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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Reichsverweser Horthy in Budapest

Ein­hun­dert Jah­re ist es her, da erleb­te die Stadt Buda­pest eine gro­ße Straf­pre­digt: Schwer ver­sün­digt habe sie sich, die treu­lo­se Stadt, da sie ihre christ­lich-natio­na­len Wer­te ver­riet und sich in rote Lum­pen hüll­te. Er, der die­se Stand­pau­ke hielt, war der Kon­ter­ad­mi­ral Miklós Hor­thy, ein­sti­ger k. u. k. Flü­gel­ad­ju­tant des Kai­sers Franz-Joseph, gera­de erst fei­er­lich in Buda­pest ein­ge­zo­gen, um die gott­ge­woll­te Ord­nung wie­der­her­zu­stel­len. Für knapp ein Vier­tel­jahr­hun­dert blieb er dann Staats­ober­haupt einer »Mon­ar­chie ohne König«. Den Lebens­abend jedoch muss­te er im Exil in Por­tu­gal ver­brin­gen, weil er mit dem Teu­fel (Adolf H.) pak­tiert hatte.

War­um soll man heu­te an Hor­thy erin­nern? Weil er dank ein­schlä­gi­ger Bemü­hun­gen der Orbán-Regie­rung dort, wo er 1919 ein­zog, gei­stig wie­der ganz prä­sent ist. Das lässt sich nicht zuletzt dar­an able­sen, wie bestimm­te Denk­mä­ler umgrup­piert wer­den: Ein gigan­ti­sches Monu­ment aus der Hor­thy-Zeit wird nahe am Buda­pe­ster Par­la­ment als Remake neu auf­ge­baut, wäh­rend die klei­ne beschei­de­ne Skulp­tur des Reform­kom­mu­ni­sten Imre Nagy wei­chen musste.

Hor­thys Rat­ge­ber wähl­ten für sei­nen Ein­zug in die Haupt­stadt bewusst den 16. Novem­ber­tag. Genau ein Jahr zuvor, am 16. Novem­ber 1918 hat­te näm­lich der erste demo­kra­ti­sche Regie­rungs­chef nach dem Zer­fall der Habs­bur­ger-Mon­ar­chie, der libe­ra­le Graf Káro­lyi, die »Unga­ri­sche Volks­re­pu­blik« aus­ge­ru­fen. Sie schei­ter­te an den For­de­run­gen der Sie­ger­mäch­te, der Entente, und wur­de nach vier Mona­ten abge­löst von der Ungar­län­di­schen Räte­re­pu­blik. »Was wir vom Westen nicht erhiel­ten, das wol­len wir aus dem Osten bekom­men«, sag­te deren Reprä­sen­tant Gar­bai und mein­te, mit Hil­fe von Sowjet-Russ­land könn­te Räte-Ungarn der Entente Paro­li bie­ten. Das Kal­kül vie­ler unga­ri­scher Sozi­al­de­mo­kra­ten wie Sán­dor Gar­bai war Fol­gen­des: Die an Ungarn gren­zen­de Ukrai­ne sah die Rote Armee Russ­lands im Vor­marsch, eine Ver­ei­ni­gung mit unga­ri­schen Streit­kräf­ten erschien mög­lich, und die Entente-Mäch­te wür­den sich aus Angst vor dem roten Bazil­lus nach­gie­big zeigen.

Die Regie­rung Gar­bai-Kun initi­ier­te übri­gens in kur­zer Zeit ein beacht­li­ches sozia­les Pro­gramm und konn­te eine mili­tä­risch anfangs erfolg­rei­che rote Armee aus Frei­wil­li­gen auf­bau­en. Letzt­lich sieg­te die Über­macht der Feind­streit­kräf­te (der Lebens­mit­tel­man­gel tat ein Übri­ges), und der Revo­lu­tio­nä­re Regie­rungs­rat über­gab die Geschäf­te, in Abspra­che mit dem Zen­tra­len Arbei­ter­rat, an ein Entente-geneh­mes Nach­fol­ge­ka­bi­nett. Anfang August 1919 zog die rumä­ni­sche Armee in Buda­pest ein. Und mit den roten Pla­ka­ten und Losun­gen ver­schwan­den auch die sozia­len Errun­gen­schaf­ten und ihre Weg­be­rei­ter. Detache­ments, Son­der­kom­man­dos aus ehe­ma­li­gen k. u. k. Offi­zie­ren wüte­ten ohne Erbar­men gegen Juden und Kommunisten.

Wäh­rend die Räte­re­gie­rung noch gegen die Inter­ven­ti­ons­trup­pen von Nor­den und Osten kämpf­te, hat­te sich im Som­mer bei Sze­ged ein Gegen­ka­bi­nett gebil­det, das mit Dul­dung der Entente eine anti­bol­sche­wi­sti­sche Natio­nal­ar­mee auf­bau­te. Befehls­ha­ber war Admi­ral Hor­thy, auch der »unga­ri­sche Kolt­schak« genannt. Er wur­de der star­ke Mann, der schließ­lich in Ver­hand­lun­gen mit Bri­ten und Fran­zo­sen den Abzug der rumä­ni­schen Trup­pen aus der Haupt­stadt erreichte.

