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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Realitätsverdrängung

Seit mehr als hun­dert Jah­ren kenn­zeich­net die­ser Begriff die poli­ti­sche Wahr­neh­mungs­fä­hig­keit – auch und gera­de in Deutsch­land. Und hat Elend über das Land und die Welt gebracht.

So hat­te im Ersten Welt­krieg die offi­zi­el­le Bericht­erstat­tung die Kriegs­rea­li­tät bis 1918 in einer Wei­se ver­kehrt und ver­klärt, dass die »plötz­li­che« deut­sche Nie­der­la­ge am Jah­res­en­de weit­ge­hend unver­ständ­lich schien. Da konn­te dann rasch die Legen­de eines von Sozia­li­sten und Juden aus dem Hin­ter­halt geführ­ten Dolch­sto­ßes grei­fen – mit allen bekann­ten kata­stro­pha­len Fol­gen. Hell­mut von Ger­lach hat damals »Die deut­sche Men­ta­li­tät 1871-1921« in einer Arti­kel­se­rie der Weltbühne unter­sucht. Die dar­in ein­drucks­voll geschil­der­te Rea­li­täts­ver­drän­gung mit allen Fehl­ein­schät­zun­gen und Selbst­täu­schun­gen sei­ner Lands­leu­te gab ein erschrecken­des Bild der Atmo­sphä­re von Reich, Krieg und Nach­krieg und wur­de zu einer umfang­rei­chen Stu­die über den Welt­krieg mit dem Titel »Die gro­ße Zeit der Lüge« (Char­lot­ten­burg 1926, neu gedruckt in Bre­men 1994).

Man könn­te den Faden wei­ter­ver­fol­gen bis zur Pro­pa­gan­da­welt der Nazis usw. usf., und eine Liste der Lügen­pro­pa­gan­da in allen Kriegs­zei­ten wäre schier endlos …

Beschränkt man sich auf den aktu­el­len Kampf in der Ukrai­ne, so haben glaub­wür­di­ge Mili­tär­ex­per­ten seit 2023 viel­fach fest­ge­stellt, dass die Lage der Ukrai­ner mili­tä­risch aus­weg­los ist, aber als sol­che von den poli­tisch und mili­tä­risch Ver­ant­wort­li­chen in der EU nicht zur Kennt­nis genom­men wur­de und wird. Nach drei lan­gen Jah­ren Mord und Zer­stö­rung zwi­schen rus­si­schem Angriff und west­li­cher Ver­tei­di­gung man­gelt es nicht nur an Muni­ti­on, son­dern an Sol­da­ten, denn Hun­dert­tau­sen­de ent­zie­hen sich inzwi­schen die­sem Massaker.

Doch unver­än­dert läuft Durch­hal­te-Pro­pa­gan­da auf allen Kanä­len: Immer neu gelie­fer­te Nato-Waf­fen­sy­ste­me sol­len die Rus­sen zurück­drän­gen und damit auch »unse­re Frei­heit« ver­tei­di­gen. Selen­skyj, der selbst inzwi­schen einer Frie­dens­per­spek­ti­ve nahe­steht, soll wei­ter­kämp­fen gegen Putin – last but not least mit der Begrün­dung, mor­gen einen gefürch­te­ten Vor­marsch der Rus­sen nach Ber­lin (und bis Lis­sa­bon) zu ver­hin­dern. Letz­te­re Pro­gno­se – die von tie­fer Unkennt­nis histo­ri­scher und aktu­el­ler Grund­la­gen zeugt – kommt vor allem aus den Mün­dern von EU-Poli­ti­ker/in­nen aus den rech­ten bis rechts­extre­men Regie­run­gen Nord­ost­eu­ro­pas – aber nicht nur! Die Brüs­se­ler Spit­zen ver­brei­ten die­se Angst-Visi­on zur Recht­fer­ti­gung und Durch­set­zung wei­te­rer mas­si­ver Auf­rü­stungs­plä­ne in Euro­pa – ein Jung­brun­nen für die Rüstungs­in­du­strie in wirt­schaft­li­chen Krisenzeiten.

