Seit mehr als hundert Jahren kennzeichnet dieser Begriff die politische Wahrnehmungsfähigkeit – auch und gerade in Deutschland. Und hat Elend über das Land und die Welt gebracht.
So hatte im Ersten Weltkrieg die offizielle Berichterstattung die Kriegsrealität bis 1918 in einer Weise verkehrt und verklärt, dass die »plötzliche« deutsche Niederlage am Jahresende weitgehend unverständlich schien. Da konnte dann rasch die Legende eines von Sozialisten und Juden aus dem Hinterhalt geführten Dolchstoßes greifen – mit allen bekannten katastrophalen Folgen. Hellmut von Gerlach hat damals »Die deutsche Mentalität 1871-1921« in einer Artikelserie der Weltbühne untersucht. Die darin eindrucksvoll geschilderte Realitätsverdrängung mit allen Fehleinschätzungen und Selbsttäuschungen seiner Landsleute gab ein erschreckendes Bild der Atmosphäre von Reich, Krieg und Nachkrieg und wurde zu einer umfangreichen Studie über den Weltkrieg mit dem Titel »Die große Zeit der Lüge« (Charlottenburg 1926, neu gedruckt in Bremen 1994).
Man könnte den Faden weiterverfolgen bis zur Propagandawelt der Nazis usw. usf., und eine Liste der Lügenpropaganda in allen Kriegszeiten wäre schier endlos …
Beschränkt man sich auf den aktuellen Kampf in der Ukraine, so haben glaubwürdige Militärexperten seit 2023 vielfach festgestellt, dass die Lage der Ukrainer militärisch ausweglos ist, aber als solche von den politisch und militärisch Verantwortlichen in der EU nicht zur Kenntnis genommen wurde und wird. Nach drei langen Jahren Mord und Zerstörung zwischen russischem Angriff und westlicher Verteidigung mangelt es nicht nur an Munition, sondern an Soldaten, denn Hunderttausende entziehen sich inzwischen diesem Massaker.
Doch unverändert läuft Durchhalte-Propaganda auf allen Kanälen: Immer neu gelieferte Nato-Waffensysteme sollen die Russen zurückdrängen und damit auch »unsere Freiheit« verteidigen. Selenskyj, der selbst inzwischen einer Friedensperspektive nahesteht, soll weiterkämpfen gegen Putin – last but not least mit der Begründung, morgen einen gefürchteten Vormarsch der Russen nach Berlin (und bis Lissabon) zu verhindern. Letztere Prognose – die von tiefer Unkenntnis historischer und aktueller Grundlagen zeugt – kommt vor allem aus den Mündern von EU-Politiker/innen aus den rechten bis rechtsextremen Regierungen Nordosteuropas – aber nicht nur! Die Brüsseler Spitzen verbreiten diese Angst-Vision zur Rechtfertigung und Durchsetzung weiterer massiver Aufrüstungspläne in Europa – ein Jungbrunnen für die Rüstungsindustrie in wirtschaftlichen Krisenzeiten.
Die Nato-Mächte der EU, die sich den US-Vorgaben zur Osterweiterung in den letzten drei Jahrzehnten vorbehaltlos untergeordnet haben, fühlen sich von ihrer US-Schutzmacht nun plötzlich im Stich gelassen, ja verraten. Dabei hatten sie doch im atlantischen Europa mit den Demokraten Joe Bidens noch gehofft, durch massive Ukraine-Aufrüstung Russland so weit schwächen zu können, dass es dort zu einem regime change kommen würde. Man erinnere sich der dieses in Aussicht stellenden Rede Bidens in Warschau im März 2023. »Stoppt Putin jetzt! « hatte der Spiegel schon Jahre früher, 2014, getitelt, als es bereits Pläne zur westlichen Befreiung des Donbass gab.
Eine Art Orange Revolution auch in Moskau sollte nicht nur neue Marktchancen im Osten eröffnen und helfen, den Abstieg der USA als stärkste Wirtschaftsmacht aufzuhalten, sondern überhaupt den Weg nach Asien freimachen. Doch das erweist sich nun im aktuellen geopolitischen Kräfteverhältnis als nicht realisierbar, und die Republikaner unter Donald Trump ziehen ganz pragmatisch jene Konsequenzen, die seit längerem absehbar waren. Nun soll gerade ihr Rückzug aus Europa mit Annäherung an Russland einen neuen Weg nach Asien eröffnen.
Trumps kürzlich vorgebrachte Sentenz, Europa und die Ukraine selbst seien (mit-)verantwortlich für den russischen Angriff, schockten die EU-Politiker zwar zutiefst, bringen sie aber nicht zum Innehalten oder gar zu einem Rückblick auf ihre eigenen Unterlassungen. Die herrschende Realitätsverdrängung blendet bis heute die Vorgeschichte des russischen Angriffs völlig aus dem öffentlichen Diskurs aus – insbesondere in Deutschland.
