Einhundert Jahre ist es her, da erlebte die Stadt Budapest eine große Strafpredigt: Schwer versündigt habe sie sich, die treulose Stadt, da sie ihre christlich-nationalen Werte verriet und sich in rote Lumpen hüllte. Er, der diese Standpauke hielt, war der Konteradmiral Miklós Horthy, einstiger k. u. k. Flügeladjutant des Kaisers Franz-Joseph, gerade erst feierlich in Budapest eingezogen, um die gottgewollte Ordnung wiederherzustellen. Für knapp ein Vierteljahrhundert blieb er dann Staatsoberhaupt einer »Monarchie ohne König«. Den Lebensabend jedoch musste er im Exil in Portugal verbringen, weil er mit dem Teufel (Adolf H.) paktiert hatte.
Warum soll man heute an Horthy erinnern? Weil er dank einschlägiger Bemühungen der Orbán-Regierung dort, wo er 1919 einzog, geistig wieder ganz präsent ist. Das lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, wie bestimmte Denkmäler umgruppiert werden: Ein gigantisches Monument aus der Horthy-Zeit wird nahe am Budapester Parlament als Remake neu aufgebaut, während die kleine bescheidene Skulptur des Reformkommunisten Imre Nagy weichen musste.
Horthys Ratgeber wählten für seinen Einzug in die Hauptstadt bewusst den 16. Novembertag. Genau ein Jahr zuvor, am 16. November 1918 hatte nämlich der erste demokratische Regierungschef nach dem Zerfall der Habsburger-Monarchie, der liberale Graf Károlyi, die »Ungarische Volksrepublik« ausgerufen. Sie scheiterte an den Forderungen der Siegermächte, der Entente, und wurde nach vier Monaten abgelöst von der Ungarländischen Räterepublik. »Was wir vom Westen nicht erhielten, das wollen wir aus dem Osten bekommen«, sagte deren Repräsentant Garbai und meinte, mit Hilfe von Sowjet-Russland könnte Räte-Ungarn der Entente Paroli bieten. Das Kalkül vieler ungarischer Sozialdemokraten wie Sándor Garbai war Folgendes: Die an Ungarn grenzende Ukraine sah die Rote Armee Russlands im Vormarsch, eine Vereinigung mit ungarischen Streitkräften erschien möglich, und die Entente-Mächte würden sich aus Angst vor dem roten Bazillus nachgiebig zeigen.
Die Regierung Garbai-Kun initiierte übrigens in kurzer Zeit ein beachtliches soziales Programm und konnte eine militärisch anfangs erfolgreiche rote Armee aus Freiwilligen aufbauen. Letztlich siegte die Übermacht der Feindstreitkräfte (der Lebensmittelmangel tat ein Übriges), und der Revolutionäre Regierungsrat übergab die Geschäfte, in Absprache mit dem Zentralen Arbeiterrat, an ein Entente-genehmes Nachfolgekabinett. Anfang August 1919 zog die rumänische Armee in Budapest ein. Und mit den roten Plakaten und Losungen verschwanden auch die sozialen Errungenschaften und ihre Wegbereiter. Detachements, Sonderkommandos aus ehemaligen k. u. k. Offizieren wüteten ohne Erbarmen gegen Juden und Kommunisten.
Während die Räteregierung noch gegen die Interventionstruppen von Norden und Osten kämpfte, hatte sich im Sommer bei Szeged ein Gegenkabinett gebildet, das mit Duldung der Entente eine antibolschewistische Nationalarmee aufbaute. Befehlshaber war Admiral Horthy, auch der »ungarische Koltschak« genannt. Er wurde der starke Mann, der schließlich in Verhandlungen mit Briten und Franzosen den Abzug der rumänischen Truppen aus der Hauptstadt erreichte.
