I.
Im politischen Kampf verlieren Worte an Bedeutung und wechseln die Besitzer. In meiner Jugend war »Antisemitismus« ein Kampfbegriff gegen arische »Herrenmenschen«, die Leute, weil (nicht wenn!) sie Juden waren, deklassiert hatten. Heute ist »Antisemitismus« zum Rufmord auch gegen proletarische Semiten geworden, die für Frieden im Nahen Osten eintreten.
Anders verhält es sich mit dem Wort »rechts«, das noch nie präzise war. Abgeleitet aus der französischen Nationalversammlung 1791 subsumiert es ein programmatisches Konglomerat einstiger Monarchisten, dem auch scharfe Kapitalismuskritiker wie Balzac nahestanden. Der Bindungs- wie Begriffsgehalt wusch sich in den letzten 230 Jahren dann bis in die Wahllosigkeit aus. So gilt die US-Partei der »Republikaner« heute als angestammt rechts, obwohl ihr Präsident Lincoln für den Kampf gegen Sklaverei ermordet worden ist. Heute streiten Rechtsextrem-Etikettierte für Frieden mit Russland und Links-etikettierte für Rheinmetall-Profite.
Post68er Rosagrüne hatten mit Joschka Fischer ihre facettenreichen Konvertitenerfahrungen aus der Friedensbewegung trickreich bei Nato-Medien investiert. Grünen Wortverdreher/innen gelang es, mit Metaphern »gegen rechts« aus der Nachkriegsepoche 1999 Belgrad zu bombardieren und heute für Granaten an die Asow-Milizen (mit SS-Runen und Hakenkreuzen) und für Merkava-Panzer an Netanjahus Faschistenminister Smotrich und Ben-Gvir einzutreten. Derweil wurden sie zu TV-Stars des nachrichtendienstlich-medialen Komplexes*, der uns in einen atomaren Weltkrieg talken will.
Sinnverdrehungen sind auch verlorene Schlachten. Wer hat in der politischen Praxis nicht schon leidvoll die Untauglichkeit des Begriffspaares »links und rechts« erfahren müssen? Das von uns hochgesungene »Drum links, zwei, drei« wird heute am Infostand besser ausgespart. Weil »kleine Leute« bei »links« sonst nur ihre Portemonnaies festhalten? Wer sich schon mal darüber gestritten hat, ob die Grünen weiter rechts sind als die AfD, spürt den Bedeutungsverlust der Rechts-Links-Sitzordnung innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte. Außerdem: der massenmörderische Antikommunismus fand in den Verfassungsschutzberichten unter »gesichert rechtsextrem« noch nie Platz. Und im Antikommunismus waren sich ARD, BND und AfD ja meistens einig.
»Antikommunismus« betrifft dabei keineswegs nur den Umgang mit Kommunisten. Er schießt auf alle, die sich organisiert gegen die Entwertung von Lebens- und Arbeitskraft wehren und der Atomisierung dabei neue kulturelle Assoziationsformen entgegenstemmen. Antikommunismus gehört somit auch als ideologische Geschäftsgrundlage für alle Raketendeals seit 1945 zur Innenarchitektur des Imperialismus.
II.
Reinhard Kühnl von der Marburger (Abendroth-)Schule hatte Herrschaftsformen des Faschismus noch als »bürgerliche« bezeichnet. Max Horkheimer von der Frankfurter (Adorno-)Schule hatte sich noch verbeten, über Faschismus zu reden, ohne den Kapitalismus darin zu benennen. Zusätzlich hatte Horkheimer eine soziale Tiefenpsychologie des Antikommunismus eingefordert und an Wilhelm Reichs »Massenpsychologie des Faschismus« angeknüpft: Welche Urängste gegen sich organisierende soziale Emanzipation hatte der alte Faschismus einst so wirkmächtig angetriggert?
Wie irreführend bereits in den Neunzigern die Bezeichnung »rechts« für bestimmte Sozialdemokraten geworden war, verdeutlicht beispielsweise der langjährige Vorsitzende der Frankfurter SPD, Fred Gebhardt, Freund von Willy Brandt und jahrzehntelanger Sprecher des rechten SPD-Kreises traditionalistischer Gewerkschafter (»Nied«). Ich war damals Sprecher der SPD-Linken (»Koko«). Als sich Ende der Achtziger eine Mittelgruppe (»Reformlinke«) in Frankfurts regierender SPD herauszuschälen begann, die im Wesentlichen mit Schröder und Blair für Privatisierung öffentlicher Leistungen und Einrichtungen eintrat, stimmten auf Parteitagen »Linke und Rechte« gemeinsam gegen diese neoliberalen Maßnahmen. Die »Reformlinken« gerieten in die Minderheit, ihr SPD-Oberbürgermeister Hauff trat zurück und ihre Frankfurter Rundschau diffamierte die neue Parteimehrheit als rechts-linkes »Hufeisen«. Aber dieses »Hufeisen« stritt dann gemeinsam 1993 sogar gegen Scharping, Lafontaine, Wieczorek und Eichel auf Parteitagen für das frühere, individuelle Asylrecht im Grundgesetz. Fred Gebhardt trat 1998 mit mir und 36 weiteren südhessischen Sozialdemokraten in die PDS über. Die »Rechte« in der SPD war zur Linken gegangen und die »Reformlinken« zum rechten Sargnagel für die SPD geworden.
