Ja, wo sind unsre Lieder, unsre alten Lieder«, fragte der Liedermacher Franz Josef Degenhardt 1968 auf seiner LP »Wenn der Senator erzählt«. Und er gab gleich selbst die Antwort: »Tot sind unsre Lieder, / unsre alten Lieder. / Lehrer haben sie zerbissen, / Kurzbehoste sie verklampft, / braune Horden totgeschrien, / Stiefel in den Dreck gestampft.«
Ein halbes Jahrhundert später engagiert sich sein Sohn Kai, der über 20 Jahre lang seinem Vater als Gitarrist und Arrangeur auf Tourneen und im Studio zur Seite gestanden hatte, für diese »alten Lieder«. Auf seiner Homepage begründet er sein Anliegen so:
»Die Nazis haben im 20. Jahrhundert die traditionelle deutsche Liedkultur derartig missbraucht, verschüttet und geschreddert, dass sich – anders als in anderen Ländern – nachfolgende Generationen darauf nur gebrochen und mit äußerster Vorsicht beziehen können. Und das gelingt eigentlich immer nur dann, wenn man mit einer klaren antifaschistischen Haltung daran geht und immer auch das konkret Gesellschaftliche, das Politische also, miteinbezieht. In genau dieser Liedermachertradition sehe ich mich, und ich halte den Ansatz gerade heute wieder für besonders wichtig, da der europaweite Aufmarsch rechter Parteien und Bewegungen den Faschismus als äußerstes Mittel zur Rettung bürgerlicher Herrschaft in der Krise wieder als reale Option erscheinen lässt.«
Im September erschien im PapyRossa Verlag, Köln, als Band 332 der Neuen Kleinen Bibliothek Kai Degenhardts Buch »Wessen Morgen ist der Morgen«, in dem er »im Spiegel des Arbeiterliedes die vielen Kämpfe und Niederlagen, Erfolge und Fehlschläge in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung aufblättert«, wie es im Klappentext heißt. Mitte Oktober startete er dann in Hamburg mit einer Veranstaltung im »Buchladen Osterstraße« – »Lesen fängt links an« – seine Tournee, die ihn unter dem Titel »Vortrag mit Arbeiterliedern« bis zum Jahresende quer durch die Republik führen wird.
Was aber sind für Degenhardt die Lieder der deutschen Arbeiterbewegung? Seine Definition lautet: »Das Arbeiterlied ist ein Gesangsstück, dessen inhaltliche Thematik sich speist aus den Erfahrungen der Werktätigen. (…) Kennzeichnendes Merkmal ist ein ihm inhärentes Arbeiterklassenbewusstsein im Sinne einer Motivation zum solidarischen Klassenkampf – von der betrieblichen Einzelaktion bis hin zur sozialen Revolution. (…) Die Arbeiterbewegung selbst ist maßgebliche Trägerin des Arbeiterlieds. (…) Dabei variieren Darbietungsformen, Spielarten und Rezeptionsorte in erheblicher Bandbreite.«
Folgerichtig rückt Degenhardt nicht nur das Liedgut, sondern auch den historischen Kontext, in dem die Lieder entstanden sind, die Arbeiter- und Klassenkämpfe, in den Mittelpunkt seines Buches. Für ihn beginnt die Geschichte des Arbeiterlieds mit dem Schlesischen Weberaufstand und dem von einem Anonymus 1844 geschriebenen »Blutgericht«. Schlussstrophe: »Oh, euer Geld und euer Gut, / das wird dereinst zergehen / wie Butter in der Sonne Glut – / dann wird’s um euch geschehen!« Kai Degenhardt griff bei der Lesung zur Gitarre und sang.
20 Jahre später, 1863, wird in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein unter Führung von Ferdinand Lassalle gegründet. Degenhardt intonierte dazu das aus diesem Anlass von dem Dichter und März-Revolutionär Georg Herwegh geschriebene »Bundeslied«: »Bet‘ und arbeit‘, ruft die Welt, / Bete kurz; denn Zeit ist Geld. / An die Türe pocht die Not. / Bete kurz, denn Zeit ist Brot.«
Juli 1870, Deutsch-Französischer Krieg. Der deutsche Sozialdemokrat Max Kegel dichtete aus diesem Anlass: »Ich bin Soldat. Doch bin ich es nicht gerne, / als ich es ward, hat man mich nicht gefragt …«. Wieder griff Degenhardt zur Gitarre.
Es folgt »Der Revoluzzer« von Erich Mühsam aus dem Jahr 1907. Dieses Spottlied mit seiner Kritik an der Sozialdemokratischen Partei – »War einmal ein Revoluzzer, / im Zivilstand Lampenputzer…« – nahm nach seiner Vertonung im Jahre 1929 der Sänger Ernst Busch in sein Repertoire auf und machte es berühmt.
