Was am 10. Januar 2024 ein Team investigativer Journalisten namens CORRECTIV unter der Überschrift »Neue Rechte: Geheimplan gegen Deutschland« auf seiner Homepage veröffentlichte und sich den Recherchen zufolge am 25. November 2023 in einem Hotel bei Potsdam zutrug, hat Politik und Gesellschaft gleichermaßen aufgeschreckt. An jenem Herbsttag zeigte sich nämlich, wie es in dem Text heißt, »was passieren kann, wenn sich rechtsextreme Ideengeber, Neonazis, hochrangige AfD-Politiker und finanzstarke Unterstützer der rechten Szene mischen«.
Schnell wurden Assoziationen erweckt an geheime Treffen Adolf Hitlers mit Wirtschaft und Großindustrie, bei denen es ebenfalls um finanzielle Unterstützung ging. Und dass der Tagungsort nur wenige Kilometer vom Wannsee entfernt lag, wo hochrangige NS-Vertreter 1942 in einer nach dem See benannten Konferenz die systematische Ermordung europäischer Juden vorbereiteten, war ein weiterer, erschreckender Aspekt, dies umso mehr, als Gesprächsinhalte bekannt wurden.
Wichtigstes Thema der Zusammenkunft war nämlich laut der Recherche neben dem Einsammeln von Geldspenden ein »Remigration« genannter Plan: »Millionen von Menschen sollen aufgrund rassistischer Kriterien aus Deutschland vertrieben werden können – egal, ob sie einen deutschen Pass haben oder nicht«, berichtet CORRECTIV. Laut dem Einladungsschreiben, das den Journalisten vorliegt, werde das grundlegende »Gesamtkonzept, im Sinne eines Masterplans, (…) ein Redner vorstellen, kein Geringerer als Martin Sellner«.
Als Folge dieser Geheimplan-Recherche gingen seit ihrer Veröffentlichung bundesweit Hunderttausende protestierend auf die Straße. Sie wehrten sich damit gegen das Ansinnen, die Demokratie abzuschaffen und die bundesdeutsche Gesellschaft nach völkisch-rassistischen und antipluralistischen Vorstellungen umzugestalten. Auch die Politik reagierte ungewöhnlich schnell. Bundesinnenministerin Nancy Faeser stellte Anfang Februar Maßnahmen vor, die unter anderem das Ziel haben sollen, die Finanzquellen rechtsextremistischer Netzwerke auszutrocknen, diese Netzwerke mit Vereinsverboten zu zerschlagen, die transnationalen Vernetzungen zu stören und den Hass im Internet zu bekämpfen. – Die wachsame Öffentlichkeit sollte im Auge behalten, ob und welche Taten den Ankündigungen folgen und welche Erfolge sie zeitigen.
Bei dem Stichwortgeber Sellner handelt es sich um einen rechtsextremen Aktivisten aus Österreich und das langjährige Gesicht der rechtsextremen Identitären Bewegung und damit um einen führenden Kopf der Neuen Rechten. Von ihm dürften die meisten Deutschen bis dato nichts gehört haben, ebenso wenig wie von der Identitären Bewegung. In den 2000er Jahren in Frankreich entstanden, mittlerweile im deutschsprachigen Raum am stärksten, hatte sie erste überregionale Schlagzeilen Anfang 2016 geliefert, als sie in Wien die Aufführung eines Theaterstückes von Elfriede Jelinek störte, dessen Darsteller vor allem Flüchtlinge aus Syrien waren. 20 Personen stürmten damals auf die Bühne, verspritzten künstliches Blut, und von der Tribüne regnete es Flugblätter mit der Parole »Multikulti tötet«.
Nachzulesen ist das in dem neuen Sachbuch Logik der Angst von Peter R. Neumann. Der in Würzburg geborene Neumann ist Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London und berät derzeit die Europäische Kommission in Sachen Extremismus. Neumanns Buch ist wohl eines der aktuellsten und besten zu diesem Thema, denn, so heißt es im Klappentext, »statt nur einzelne Gruppen zu beschreiben, legt er das Wesen des Rechtsextremismus und seine Logik frei. Ebendas, was all diese Gruppen verbindet, ob Alte oder Neue Rechte, Neoreaktionäre oder Identitäre, Reichsbürger oder Verschwörungstheoretiker, AfD oder Rassemblement National«, die Partei von Marine Le Pen in Frankreich.
Überall im Westen haben Rechtsextremisten in den vergangenen Jahren eine Blutspur hinterlassen, doch: Was ist überhaupt rechts? Darauf und auf Fragen wie: Was haben die unterschiedlichen Strömungen gemein? Wo kommen sie her? Woraus besteht die ideologische, ideengeschichtliche Klammer, die sie zusammenhält? gibt das Buch Antwort.
Für Neumann ist »Rechtsextremismus keine fest umrissene Ideologie, sondern die (extreme) Ausprägung einer politischen Denkrichtung«. Es ist der Versuch, »andere politische Ideen zugunsten einer anti-egalitären, identitären politischen Vision zu unterdrücken, als negatives Spiegelbild dessen, was als liberale Moderne gilt. Seine potenzielle Anziehungskraft beruht auf der Verunsicherung und den drängenden, teils existenziellen Ängsten, die diese hervorgerufen hat.«
Neumann verdeutlicht, dass es »unter westlichen Rechtsextremisten heutzutage ein größeres Spektrum an Ideen und Einstellungen als je zuvor gibt. Die sogenannte Incel-Szene definiert sich über ihre Feindschaft gegenüber Frauen. Aus Amerika ist die QAnon-Bewegung nach Europa herübergeschwappt. Durch die Corona-Pandemie sind Reichsbürger, sogenannte Selbstverwalter und Verschwörungstheoretiker in aller Munde.« (Incel ist ein Kofferwort für involuntary celibate, auf Deutsch »unfreiwillig sexuell enthaltsam«. QAnon-Anhänger gelten als Verschwörungstheoretiker mit rechtsextremem Hintergrund. K. N.)
Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Im ersten zeigt Neumann, »dass die wichtigsten rechten Ideen in den meisten Fällen durch ihre Gegnerschaft zu zentralen Ideen der liberalen Moderne entstanden sind«, dass ein tiefsitzender Pessimismus diese Weltsicht bestimmt. Im zweiten Teil geht es darum, was aus diesen Ideen und Denkmustern hervorgeht. »Treibende Kraft« ist für Neumann dabei eine »Logik der Angst«, die er unter anderem am Beispiel des rechten Kampfbegriffs vom »großen Austausch« erläutert, wonach »die Einwanderung von Nichtweißen und Muslimen auf eine angebliche Verschwörung mit dem Ziel zurückgeführt wird, die weißen Mehrheitsbevölkerungen in westlichen Staaten zu ersetzen« (Wikipedia).
Neumann: »Der Kampf gegen Extremismus ist eine dauerhafte Aufgabe in jeder Demokratie. Wer aber extremistische Bedrohungen nicht zuerst analytisch durchdringt, läuft Gefahr, die Extremisten durch ihre Bekämpfung nicht zu schwächen, sondern zu stärken.« Dieses Buch liefert eine Reihe von Erkenntnissen, die für den Kampf gegen Rechtsextremismus und Demokratiefeindlichkeit von Bedeutung sind. Nehmen Sie es zur Hand.
Peter R. Neumann: Logik der Angst – Die rechtsextreme Gefahr und ihre Wurzeln, Rowohlt, Berlin 2023, 208 S., 22 €. – CORRECTIV ist ein gemeinwohlorientiertes Medienhaus: https://correctiv.org/.