III.
Als ich mit Patrik Baab, Wolfgang Gehrcke, Marianne Linke, Ulrike Guérot, Jenny Farrell, Klaus Hartmann, Uwe Steimle, Johannes Magel, Laura von Wimmersperg, Hannes Hofbauer und vielen anderen Linken kürzlich gegen das Compact-Verbot protestiert hatte – bei gellendem Schweigen des BSW –, hatten wir uns das nicht leicht gemacht. Wir wussten sowohl von Elsässers klugem Compact-Artikel über Auschwitz (wie er auch in jedem echt antifaschistischen Medium hätte stehen können), als auch vom »milden Licht«, in das Compact gelegentlich deutsche Kolonialherrschaft getaucht hatte.
Wir können weiterhin auf sinnentleerten Gleichsetzungen wie »rechts = antisemitisch« herumreiten – wissend, dass es im Bundestag aktuell keine zionistischere Fraktion gibt als die AfD. Viel eher wäre doch gegen die Weidel eine rote Linie gegen pauschalierenden »Antiarabismus« und »Islamfeindlichkeit« zu ziehen, um modernen Rassismus im Bundestag und in der Knesset anzugehen. Am TV-Abend der EU-Wahl fiel ausgerechnet Sahra Wagenknecht, die solcherlei Pogromstimmungen lange hatte selbst durchstehen müssen, im Elefanten-Chor mit Klingbeil über Weidel und AfD als Nazis her.
Das beleuchtet die neuen Schwierigkeiten bei alten Attributen: Höcke, Krah und Bystron agitieren – trotz ihres häufigen Zündelns mit altrechtem Vokabular – gegen Rheinmetall & BlackRock. Und sie wären auch die ersten »Nazis«, die für Frieden mit Russland werben. Die Kernfrage bei zerfransendem Gebrauch von »rechts und links« ist, ob diese Begriffe auf Dauer unbrauchbar geworden oder nur in der nächsten Zeit schwerer zu gebrauchen sind. Jedenfalls dient »gesichert rechtsextrem« gerade dem nachrichtendienstlich-medialen Komplex zur Kernspaltung einer außerparlamentarischen Bewegung für Frieden mit Russland.
Mittlerweile hat sich das BSW in eine Zwickmühle laviert: Einerseits will Sahra Wagenknecht den »Frieden mit Russland« (auch Umfragen-bedingt und -bedienend, weil »Abrüstung« in Thüringen, Sachsen und Brandenburg, wo Landtagswahlen anstehen, für die Wählerschaft ein zentrales Thema ist) zur obersten Entscheidungskategorie bei Regierungsentscheidungen erheben. Andererseits schließt sie Gespräche (aber zum Glück nicht auch gemeinsame Parlamentsinitiativen) mit der ihr hier allernächsten Partei, der AfD, kategorisch aus. Erwartet das BSW für Kooperation nun etwa von der SPD, sich von Pistorius zu lösen? Von der FDP von Strack-Zimmermann? Von der CDU von BlackRock-Friedrich Merz?
Schon hat der nachrichtendienstlich-mediale Komplex diese logische Lücke ausgemacht und giftet: Wer, wie das BSW, die Putinliebe über die Liebe zur Thüringer Volkssolidarität stelle, mache Thüringen unregierbar. Und BSW-MP-Kandidatin Katja Wolf beeilt sich, in der ZEIT zu betonen, sie könne »nicht jeden Satz von Wagenknecht so unterschreiben«.
Wie wird es das BSW jetzt und bis zur Bundestagswahl halten? In den Landes- und Gemeindeparlamenten? Und auf der Straße? Wenn Konzernmedien für den Bürgerblock gegen die AfD trommeln und auf die Bequemlichkeit pochen, wieder in parlamentarischen »rechts-links«-Sitzordnungen des vorletzten Jahrhunderts Platz zu nehmen?