Man kann und will auch noch immer nicht erkennen, dass der bisherige »gemeinsame demokratische regelbasierte Konsens« mit den USA nur so lange gilt, wie er von gemeinsamen Interessen gedeckt ist. Das war über ein halbes Jahrhundert der Fall im sogenannten Kalten Krieg, solange der Westen den »Kommunismus« (und die UdSSR) aus Europa fernhalten wollte – eben diesem Ziel diente auch die von den USA nach 1945 gesteuerte europäische Einigung, die bis heute gerade keine politische Selbständigkeit der EU ermöglicht hat. Eine solche wird nun als Forderung wieder in den Raum gestellt.
Doch wie mit den aktuellen, immer stärker gewordenen nationalen Differenzen eine gemeinsame Politik konzipieren? Angeführt von einer nicht demokratisch gewählten Kommission, deren Spitzenpositionen überwiegend mit russophoben Politiker/innen besetzt sind, erleben alle Gründungsstaaten der EU eine starke Rechtsverschiebung ihrer Regierungen, herrührend von den Folgen der globalen Wirtschaftskrise und den Einflüssen der faschistoiden Kräfte des Kapitalismus, die nicht nur in den USA siegen.
Diese Kräfte stehen einer demokratischen Neuorientierung im Wege, die ausgehend von einer Anerkennung der Realitäten, so schmerzlich sie auch für viele sein mag, zu einer Umkehr führen müsste. Nur die Fokussierung aller Energien und Mittel auf die anstehenden Weltprobleme könnte Europa einen Aufschwung als Friedensprojekt ermöglichen, wie nach 1945 – zumindest ideell – auf Freiheit & Demokratie gestützt.
Von Macron bis Mario Draghi erklingt der Ruf an Brüssel: »Tut etwas!« War noch im Herbst eine engere finanzielle Zusammenarbeit gefordert worden, um gemeinsam dem US-Protektionismus begegnen zu können, so sollen es nun gemeinsame Rüstungsprojekte der EU-Staaten für eine neue Kriegswirtschaft sein, für die nun, laut Draghi, endlich die bisher immer abgelehnten Eurobonds aufgelegt werden sollen – über mindestens 800 Mrd. Euro. Dass die erforderlichen Mittel aus dem Staatshaushalt nicht aufgebracht werden können, ohne unsere welfare-Gesellschaften zu zerstören, wissen die Verantwortlichen – aber verdrängen auch das, sofern sie es nicht in Kauf nehmen. Auch da hilft ein Blick in die USA. Wollen wir das? Der neue Bellizismus mit der damit verbundenen weiteren Aufrüstungspropaganda steht wie ein Elefant im Raum, den man auch im jüngsten deutschen Wahlkampf übersah.
Doch will Kiew die ihm verbliebenen 80 Prozent der Ukraine behalten, muss es seinen Abwehrkampf aufgeben. Wenn die Ukraine nicht aller Ressourcen beraubt wird – für Rückzahlungen an die USA und weitere Waffenlieferer, die alle gern mit am Verteilungstisch säßen –, könnte sie als neutrale Macht, vorerst unter internationalem Schutz, wieder aufgebaut werden. Die großen Finanzfonds wie BlackRock, Vanguard etc., die nicht nur die Rüstungsindustrie, sondern auch einen Großteil der Infrastrukturen und der Landwirtschaft kontrollieren, werden allerdings die wahren Nutznießer sein, denn nach ihrem Profit an der Zerstörung werden sie massiv am Wiederaufbau verdienen.
Bedauerlicherweise dienten die vergangenen dreißig Jahre nach dem Ende des »Kommunismus« nicht dem Aufbau einer eigenständigen europäischen Ordnung mit dem nach Auflösung seiner Föderation geschwächten Russland. Vor allem Deutschland erkannte seine ureigenste wirtschaftspolitische Interessenlage nicht, importierte zwar gern billige Energie, aber gestand Russland keine eigene Interessensphäre zu, die ja nicht viel mehr als eine Neutralität der Grenzländer verlangte, ohne Stationierung von Nato-Waffen längs der russischen Westgrenze. Selbst die einstige Ostpolitik der SPD schien Lichtjahre entfernt. Wenn sich aber die von der CDU neu angestrebte deutsche Führungsrolle in Europa nicht auf eine neue Ostpolitik besinnt, wird Europa erneut untergehen.
Leseempfehlung zur Vorgeschichte des russischen Angriffs vom 24. Februar 2022: Ronald Thoden, Sabine Schiffer (Hg.), Ukraine im Visier. Russlands Nachbar als Zielscheibe geopolitischer Interessen, Frankfurt/M., 2014. Mit einem Vorwort von Eckart Spoo.