Die Nato-Mäch­te der EU, die sich den US-Vor­ga­ben zur Ost­erwei­te­rung in den letz­ten drei Jahr­zehn­ten vor­be­halt­los unter­ge­ord­net haben, füh­len sich von ihrer US-Schutz­macht nun plötz­lich im Stich gelas­sen, ja ver­ra­ten. Dabei hat­ten sie doch im atlan­ti­schen Euro­pa mit den Demo­kra­ten Joe Bidens noch gehofft, durch mas­si­ve Ukrai­ne-Auf­rü­stung Russ­land so weit schwä­chen zu kön­nen, dass es dort zu einem regime chan­ge kom­men wür­de. Man erin­ne­re sich der die­ses in Aus­sicht stel­len­den Rede Bidens in War­schau im März 2023. »Stoppt Putin jetzt! « hat­te der Spie­gel schon Jah­re frü­her, 2014, geti­telt, als es bereits Plä­ne zur west­li­chen Befrei­ung des Don­bass gab.

Eine Art Oran­ge Revo­lu­ti­on auch in Mos­kau soll­te nicht nur neue Markt­chan­cen im Osten eröff­nen und hel­fen, den Abstieg der USA als stärk­ste Wirt­schafts­macht auf­zu­hal­ten, son­dern über­haupt den Weg nach Asi­en frei­ma­chen. Doch das erweist sich nun im aktu­el­len geo­po­li­ti­schen Kräf­te­ver­hält­nis als nicht rea­li­sier­bar, und die Repu­bli­ka­ner unter Donald Trump zie­hen ganz prag­ma­tisch jene Kon­se­quen­zen, die seit län­ge­rem abseh­bar waren. Nun soll gera­de ihr Rück­zug aus Euro­pa mit Annä­he­rung an Russ­land einen neu­en Weg nach Asi­en eröffnen.

Trumps kürz­lich vor­ge­brach­te Sen­tenz, Euro­pa und die Ukrai­ne selbst sei­en (mit-)verantwortlich für den rus­si­schen Angriff, schock­ten die EU-Poli­ti­ker zwar zutiefst, brin­gen sie aber nicht zum Inne­hal­ten oder gar zu einem Rück­blick auf ihre eige­nen Unter­las­sun­gen. Die herr­schen­de Rea­li­täts­ver­drän­gung blen­det bis heu­te die Vor­ge­schich­te des rus­si­schen Angriffs völ­lig aus dem öffent­li­chen Dis­kurs aus – ins­be­son­de­re in Deutschland.

Man kann und will auch noch immer nicht erken­nen, dass der bis­he­ri­ge »gemein­sa­me demo­kra­ti­sche regel­ba­sier­te Kon­sens« mit den USA nur so lan­ge gilt, wie er von gemein­sa­men Inter­es­sen gedeckt ist. Das war über ein hal­bes Jahr­hun­dert der Fall im soge­nann­ten Kal­ten Krieg, solan­ge der Westen den »Kom­mu­nis­mus« (und die UdSSR) aus Euro­pa fern­hal­ten woll­te – eben die­sem Ziel dien­te auch die von den USA nach 1945 gesteu­er­te euro­päi­sche Eini­gung, die bis heu­te gera­de kei­ne poli­ti­sche Selb­stän­dig­keit der EU ermög­licht hat. Eine sol­che wird nun als For­de­rung wie­der in den Raum gestellt.

Doch wie mit den aktu­el­len, immer stär­ker gewor­de­nen natio­na­len Dif­fe­ren­zen eine gemein­sa­me Poli­tik kon­zi­pie­ren? Ange­führt von einer nicht demo­kra­tisch gewähl­ten Kom­mis­si­on, deren Spit­zen­po­si­tio­nen über­wie­gend mit rus­so­pho­ben Politiker/​innen besetzt sind, erle­ben alle Grün­dungs­staa­ten der EU eine star­ke Rechts­ver­schie­bung ihrer Regie­run­gen, her­rüh­rend von den Fol­gen der glo­ba­len Wirt­schafts­kri­se und den Ein­flüs­sen der faschi­sto­iden Kräf­te des Kapi­ta­lis­mus, die nicht nur in den USA siegen.

Die­se Kräf­te ste­hen einer demo­kra­ti­schen Neu­ori­en­tie­rung im Wege, die aus­ge­hend von einer Aner­ken­nung der Rea­li­tä­ten, so schmerz­lich sie auch für vie­le sein mag, zu einer Umkehr füh­ren müss­te. Nur die Fokus­sie­rung aller Ener­gien und Mit­tel auf die anste­hen­den Welt­pro­ble­me könn­te Euro­pa einen Auf­schwung als Frie­dens­pro­jekt ermög­li­chen, wie nach 1945 – zumin­dest ideell – auf Frei­heit & Demo­kra­tie gestützt.

