Christian Neuhäuser schlägt in seinem Buch Reichtum als moralisches Problem (2018) vor, für Einkommen eine Obergrenze einzuführen und alles, was darüber liegt, mit 100 Prozent zu besteuern. Man kann dann darüber streiten, wo diese Obergrenze genau liegen soll. Als im antiken Athen Solon eine neue Verfassung ausarbeitete, in der es vor allem darum ging, für die Zukunft zu verhindern, dass Kleinbauern wegen ihrer Verschuldung bei Großgrundbesitzern in die »Schuldknechtschaft« fallen, d. h. faktisch zu Sklaven werden, riefen viele nach einer Bodenreform und Neuverteilung des Grundbesitzes. Solon kam dem Vorschlag nicht nach, führte aber tatsächlich eine Obergrenze für Grundbesitz ein, damit es über den ins Unendliche wachsenden Reichtum nicht doch wieder zur Versklavung der Kleinbauern kommen würde. Man muss sich also fragen, weshalb heutige Regierungen sich die Weisheit eines Solon nicht zum Vorbild nehmen und den Reichtum deckeln, um die krasse Armut am unteren Ende der Gesellschaft zu lindern. Auch die belgisch-niederländische Philosophin Ingrid Robeyns fordert in ihrem im April 2024 erschienen Buch Limitarismus. Warum Reichtum begrenzt werden muss dringend eine Obergrenze für privaten Reichtum. Die effektive Begrenzung des Reichtums hätte neben der Beschränkung undemokratischer politischer Macht der wenigen Reichen vor allem den Vorteil, dass der Staat dann endlich genug Geld hätte, um zum Nutzen der breiten Bevölkerung die Probleme zu lösen, an denen er immer öfter und nachhaltiger scheitert. Im öffentlichen Diskurs gelten solche Überlegungen, die mit Kommunismus und einer echt egalitären Gesellschaft noch gar nichts zu tun haben, heute schon als linksextrem. Denn auch die Medien sind, ohne dass ihnen das bewusst wird, längst vom Neoliberalismus vereinnahmt und kollektiv nach rechts gerückt. Das Argument gegen eine höhere Besteuerung des Reichtums lautet, dass das zur Kapitalflucht und damit zu noch weniger Steuern führen würde, denn zwischen Staaten herrsche (dummerweise) eine steuerpolitische Konkurrenz.
Ein kaum bekanntes Gedankenexperiment stellt für eine Gesellschaft das geringste Einkommen und das höchste Einkommen gegenüber und fragt, wie hoch die Spreizung zwischen arm und reich sein darf. Soll am reichen Ende das Zehnfache des niedrigsten Einkommens verdient werden, das Zwanzigfache, das Hundertfache oder das Tausendfache? Nicht nur Liberale wollen mit solchem Denken nichts zu tun haben, auch sozialdemokratische oder grüne Parteien und Regierungen wollen an der Ungleichverteilung nichts ändern. Der Ausdruck »soziale Gerechtigkeit« steht zwar in allen Parteiprogrammen, er ist aber längst zu einer wohlfeilen Floskel geworden, die in jedem Wahlkampf plakatiert und in jeder Talkshow nach Belieben in die Runde geworfen werden kann. Freiheit gehört nicht nur den Reichen ist der Titel eines bekannten Buches von Lisa Herzog (2013). Aber sie irrt, denn Freiheit ist in der kapitalistisch-marktkonformen Demokratie eine direkt an Geld gekoppelte Variable. Je reicher man ist, umso freier ist man. Was Lisa Herzog meint, ist: Freiheit sollte nicht nur den Reichen gehören. Aber dieser Appell trifft in der Politik, auch in der Demokratie auf taube Ohren. Denn Politik ist vor allem anderen der Schutz des Reichtums, auch und gerade in der Demokratie.
In seinem Journal of the Constitutional Convention von 1787, in dem er über die Verhandlungen im Verfassungskonvent in Philadelphia berichtet, schreibt James Madison: »Wenn in England heute die Wahlen allen Bevölkerungsschichten offen stünden, wäre das Eigentum der Grundbesitzer in Gefahr. Sofort würde eine gesetzlich erwirkte Bodenreform in Kraft treten. Wenn diese Einschätzung stimmt, sollte also unsere Regierungsform eine dauerhafte Absicherung der Interessen der Grundbesitzer gegen mögliche Innovationen sein. (…) Die Regierungsform muss so eingerichtet sein, dass die Minderheit der Begüterten gegen die Mehrheit geschützt wird.« Genau so wurde es dann gemacht, und das ist die Grundlage der demokratischen US-Verfassung bis heute. Auch das Grundgesetzt schützt (in Artikel 14) Eigentum und Erbrecht, und setzt ganz vage ohne jede Verbindlichkeit hinzu: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.« Was das »Wohl der Allgemeinheit« ist, bleibt der Fantasie eines jeden einzelnen überlassen.
