Der Deutsche Bundestag hat versucht, vor der Sommerpause ein neues Strafgesetz über die Sterbehilfe zu verabschieden. Gleich zwei interfraktionelle Gesetzentwürfe wurden eingebracht, keiner fand eine Mehrheit. Und das ist gut so.
Bis 2015 gab es gar kein Gesetz, das den sogenannten assistierten Suizid im Strafrecht regelte, dann sah der Gesetzgeber Handlungsbedarf und schuf mit dem Paragrafen 217 (»Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung«) ein Gesetz, das assistierte Sterbehilfe unter Strafe stellte, wenn sie von Organisationen oder Ärzten wiederholt ermöglicht wurde: »Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.«
Das Gesetz richtete sich gegen Sterbehilfeorganisationen wie Dignitas, die Deutsche Gesellschaft für humanes Sterben, die Sterbehilfe Deutschland, den Schweizer Verein Sterbehilfe und nicht zuletzt den deutschen Arzt Uwe-Christian Arnold (1944-2019), die – nach ausführlicher Beratung und Diagnostik – Menschen, die beschlossen hatten zu gehen, einen Weg ohne würdeloses Krepieren mangels erreichbarer Mittel zu bereiten suchten. Fünf Jahre später kippte das Bundesverfassungsgericht den Paragrafen 217, den manche für eine Art Lex Arnold hielten. Uwe-Christian Arnold, der damals als »Deutschlands bekanntester Sterbehelfer« galt und 2014 gemeinsam mit Michael Schmidt-Salomon im Rowohlt Verlag das Buch Letzte Hilfe. Ein Plädoyer für das selbstbestimmte Sterben veröffentlicht hatte, war einer der Beschwerdeführer. Das Bundesverfassungsgericht gab dem Gesetzgeber auf, dass ein neues Gesetz den freien und autonomen Willen der Menschen zu beachten habe, die ihr Leben beenden wollen. Seitdem gibt es den § 217 nicht mehr, er ist nichtig.
»Geschäftsmäßig«, das klang noch nie gut fürs Publikum, irgendwie nach Profiteuren des Todes und nicht nach professioneller Betreuung. Juristen meinen damit aber nur die Wiederholung, die Professionalisierung, nicht die »erwerbsmäßige« Sterbehilfe als Geschäftsmodell. Trotzdem wurde auch in der Debatte am 6. Juli wieder mit diesem Vorurteil gespielt. Die Fürsprecher der konkurrierenden Entwürfe – ein »konservativer« der Bundestagsabgeordneten um Lars Castellucci (SPD) / Ansgar Heveling (CDU) und ein »liberaler« der Gruppe um Katrin Helling-Plahr (FDP) / Renate Künast (Grüne) – einte der Impuls, dass es nur die Parlamentarier sind, die die Regeln dafür setzen können, unter welchen Bedingungen ein Mensch den Freitod wählen darf, aus welchen Gründen immer. Eine Neuregelung sei nötig, so Frau Künast, »weil Sterbehilfe stattfindet«. Nur so gebe es Rechtssicherheit.
Das ist doch sehr die Frage. Die Abgeordneten blieben gefangen in den Argumenten, die schon seit Jahrzehnten vorgetragen werden: dass im Kern von »Experten« darüber geurteilt werden soll, ob der Wille zum Tod von Schmerzpatienten oder Depressionskranken wirklich frei ist oder Einflüsterungen unterliegt (»Ich möchte den anderen nicht länger zur Last fallen.«). Der Mensch sei verführbar. Und in hilfloser Verfassung leicht unter Druck zu setzen. Für viele Mediziner und Anhänger der Kirchen ist per se krank, wer an Suizid denkt und also unmoralisch oder unmündig, ein Fall für die Psychiatrie. Weiter hieß es, dass ohne Regelung die Zahl der Suizide immer weiter steigen würde, was schwer zu belegen ist und ebenso schwer zu bewerten. Schließlich auch, dass Menschen, die den assistierten Suizid wollen, über medizinische Hilfen und mögliche Alternativen mit den zugehörigen Konsequenzen Bescheid wissen sollten – und Ja! Das ist ein Punkt.
Aber braucht es dafür einen Paragrafen im Strafgesetzbuch? Es gab eine starke Präsenz von Ärzten, Juristen und Christen in der Debatte. Der Jurist und praktizierende Katholik Ansgar Heveling brachte die klassische etatistische Haltung auf den Punkt. Der »Schutz durch das Strafrecht« vor sozialem und ökonomischem Druck brauche klare Regelungen zur »Feststellung der Selbstbestimmung«. Und es dürfe nicht zugelassen werden, dass das Wertvollste, das Leben, der Marktlogik ausgesetzt werde. Das Grundgesetz sei »eine Verfassung des Lebens und nicht des Sterbens«.
Abgesehen davon, dass »eine Verfassung des Sterbens« einfach ein blühender Unsinn ist, markieren solche Sätze (und Heveling steht hier als Beispiel) den vollzogenen Übergang vom fürsorglichen zum vormundschaftlichen Staat. Das Grundgesetz stellt eine ganz andere Ethik an die Spitze: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Diese Ethik bezieht die Menschenwürde und die Selbstbestimmung darüber auch auf den Tod. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb nicht nur ein Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben festgestellt, sondern auch das Recht, Dritte dazu um Hilfe zu bitten.