Nächste historische Station: das Jahr 1923 mit dem Hamburger Aufstand und dem anonym verfassten »In Hamburg fiel der erste Schuss«. Beim Sangesvortrag wurde deutlich, dass ein Teil der Zuhörerinnen und Zuhörer, aber auch der Interpret, bei der historischen Einordnung des Aufstands und seines Verlaufs eher der glorifizierenden Version Willi Bredels zuneigt (»Hamburg auf den Barrikaden«, in: »Unter Türmen und Masten«), als einer Geschichtsschreibung, die die Rolle der KPD-Zentrale, des Hamburger KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann, der Komintern und der sowjetischen KP-Führung kritisch beurteilt.
Besonders offensichtlich wurde dies beim folgenden »Roten Wedding«, dem 1929 von Erich Weinert geschriebenen und von Hanns Eisler vertonten Gassenhauer der gleichnamigen Agitprop-Gruppe. Den Text, der sich auf den »Berliner Blutmai« von 1929 bezieht, als Polizei in den Berliner Arbeitervierteln Wedding und Neukölln vom 1. bis 3. Mai über 30 Personen erschoss, gibt es in vielen Versionen, auch Ernst Busch hat ihn später mehrmals variiert. »Roter Wedding grüßt euch, Genossen! / Haltet die Fäuste bereit. / Haltet die roten Reihen geschlossen, / denn unser Tag ist nicht weit. / Drohend stehen die Faschisten / drüben am Horizont. / Proletarier, ihr müsst rüsten. / Rot Front! Rot Front!« (zweite Strophe).
Der damals amtierende Polizeipräsident von Berlin war ein Sozialdemokrat. Und als es bei Degenhardts Gesangesvortrag um das von diesem zu verantwortende Massaker ging – »der herrschenden Klasse blut’ges Gesicht« –, da schien es, als würde so mancher Zuhörer auch heute noch beim Stichwort »Sozialdemokratie« eher an diesen Karl Friedrich Zörgiebel oder an Gustav Noske denken, der im Januar 1919 den Spartakusaufstand niederschlagen ließ, als an Willy Brandt und Egon Bahr.
Der Schriftsteller und Schauspieler Hans Drach, dessen Vater beim Spartakus-Aufstand eine bedeutende Rolle gespielt hatte, hatte sich der sozialistischen Bewegung in Berlin angeschlossen und war vor den Nazis in die Sowjetunion emigriert. Mit anderen Künstlern gründete er 1935 in Dnjepropetrowsk – heute: Dnipro/Ukraine – das »Deutsche Kolchostheater«. Dort schrieb er »Mein Vater wird gesucht«. Mit ihm beschließt Degenhardt auf seiner CD den Liederzyklus aus den 90 Jahren zwischen 1848 und dem Zweiten Weltkrieg: »Mein Vater wird gesucht / Er kommt nicht mehr nach Haus. / Sie hetzen ihn mit Hunden, vielleicht ist er gefunden – / und kommt nicht mehr nach Haus.« Er kam nicht mehr nach Haus, ebenso wenig wie Hans Drach, der, wie es in einer Veröffentlichung des Kreismuseums Wewelsburg bei Paderborn heißt, wegen angeblicher Spitzeltätigkeiten 1936 in der Sowjetunion verhaftet und im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes 1939 an die Gestapo ausgeliefert wurde. Er starb im KZ Niederhagen-Wewelsburg im Dezember 1941. Die Todesumstände sind unklar.
In seinem Buch hat Kai Degenhardt den historischen Faden noch weitergesponnen, mit Kapiteln über die Arbeiterlieder in der DDR und der Bundesrepublik von 1945 bis 1990 und nach der Wiedervereinigung bis heute.
P.S. Im Jahr 2014 wurde das »Singen der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung« in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes im Sinne der UNESCO aufgenommen. Das Liedgut sei »Ausdruck von Benachteiligung und Unterdrückung lohnabhängiger Beschäftigter, aber auch von Gegenwehr, Kampfeswillen und Zukunftsgewissheit«. Kai Degenhardt will mit seinem Buch und seinem Gesang dieses Liedgut erneut ins Bewusstsein rücken, raus aus dem »Museum« holen.
Kai Degenhardt: Wessen Morgen ist der Morgen – Arbeiterlied und Arbeiterkämpfe in Deutschland, PapyRossa Verlag, Köln 2023, 215 S., 16,90 €. Zu den Terminen der Tournee siehe www.kai-degenhardt.de.