Im Zuge der Entstehung der modernen Demokratie vom Ende des 18. Jahrhunderts an (Amerika, Frankreich, England) war das Wahlrecht immer an Eigentum (z. B. an eine bestimmte Höhe bezahlter Steuern oder an Immobilienbesitz) gebunden. Erst nach dem 1. Weltkrieg wurde diese Einschränkung aufgehoben. Der Wohlstand begann, ein wenig nach unten durchzusickern und die Angst der Reichen, dass die Massen ihr Wahlrecht zu Enteignungszwecken einsetzen könnten, nahm ab. Die Hoffnung von Linken, dass auf demokratischem Wege, d. h. über Wahlen und Regierungsbeteiligung ein signifikanter Eingriff in das bürgerliche Eigentum und damit in die ungleiche Vermögensverteilung möglich sei, erwies sich als schreckliche Illusion. Am Reichtum nämlich findet die vermeintlich immer weiter fortschreitende Demokratisierung ihre absolute und unüberwindliche Grenze. »Die Ironie der Weltgeschichte stellt alles auf den Kopf«, schrieb Friedrich Engels 1895. »Wir, die ›Revolutionäre‹, die ›Umstürzler‹, wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz.« Hundert Jahre später bestand die Ironie der Weltgeschichte darin, dass sich ausgerechnet die Sozialdemokratie (unter Blair, Clinton und Schröder) vom Neoliberalismus kapern ließ und eine Reduzierung des Sozialstaats ins Werk setzte, die eine massive Umverteilung von unten nach oben bedeutete. Links ist heute, wer eine etwas spürbarere Erhöhung des Mindestlohns verlangt, linksextrem ist, wer höhere Steuern für die Reichen fordert.
Ein Gemeinwesen und ein Gemeinsinn sind bei der bestehenden exzessiven Ungleichheit ontologisch nicht möglich. Und genau diese Spaltung übersetzt sich auf ideologischen Umwegen in weitere Spaltungen und eine Desintegration der Gesellschaft, die immer wieder von vielen Politikern lauthals beklagt werden, von denen sie aber nicht wahrhaben wollen, dass sie selber sie zu verantworten haben. Es ist kein Wunder, dass immer mehr Menschen von einer Politik der »demokratischen Parteien«, die wegen fehlender Haushaltsmittel keine Probleme mehr lösen können, frustriert sind. Diese »demokratischen Parteien« sind die Ursache und nicht Teil der Lösung des Problems, da sie mit ihrer neoliberalen Austeritätspolitik den exzessiven Reichtum schützen und damit die Demokratie den rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien ausliefern. Gerade von diesen haben die Reichen und Superreichen absolut nichts zu befürchten. (Deshalb beteiligen sich nicht wenige aus dieser Klasse kräftig an der Finanzierung des Rechtsextremismus.)
Dass die Demokratie in der Krise sei, pfeifen heute täglich alle Spatzen von allen Dächern. Krise bedeutet im Bereich der Medizin eine plötzlich eintretende Phase, in der sich entscheidet, ob der Organismus gesundet oder stirbt. Wie eine Gesundung der Demokratie heute aussehen könnte, vermag sich niemand vorzustellen. Von Konservativen, Grünen, Liberalen und Sozialdemokraten ist nichts zu erwarten. Ob die wachsenden Erfolge der autoritären Rechtspopulisten schon den Tod der Demokratie bedeuten, ob ein neuer Faschismus vor der Tür steht, weiß man ebenso wenig. Es gibt ja noch Reste einer Zivilgesellschaft. Ein in Frankreich regierender RN, eine Kanzlerin Alice Weidel implizieren ja nicht gleich ein Verbot der anderen Parteien und die Einrichtung von Lagern. Solche werden für Migranten ohnehin von den »demokratischen Parteien« an den Außengrenzen der EU betrieben und finanziert. Vielleicht ist die Demokratie also nicht in der Krise, sondern eher im Koma. Die vegetativen (d.h. formalen) Funktionen (Mehrparteiensystem, Wahlen, legislative und exekutive Abläufe, Regierungswechsel) sind noch vorhanden, aber auf genuin und substantiell demokratische Inhalte (Menschenrechte und Lebensqualität für alle, Würde, Universalismus) ist der Patient nicht mehr ansprechbar. Er reagiert nicht mehr darauf. Leere Floskeln und hohle Phrasen sind alles, was er von sich gibt. Dieses Wachkoma der Demokratie kann sehr lange dauern – eine kommunistische oder wenigstens echt sozialistische Bewegung, die sie wie der Prinz im Märchen Schneewittchen daraus erlösen könnte, ist weit und breit nicht in Sicht. Dem exzessiven Reichtum kommt das überaus gelegen. Die Börse boomt weiterhin.