In den zurückliegenden Jahren haben die Begriffe »Unrechtsstaat« und »Rechtsstaat« in der politischen Auseinandersetzung immer wieder eine große Rolle gespielt. Vor allem betraf dies die Rückschau auf die DDR und ihre staatlichen und juristischen Institutionen. In Thüringen fand diese Debatte sogar Eingang in den zurzeit gültigen Koalitionsvertrag.
Von verschiedenen Seiten wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass der »Unrechtsstaat« nicht juristisch definiert ist und deshalb mit dieser Formulierung sehr zurückhaltend umgegangen werden sollte. Selbst der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages musste attestieren, dass es keine feststehenden Kriterien hierfür gibt. Bei dem grundsätzlich zunächst positiv besetzten Wort »Rechtsstaat« mag dies etwas anders sein. Dennoch sind die Vorstellungen und Erwartungen des Bürgers an einen solchen Rechtsstaat sehr vielgestaltig und erweisen sich keineswegs immer als zutreffend. Die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley brachte dies kurze Zeit nach 1989 auf den Punkt, indem sie formulierte: »Wir haben Gerechtigkeit erwartet und den Rechtsstaat bekommen.«
Der mehr als 50 Jahre als Rechtsanwalt in beiden deutschen Staaten tätig gewesene Friedrich Wolff und Egon Krenz, der ebenfalls lange Zeit in verschiedenen Funktionen von Partei und Staat der DDR tätig war, haben sich jetzt in einem Gespräch mit der Thematik auseinandergesetzt. Daraus ist ein Buch entstanden mit dem etwas provokanten Titel: »Komm mir nicht mit Rechtsstaat«. Allein die Überschriften der sechs Kapitel, die das Buch ohne Anlagen ausmachen, versprechen Spannung und machen neugierig. Dabei geht es unter anderem um die Frage, ob Justiz politisch oder neutral ist, ob wir heute einen Rechtsstaat oder doch eher einen Gerichtsstaat haben und ob Gerichte in der Lage sind, Geschichte aufzuarbeiten. Friedrich Wolff verteidigte 1960 und 1963 die in der Bundesrepublik als Bundesminister bzw. Staatssekretär tätigen Theodor Oberländer und Hans-Maria Globke. Beide waren in der Zeit der faschistischen Diktatur nicht unerhebliche Stützen des Hitlerstaates. So war Globke maßgeblich an der Kommentierung der Nürnberger Rassegesetze beteiligt, die dafür Sorge trugen, dass Menschen ausgegrenzt, deportiert und letztlich industriemäßig ermordet wurden.
Gegen Oberländer und Globke wurden in Abwesenheit der Angeklagten vor dem Obersten Gericht der DDR Prozesse geführt. Friedrich Wolff verteidigte aber auch Walter Janka und später Erich Honecker und andere frühere Mitglieder des Politbüros. In seiner langen beruflichen Tätigkeit konnte er die unterschiedlichsten Erfahrungen mit der Rechtsstaatlichkeit sammeln. Im Ergebnis dessen kommt er zu der Einschätzung, dass die DDR im Vergleich zur Bundesrepublik »der tatsächliche Rechtsstaat« war.
Egon Krenz nimmt das Rechtssystem der DDR vorrangig aufgrund seiner politischen und staatlichen Funktionen und später als Betroffener, der wegen dieser Tätigkeit durch die Justiz der Bundesrepublik verurteilt wurde, in den Blick. Er kommt zu dem Resümee, dass die bundesdeutsche Justiz den ihr nach 1990 vor allem durch den damaligen Bundesjustizminister Kinkel erteilten Auftrag erfüllt hat. Dieser verlangte auf dem 15. Deutschen Richtertag 1991, dass es der Strafjustiz gelingen müsse, »das SED-Regime zu delegitimieren«. Auf diese Weise wurde den Gerichten in nicht unerheblichem Umfang auch die Aufarbeitung der jüngeren deutschen Geschichte zugeschoben, die eigentlich Historikern vorbehalten bleiben sollte. Seine Worte wurden zugleich als eine Art regierungsamtliche Aufforderung verstanden und in der Folge vielfach auch umgesetzt.
Das höchst interessante Buch gewährt einen Einblick in eine Thematik, die Anlass für weitere Diskussion und Auseinandersetzung sein sollte. Seine Verbreitung, vor allem auch unter jungen Menschen, wäre mehr als wünschenswert.
Friedrich Wolff und Egon Krenz im Gespräch: »Komm mir nicht mit Rechtsstaat«, Verlag edition ost, Berlin 2021, 204 S., 15 €.