Sollten da nicht allmählich, statt »rechts«, präzisierendere Begriffe Verwendung finden, wie imperialistisch, staatsterroristisch, kapitalradikal, gewerkschaftsfeindlich und antikommunistisch? Der praktische Riesenvorteil wäre: Wir müssten uns von Konzernmedien vor Friedenskundgebungen keine »Brandmauern« mehr vorschreiben lassen, sondern könnten auch mit rechten Demokraten Antikriegs-Resolutionen aushandeln. Und: wir sollten viel mehr Gewerkschafter für den Frieden auf die Bühne zu holen. Denn der Kern des Antiimperialismus bleibt rot, also proletarisch!
Es mag wie eine abstrakte Schrulle erscheinen, immer wieder auf Gramsci oder Dimitroff und dessen engen Weggefährten, den italienischen Kommunistenführer Palmiro Togliatti, zu verweisen. Aber Geschichtskenntnis schützt gelegentlich! In Dimitrows Referat von 1935 spielten »rechts und links«, »fremdenfeindlich« und »nationalistisch« zur Klassencharakterisierung des »Faschismus an der Macht« schon darum eine untergeordnete Rolle, weil im Zentrum der breite Kampf gegen die terroristischste Diktatur der imperialistischsten Monopolgruppen, gegen den Nazi-Faschismus, stand.
Gramsci hatte gegen Krieg und Faschismus für einen neuen historischen Block geworben und Togliatti war sogar in die »nationaldemokratische Regierung« des faschistischen Großrats unter Marschall Badoglio eingetreten, um die Partisanenbewegung militärisch und politisch zu vereinheitlichen.
Den drei Komunistenführern ging es aber gleichzeitig auch kulturell gegen die Wirkmacht faschistischer Demagogie und wie darin nicht nur modische Traditionsfetzen reaktionärster Menschenbilder eingestrickt waren, sondern wie der Faschismus vorging, als er, laut Dimitroff, »spekulierte mit den besten Empfindungen der Massen, ihrem Gerechtigkeitsgefühl und mitunter sogar ihren revolutionären Traditionen«. (Dazu haben Braune einst rote Fahnen, Metaphern, Symbole, Begriffe und Lieder entkernt. Wie es heute Grüne tun).
Dimitrow: »Der Faschismus handelt im Interesse der extremen Imperialisten, aber vor den Massen tritt er unter der Maske des Beschützers der beleidigten Nation auf und appelliert an das gekränkte nationale Gefühl, wie zum Beispiel der deutsche Faschismus, der die Massen mit der Losung ›Gegen Versailles!‹ mit sich riss.« Und zwar zur »Liquidierung proletarischer Organisationen und der Überreste bürgerlicher Demokratie«.
Darauf, dass sich alle »ehrlichen Herzens zusammenfinden« gegen die Atomkriegsgefahr wird Oskar Lafontaine nicht müde, zu verweisen. Gleichwohl klingen dann seine Unterschiede zwischen AfD und BSW (zuletzt: Nachdenkseiten 12.8.24) oft wahltaktisch. Imperialismustheoretisch sticht sein Spaten nicht immer tief genug, reicht aber dafür, manche Axt beiseitezulegen, die an die Friedensbewegung gelegt ist.
Sahra Wagenknecht gehörte einst in der PDS und der Linken zu jenen, die eine Regierungsbeteiligung rundweg als lebensgefährliche Aufweichung von Positionen abgelehnt und gleichzeitig in außerparlamentarischen Bewegungen den Quell für parlamentarische Kraft gesehen hatte. Um jetzt aber zu einer breiteren Friedensbewegung zu gelangen, bedarf es neuer, scheuklappenärmerer Kommunikation, auch zwischen neurechts und altlinks. Dazu muss sich die AfD von der »Grundtorheit der Epoche, dem Antikommunismus« (so Gaulands Lieblingsdichter Thomas Mann) ebenso lösen, wie die Linke von hingeschnattertem Antinationalismus.
Alle, die es mit dem Grundgesetz in dessen 75. Bestehensjahr neu versuchen wollen, müssen miteinander verhandeln! Für Frieden und auch in Landesparlamenten. Nicht hinter verschlossenen Türen, sondern im Beisein alternativer Medien (wie Nachdenkseiten etc.). Das mag ja scheitern, wenn es um die Konkretion der Artikel 14, 15, 20 (Sozialstaatlichkeit und Gemeineigentum), Art. 26 (Angriffskriegsverbot) und Art. 5 (Eine Zensur findet nicht statt) geht. Aber vielleicht wäre so die Spaltung der Friedensbewegung und die seit Jahren nun magere Obergrenze von gesamtdeutsch 50 000 Teilnehmern zu überwinden und gegen die »imperialistischsten Teile des Finanzkapitals« (Dimitroff) und deren Lobbyisten in den Bundesregierungen stärker Opposition zu machen.
* Mehr zum »Nachrichtendienstlich-medialen Komplex« siehe: UZ 8.8.24 S. 13, Interview mit Erich Schmidt-Eenboom.