Artikel 3 Abs. 1 unseres Grundgesetzes bestimmt: »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.«
Sind sie es in der Praxis wirklich immer? Diese Fragestellung hat den Juristen und Journalisten Ronen Steinke beschäftigt, und er hat dazu Untersuchungen durchgeführt. Sein Anliegen war es, »über soziale Ungerechtigkeit in der Strafjustiz« zu informieren.
Der Autor stellt verschiedene Problemkreise vor, die im Strafprozess eine Rolle spielen. Das sind zum einen die Bedeutung der Verteidiger und zum anderen die Lebensumstände der Angeklagten und deren Widerspiegelung bei der Urteilsfindung. Erläutert wird das System der Geldstrafen, die Wirkungen von Untersuchungshaft und die unterschiedliche Umgangsweise mit Personen, die sich Delikten aus dem Bereich der sogenannten »weißen-Kragen-Kriminalität« schuldig gemacht haben, und solchen Angeklagten, die nur mit Mühe ihren Lebensunterhalt bestreiten können und deren Delikte demgemäß oft bei Diebstahl oder Raub zu finden sind.
Das Buch ist ein hervorragender Ausflug in die Praxis deutscher Strafgerichtsbarkeit. Steinke räumt mit weit verbreiteten Vorurteilen auf, wie beispielsweise, dass jeder, der es verlangen würde, Anspruch auf einen Pflichtverteidiger habe und auf diese Weise nicht ohne Beistand vor Gericht steht. Doch die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür sind streng geregelt und liegen nur bei einem Bruchteil der betroffenen Fälle vor. Auf eine finanzielle Bedürftigkeit kommt es dabei nicht an. Der Bedürftige geht deshalb oft leer aus, weil er sich einen Wahlverteidiger nicht leisten kann. Er weiß nicht, was ihn erwartet, wie die Abläufe sind und welche Möglichkeiten er hat, um sich gegen die Klage zur Wehr zu setzen. Demgegenüber stehen reiche Angeklagte, die mitunter mit zwei oder gar drei Anwälten vor Gericht erscheinen, um dadurch nicht nur besonderen Eindruck zu machen, sondern auch um das Gericht nachhaltiger von der eigenen Position zu überzeugen. Nicht immer gelingt das. Wenn die Dinge schlecht stehen, sind die Beteiligten aufgeschlossener dafür, einen »Deal« – der Gesetzgeber spricht von »Verständigung« – zu finden. Lange Zeit war dieser Bereich eine Grauzone, die sich allmählich entwickelte und erst vor einigen Jahren Eingang in die Strafprozessordnung fand.
In Bezug auf die Urteilsfindung sind die Erkenntnisse von Steinke, dass familiäre Probleme die Strafe häufig ungünstig beeinflussen und mittellose Angeklagte häufiger verdächtigt werden, gewerbsmäßig Straftaten zu begehen. Bei Gewerbsmäßigkeit gilt ein höherer Strafrahmen, weshalb diese Einschätzung nicht unbedeutend ist. Nicht selten wird einem Arbeitslosen eine ungünstige Sozialprognose bescheinigt, womit die Aussichten auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung ungünstig beeinflusst werden. Das erinnerte mich daran, dass ich in meiner 35-jährigen Praxis als Strafverteidiger auch schon erlebte, wie eine Staatsanwältin in ihrem Strafantrag bei einem Ersttäter, der in der Regel bei Strafen unterhalb von einem Jahr Freiheitsstrafe Anspruch auf eine Strafaussetzung zur Bewährung hat, formulierte: »Der lungert nur zu Hause ‹rum, dann kann er auch in Haft!« Diese Form des Vorurteils hatte natürlich heftige Dispute vor Gericht zur Folge, das sich der Auffassung der Anklägerin am Ende nicht anschließen mochte.
Geldstrafen werden in Deutschland nach Tagessätzen verhängt. Die Anzahl der Tagessätze stellt die eigentliche Strafe dar. Die Höhe eines jeden Tagessatzes, soll 1/30 des monatlichen Nettoeinkommens des Angeklagten entsprechen. Für den Empfänger von Sozialleistungen werden oft 20 € Tagessatzhöhe angesetzt, was bei 50 Tagessätzen bereits zu 1000 € Geldstrafe führt. Das schafft Probleme für jemanden mit 600 € Monatseinkommen. Wer 10.000 € monatlich verdient, muss zwar 333 € Tagessatzhöhe zahlen, wird dies aber in der Gesamtschau eher verschmerzen können. Hinzu kommt, dass auch Dritte für einen Verurteilten die Geldstrafe übernehmen dürfen, und niemand danach fragt, aus welcher Quelle dieses Geld eigentlich stammt. Der Bedürftige findet in der Regel selten jemanden, der für ihn eintritt.