Deren Ober­kom­man­do als Besat­zer hat­te bis zum 11. Novem­ber – ärger­li­cher­wei­se ohne einen Fil­lér Bezah­lung – im fei­nen Hotel Gel­lért resi­diert. Der Hotel­di­rek­tor schick­te den Abzie­hen­den einen bös-iro­ni­schen Brief hin­ter­her, den die Buda­pe­ster Zei­tun­gen abdruck­ten. Bald folg­te schon die näch­ste Ein­quar­tie­rung, denn Offi­zie­re der neu­en Natio­nal­ar­mee requi­rier­ten als Vor­aus­kom­man­do für sich und für Hor­thy samt Fami­lie das gesam­te Hotel. Dann traf mit einem Son­der­zug aus Sió­fok der Admi­ral per­sön­lich am Stadt­rand ein. Sym­bol­träch­tig auf ein wei­ßes Pferd stei­gend – wie einst der legen­dä­re Fürst Árpád –, ritt er die mei­len­lan­ge Béla-Bar­tok-Allee hin zur Donau, um dort sei­ne Rede an die sün­di­ge Stadt zu halten.

»Unters Got­tes­ge­richt rufe ich hier am Donau­ufer die Haupt­stadt Ungarns: Die­se Stadt ver­leug­ne­te ihre tau­send­jäh­ri­ge Geschich­te, die­se Stadt trat ihre Kro­ne und die Natio­nal­far­ben in den Schmutz und klei­de­te sich in rote Lum­pen … und sie ver­schleu­der­te bin­nen eines Jah­res alle ihre höch­sten Wer­te.« Bevor hier die Rede zur Stra­fe und Bekeh­rung über­lei­te­te, hat­te der Reden­schrei­ber noch einen rüh­rend-kit­schi­gen Ein­fall. Hor­thy las vor: »Doch je mehr wir uns [der Stadt] näher­ten, umso mehr schmolz von unse­ren Her­zen das Eis, und wir sind bereit zu ver­zei­hen.« (Saly Noé­mi: »Gel­lert 100«, 2018, S. 65-68; eige­ne Über­set­zung). In der Pra­xis war es damit nicht weit her.

Die Kel­ler des Gel­lért füll­ten sich als­bald mit Ver­haf­te­ten und Gefol­ter­ten. Der urteils­fä­hi­ge Erfor­scher jener Zeit, Béla Bodó, stell­te jüngst fest, dass die mei­sten Opfer des wei­ßen Ter­rors gar kei­ne Rol­le in der Räte­re­pu­blik gespielt hat­ten. Und: »Die wei­ßen Mili­zen … fol­ter­ten ihre Opfer regel­mä­ßig zu Tode. Die Wei­ßen waren die ver­sier­te­ren Mör­der und Fol­te­rer; sogar die Ver­bre­chen der noto­risch­sten roten Kil­ler ver­blas­sen im Ver­gleich zur Grau­sam­keit der wei­ßen Kom­man­deu­re.« (Bodó, Béla: »Actio und Reac­tio. Roter und wei­ßer Ter­ror in Ungarn …« in: »Die Unga­ri­sche Räte­re­pu­blik 1919«, hrsg. von C. Kol­ler und M. Mar­schik, Wien 2018, S. 82, S. 80)

Der Hass der Herr­schen­den nach dem Fall der Räte­re­pu­blik rich­te­te sich nicht nur gegen die Lin­ken der Räte­macht, der Staats­macht vom März 1919, son­dern eben­so gegen die Libe­ra­len der bür­ger­li­chen Repu­blik (der vom Novem­ber 1918). Die Stoß­rich­tung war sowohl demo­kra­tie­feind­lich als auch anti­kom­mu­ni­stisch, das Ide­al war der Stän­de­staat. Dar­um hieß und heißt die Inschrift des erwähn­ten Rie­sen-Denk­mals denn auch »den Mär­ty­rern der Nati­on 1918 – 1919«, und sie zählt die Namen von rund fünf­hun­dert Toten aus der Zeit der bei­den Revo­lu­tio­nen (lies: des roten Ter­rors) auf. Doch schon vor der Ent­hül­lung 1934 war gefragt wor­den, wes­halb die unzäh­li­gen Opfer des wei­ßen Ter­rors aus­ge­spart blie­ben. »Sol­che ken­nen wir nicht«, lau­te­te die Ant­wort aus dem Kreis der Initia­to­ren des Monu­ments. (Böd­ök, Ger­ge­ly: »Nem­zet vértanúinak emlék­mü­ve« [Denk­mal der Mär­ty­rer der Nati­on], Maga­zin RUBICON Nr. 4/​1919, S. 41, Buda­pest 1919) Auch die heu­te Regie­ren­den des Fidé­sz-Regimes wären zu einer sol­chen Ant­wort durch­aus fähig.

Chri­sti­an Stap­pen­beck ist Kir­chen- und Zeit­hi­sto­ri­ker sowie Sprach­be­ob­ach­ter. Er ver­brach­te die eine Hälf­te sei­nes Lebens in der DDR, die ande­re in der BRD; war Hilfs­ar­bei­ter, Ver­käu­fer, Redak­teur, wis­sen­schaft­li­cher Assi­stent, Fach­be­ra­ter in Lohn­sa­chen, Autor für neu­es deutsch­land, jun­ge Welt und Wei­ßen­seer Blät­ter. Buch­pu­bli­ka­ti­on 2016 über aller­hand Sprach­dumm­hei­ten: »Kurio­se Fun­de einer Wort­schatz­su­che« (zusam­men mit Frank-Rai­ner Schu­rich; sie­he Ossietzky 8/​2016). Gegen­wär­tig haupt­säch­lich als Lei­ter einer Lohn­steu­er­be­ra­tungs­stel­le tätig.