Von Macron bis Mario Draghi erklingt der Ruf an Brüs­sel: »Tut etwas!« War noch im Herbst eine enge­re finan­zi­el­le Zusam­men­ar­beit gefor­dert wor­den, um gemein­sam dem US-Pro­tek­tio­nis­mus begeg­nen zu kön­nen, so sol­len es nun gemein­sa­me Rüstungs­pro­jek­te der EU-Staa­ten für eine neue Kriegs­wirt­schaft sein, für die nun, laut Draghi, end­lich die bis­her immer abge­lehn­ten Euro­bonds auf­ge­legt wer­den sol­len – über min­de­stens 800 Mrd. Euro. Dass die erfor­der­li­chen Mit­tel aus dem Staats­haus­halt nicht auf­ge­bracht wer­den kön­nen, ohne unse­re wel­fa­re-Gesell­schaf­ten zu zer­stö­ren, wis­sen die Ver­ant­wort­li­chen – aber ver­drän­gen auch das, sofern sie es nicht in Kauf neh­men. Auch da hilft ein Blick in die USA. Wol­len wir das? Der neue Bel­li­zis­mus mit der damit ver­bun­de­nen wei­te­ren Auf­rü­stungs­pro­pa­gan­da steht wie ein Ele­fant im Raum, den man auch im jüng­sten deut­schen Wahl­kampf übersah.

Doch will Kiew die ihm ver­blie­be­nen 80 Pro­zent der Ukrai­ne behal­ten, muss es sei­nen Abwehr­kampf auf­ge­ben. Wenn die Ukrai­ne nicht aller Res­sour­cen beraubt wird – für Rück­zah­lun­gen an die USA und wei­te­re Waf­fen­lie­fe­rer, die alle gern mit am Ver­tei­lungs­tisch säßen –, könn­te sie als neu­tra­le Macht, vor­erst unter inter­na­tio­na­lem Schutz, wie­der auf­ge­baut wer­den. Die gro­ßen Finanz­fonds wie Black­Rock, Van­guard etc., die nicht nur die Rüstungs­in­du­strie, son­dern auch einen Groß­teil der Infra­struk­tu­ren und der Land­wirt­schaft kon­trol­lie­ren, wer­den aller­dings die wah­ren Nutz­nie­ßer sein, denn nach ihrem Pro­fit an der Zer­stö­rung wer­den sie mas­siv am Wie­der­auf­bau verdienen.

Bedau­er­li­cher­wei­se dien­ten die ver­gan­ge­nen drei­ßig Jah­re nach dem Ende des »Kom­mu­nis­mus« nicht dem Auf­bau einer eigen­stän­di­gen euro­päi­schen Ord­nung mit dem nach Auf­lö­sung sei­ner Föde­ra­ti­on geschwäch­ten Russ­land. Vor allem Deutsch­land erkann­te sei­ne urei­gen­ste wirt­schafts­po­li­ti­sche Inter­es­sen­la­ge nicht, impor­tier­te zwar gern bil­li­ge Ener­gie, aber gestand Russ­land kei­ne eige­ne Inter­es­sensphä­re zu, die ja nicht viel mehr als eine Neu­tra­li­tät der Grenz­län­der ver­lang­te, ohne Sta­tio­nie­rung von Nato-Waf­fen längs der rus­si­schen West­gren­ze. Selbst die ein­sti­ge Ost­po­li­tik der SPD schien Licht­jah­re ent­fernt. Wenn sich aber die von der CDU neu ange­streb­te deut­sche Füh­rungs­rol­le in Euro­pa nicht auf eine neue Ost­po­li­tik besinnt, wird Euro­pa erneut untergehen.

Lese­emp­feh­lung zur Vor­ge­schich­te des rus­si­schen Angriffs vom 24. Febru­ar 2022: Ronald Tho­den, Sabi­ne Schif­fer (Hg.), Ukrai­ne im Visier. Russ­lands Nach­bar als Ziel­schei­be geo­po­li­ti­scher Inter­es­sen, Frankfurt/​M., 2014. Mit einem Vor­wort von Eck­art Spoo.