Für Steinke war ein solcher Fall gerade Anstoß für das von ihm verfasste Buch. Der Chef eines großen Autokonzerns musste im Rahmen einer strafgerichtlichen Geldauflage einen Betrag von 4,5 Millionen € zahlen, ohne sein eigenes Portemonnaie belasten zu müssen. Das Unternehmen zahlt und kann den Betrag als Betriebsausgabe auch noch steuerlich geltend machen. Wer nur über bescheidene Mittel verfügt, kommt eher in die Situation, eine Geldstrafe nicht zahlen zu können. Wird ihm auch keine Ratenzahlung gewährt, oder kann er keine gemeinnützige Arbeit leisten, droht ihm die Umwandlung in eine Ersatzfreiheitsstrafe. Er muss dann zwar nicht mehr zahlen, aber sich entsprechend der Tagessatzanzahl für einige Zeit in eine Justizvollzugsanstalt begeben. Dass sein Aufenthalt dort für den Steuerzahler erheblich mehr Ausgaben mit sich bringt, braucht an dieser Stelle sicher nicht näher beleuchtet zu werden.
Der Autor befasst sich auch mit weiteren Problemen aus der Welt der Schwächsten und der dort mitunter anzutreffenden »Elendskriminalität«, wie er das nennt. Es lohnt sich, diese Kapitel genauer anzusehen. Der Verfasser belässt es nicht dabei, Kritik an der Justiz und ihrer Praxis zu üben, sondern unterbreitet auch Vorschläge zur Verbesserung. An erster Stelle steht die Forderung nach mehr finanziellen Mitteln für die Justiz. Dies würde auch die Bereitstellung von Pflichtverteidigern für alle Angeklagten – einhergehend mit einer entsprechenden Gesetzesänderung – ermöglichen, und zwar bereits ab einem frühen Stadium des Ermittlungsverfahrens. Ein solches ist immer belastend für den Betroffenen, und es dauert oft lange bis es zu einer Anklageerhebung kommt. Bei frühzeitiger Einschaltung eines Verteidigers kann die Klage mitunter sogar abgewendet werden. Er spricht sich für faire Geldstrafen für Arme aus, die Entkriminalisierung von Drogenkonsum sowie die Abschaffung der Möglichkeit der Verhängung von Strafbefehlen. Letztere sind eine Art Urteil im schriftlichen Verfahren ohne Hauptverhandlung und nach Aktenlage. Gern wird diese Möglichkeit gewählt, wenn die Beweislage ein wenig »schwammig« ist. Manche Angeklagte akzeptieren auch einen unter Umständen nicht gerechtfertigten Strafbefehl, weil sie nicht vor Gericht erscheinen möchten, und vor allem auch, weil ein möglicher Einspruch gegen den Strafbefehl in der Hauptverhandlung zu einer höheren Strafe führen kann. Das schreckt ab. Der eine oder andere verpasst auch die Einspruchsfrist. Ist der Strafbefehl erst einmal rechtskräftig, kann man kaum noch etwas dagegen ausrichten, weil die Möglichkeiten einer nachträglichen Entschuldigung (Wiedereinsetzung in den vorigen Stand) sehr streng geregelt sind und ein Wiederaufnahmeverfahren an noch höhere gesetzliche Hürden gebunden ist
Das Buch ist zweifellos eines von mehreren, die in den letzten Jahren sich besonders kritisch mit der Praxis des Strafprozesses auseinandersetzen. Dennoch hebt es sich durch seine deutliche Benennung der Schwachstellen und eine ebenso klare Sprache von anderen ab. Es kann deshalb nur nachhaltig zur Lektüre empfohlen werden, nicht nur für Betroffene, weil für diese die Erkenntnisse oft zu spät kämen.
Ronen Steinke: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich – Über soziale Ungerechtigkeit in der Strafjustiz, Berlin Verlag 2022, 272 S., 20 €.