Deren Oberkommando als Besatzer hatte bis zum 11. November – ärgerlicherweise ohne einen Fillér Bezahlung – im feinen Hotel Gellért residiert. Der Hoteldirektor schickte den Abziehenden einen bös-ironischen Brief hinterher, den die Budapester Zeitungen abdruckten. Bald folgte schon die nächste Einquartierung, denn Offiziere der neuen Nationalarmee requirierten als Vorauskommando für sich und für Horthy samt Familie das gesamte Hotel. Dann traf mit einem Sonderzug aus Siófok der Admiral persönlich am Stadtrand ein. Symbolträchtig auf ein weißes Pferd steigend – wie einst der legendäre Fürst Árpád –, ritt er die meilenlange Béla-Bartok-Allee hin zur Donau, um dort seine Rede an die sündige Stadt zu halten.
»Unters Gottesgericht rufe ich hier am Donauufer die Hauptstadt Ungarns: Diese Stadt verleugnete ihre tausendjährige Geschichte, diese Stadt trat ihre Krone und die Nationalfarben in den Schmutz und kleidete sich in rote Lumpen … und sie verschleuderte binnen eines Jahres alle ihre höchsten Werte.« Bevor hier die Rede zur Strafe und Bekehrung überleitete, hatte der Redenschreiber noch einen rührend-kitschigen Einfall. Horthy las vor: »Doch je mehr wir uns [der Stadt] näherten, umso mehr schmolz von unseren Herzen das Eis, und wir sind bereit zu verzeihen.« (Saly Noémi: »Gellert 100«, 2018, S. 65-68; eigene Übersetzung). In der Praxis war es damit nicht weit her.
Die Keller des Gellért füllten sich alsbald mit Verhafteten und Gefolterten. Der urteilsfähige Erforscher jener Zeit, Béla Bodó, stellte jüngst fest, dass die meisten Opfer des weißen Terrors gar keine Rolle in der Räterepublik gespielt hatten. Und: »Die weißen Milizen … folterten ihre Opfer regelmäßig zu Tode. Die Weißen waren die versierteren Mörder und Folterer; sogar die Verbrechen der notorischsten roten Killer verblassen im Vergleich zur Grausamkeit der weißen Kommandeure.« (Bodó, Béla: »Actio und Reactio. Roter und weißer Terror in Ungarn …« in: »Die Ungarische Räterepublik 1919«, hrsg. von C. Koller und M. Marschik, Wien 2018, S. 82, S. 80)
Der Hass der Herrschenden nach dem Fall der Räterepublik richtete sich nicht nur gegen die Linken der Rätemacht, der Staatsmacht vom März 1919, sondern ebenso gegen die Liberalen der bürgerlichen Republik (der vom November 1918). Die Stoßrichtung war sowohl demokratiefeindlich als auch antikommunistisch, das Ideal war der Ständestaat. Darum hieß und heißt die Inschrift des erwähnten Riesen-Denkmals denn auch »den Märtyrern der Nation 1918 – 1919«, und sie zählt die Namen von rund fünfhundert Toten aus der Zeit der beiden Revolutionen (lies: des roten Terrors) auf. Doch schon vor der Enthüllung 1934 war gefragt worden, weshalb die unzähligen Opfer des weißen Terrors ausgespart blieben. »Solche kennen wir nicht«, lautete die Antwort aus dem Kreis der Initiatoren des Monuments. (Bödök, Gergely: »Nemzet vértanúinak emlékmüve« [Denkmal der Märtyrer der Nation], Magazin RUBICON Nr. 4/1919, S. 41, Budapest 1919) Auch die heute Regierenden des Fidész-Regimes wären zu einer solchen Antwort durchaus fähig.
Christian Stappenbeck ist Kirchen- und Zeithistoriker sowie Sprachbeobachter. Er verbrachte die eine Hälfte seines Lebens in der DDR, die andere in der BRD; war Hilfsarbeiter, Verkäufer, Redakteur, wissenschaftlicher Assistent, Fachberater in Lohnsachen, Autor für neues deutschland, junge Welt und Weißenseer Blätter. Buchpublikation 2016 über allerhand Sprachdummheiten: »Kuriose Funde einer Wortschatzsuche« (zusammen mit Frank-Rainer Schurich; siehe Ossietzky 8/2016). Gegenwärtig hauptsächlich als Leiter einer Lohnsteuerberatungsstelle tätig.