Heveling ist nur ein Beispiel dafür, wie die Debatten um die Sterbehilfe in Deutschland schon immer laufen. Es geht angeblich um Ethik, der Kapitalismus (ein Wort, das in der Debatte nicht fiel) möge bitte draußen bleiben. Naives Wunschdenken, das schon den Paragrafen 217 möglich machte und völlig ausblendet, wie in einer älter werdenden Gesellschaft gerade die Unterwerfung von Altenzentren, von Krankenhäusern und der Pflege allgemein unter die Herrschaft der Marktlogik die Angst vor einem würdelosen, einsamen Lebensende und dadurch vor einem fremdbestimmten Tod hat wachsen lassen.
In Deutschland beenden Jahr für Jahr zwischen 9.000 und 10.000 Menschen ihr Leben durch Suizid; insgesamt hat die Zahl in den vergangenen Jahrzehnten abgenommen. 75 Prozent davon sind Männer. Fast die Hälfte aller Menschen erhängen, strangulieren, ersticken sich. Acht Prozent stürzen sich in die Tiefe, sieben Prozent vergiften sich mit Medikamenten oder Drogen, fünf Prozent mit (Auto-)Gasen. Weitere sechs Prozent nehmen das Auto oder werfen sich vor einen Zug, um die 800 Menschen pro Jahr.
Tode in Würde? Wohl kaum. Die meisten dieser Tode sind elend und unwürdig. Und belastend für das Umfeld. Es ist schwer, zuverlässige Zahlen über die Zahl der gescheiterten Suizide zu bekommen und damit der Menschen, die insgesamt nicht mehr leben möchten. Experten schätzen sie deutlich sechsstellig ein. Ebenso unklar ist die Zahl der assistierten Suizide. Die drei deutschen der genannten Organisationen, in denen man dazu Mitglied sein muss, sprechen von insgesamt 350 Menschen, die sie 2021 in den Tod begleitet haben.
Wie viele all dieser Menschen würden die Chance auf einen würdigeren Tod ergreifen, wenn sie ihnen nicht von Kirchen, Juristen, Ärzten und Staat versagt würden? Aktiv oder passiv? Wie viele würden es lassen, wenn sie eine ergebnisoffene Beratung über andere Wege aus der Not erhielten? Wenn ihnen diese Beratung tatsächlich Alternativen aufzeigen könnte: gute Orte der Pflege, betreute Wohngemeinschaften, Fahrdienste zu Gemeinschaftsaktionen, genügend Geld. Und wenn sie dann frei entscheiden könnten?
Mag sein, dass das Interesse an der Debatte vom handwerklichen Pfusch bei der Installation des Gebäudeenergiegesetzes überlagert wurde, aber die Fragen, um die es hier geht, sind wichtiger. Schon jetzt liegt das Durchschnittsalter der Menschen, die in den Freitod gehen, knapp unter 60 und das Phänomen des Alterssuizids gewinnt weiter an Bedeutung. Die geburtenstarken Jahrgänge sind nun fast alle in der Rente. Sie haben wie alle das Grundrecht auf ein selbstbestimmtes Leben wie auf ein selbstbestimmtes Sterben. Der Staat kann nur Verstöße gegen dieses Recht unter Strafe stellen, aber nicht seine Wahrnehmung.
Denn Grundrechte, die Juristen im Bundestag mögen sich erinnern, sind Rechte gegen den Staat. Wir sollten umdenken: Fast einstimmig hat der Bundestag am selben Tag von der Regierung ein Präventionskonzept gegen Suizide gefordert. Gemeint sind wohl mehr Beratungsstellen. Was das nützt, steht auf einem anderen Blatt. Prävention dagegen, die den Willen dafür nicht einbezieht, wird dem Leben nicht gerecht. Ärzteorganisationen und -kammern, die ihre Mitglieder denunzieren und verfolgen, wenn sie beraten möchten, auch nicht. Und Kirchen, die das Leben zu feiern glauben, indem sie Sterben nur durch Leiden erlauben, erst recht nicht. Beratung muss offen sein, ihre Inanspruchnahme freiwillig. Und sie muss hoffnungsvolle Möglichkeiten anbieten können. Wer sterben will, hat vielleicht nicht mit dem Leben an sich abgeschlossen, sondern erträgt nur die Umstände nicht mehr, unter denen er leben muss.
Dass keiner ihrer beiden Gesetzentwürfe durchkam, könnten die Abgeordneten als Zeichen werten, dass sie hier gar nichts regeln müssen – wieso eigentlich, das Verfassungsgericht hat die Arbeit längst getan. So gesehen, wäre die Debatte dann ein Erfolg gewesen. Und der Bundestag könnte anfangen, etwas genauer über die »Marktlogik« zu sinnieren, um sich endlich ernsthaft mit den unmenschlichen Zuständen im Gesundheitswesen, in den Alten- und Pflegeheimen zu befassen.