Die Geschichte Ungarns zwischen dem Ende des Ersten und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wird meist mit der repressiven Diktatur des Reichverwesers Miklós Horthy sowie seiner Kumpanei mit den faschistischen Regimes Hitlers und Mussolinis in Verbindung gebracht. Tatsächlich gab es in der unmittelbaren Nachkriegszeit aber auch eine kurze – heute meist verdrängte – Zeitspanne, in der die proletarische Revolution auf Ungarn übergegriffen hatte. Die ungarische Räterepublik existierte allerdings nur vom 21. März bis zum 1. August 1919. Die jetzige ungarische Rechtsregierung bezieht ihre Legitimation unter anderem aus dem »schrecklichen roten Terror« des Jahres 1919. Rechtsradikale betrachten die kurzlebige Räteherrschaft bis heute als Ergebnis einer »jüdisch-bolschewistischen Verschwörung«.
Es ist verdienstvoll, dass der in Wien ansässige Promedia Verlag kürzlich einen Sammelband zu dem meist verzerrt dargestellten Zeitraum der Geschichte Ungarns veröffentlicht hat. Wie Christian Koller und Matthias Marschik als Herausgeber des Bandes schon im Vorwort schreiben, kann die Räteherrschaft nur vor dem Hintergrund der Nachkriegskrise betrachtet werden. Der Zusammenbruch des Habsburgerreiches hatte – ähnlich wie im russischen Zarenreich – eine Reihe sich ausschließender Nationalismen hervorgebracht. Die sich neu konstituierenden Staaten gerieten einander um ihren Anteil an der Konkursmasse der zusammengebrochenen Monarchie in die Haare. Ungarn musste gravierende Gebietsverluste hinnehmen, und die bürgerliche Regierung erwies sich als unfähig, den Vormarsch feindlicher Truppen zu stoppen. Die ungarischen Kommunisten und Sozialdemokraten erhofften sich militärische Rückendeckung von Sowjetrussland, welches zu dem Zeitpunkt aber selbst ums Überleben kämpfte und dazu gar nicht in der Lage war.
Die 16 Beiträge des Bandes beleuchten bisher wenig aufgearbeitete und bekannte Aspekte der ungarischen Räteherrschaft. Karl-Heinz Gräfe beschreibt unter anderem die Besetzung von Betrieben und die Aufteilung von Ländereien durch unzufriedene Arbeiter und von der Front zurückströmende Soldaten. Die von der Räteregierung aufgegriffenen Forderungen nach Verstaatlichung der Schlüsselindustrie und Beseitigung feudaler Relikte entsprach damals durchaus dem Wunsch breiter Bevölkerungskreise. Die Niederschlagung der Räterepublik erfolgte dann durch gemeinsam operierende rumänische, französische und serbische Truppen – erst nach deren Abzug konnte die ungarische Rechte unter Horthy die Regierungsgewalt an sich reißen.
Edward Saunders beleuchtet in seinem Beitrag die Biographie von Béla Kun, der bis heute als führender Kopf der ungarischen Räteregierung gilt, obwohl er zu keinem Zeitpunkt deren Regierungschef war. Kun ist bis heute eine der umstrittensten Figuren der ungarischen Geschichte. Einerseits gilt er als »roter Diktator« und verantwortlich für die angebliche Schreckensherrschaft des Jahres 1919. In den 1930er Jahren wurde Kun im sowjetischen Exil aber Opfer der stalinschen Säuberungen. Wenig bekannt ist, dass er im März 1919 aus politischen Gründen inhaftiert war und die Sozialdemokraten ihn aus dem Gefängnis holen mussten, damit er als »Kommissar für Äußeres« in die Räteregierung aufgenommen werden konnte.
Der renommierte Historiker Béla Bodó widmet sich in seinem Beitrag dem Ungleichgewicht in der Bewertung von »rotem« und »weißem« Terror. Er weist detailliert nach, dass es zwar unzweifelhaft auch Plünderungen und Erschießungen durch die auf Seiten der Räteregierung kämpfenden Arbeitermilizen gab, die Morde und Gewalttaten, welche auf das Konto der Konterrevolution gingen, jedoch eindeutig überwogen. Es waren in der Hauptsache antisemitisch gesonnene paramilitärische weiße Einheiten, die damals massenhaft Unbeteiligte umbrachten oder zu Tode folterten. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch der Beitrag von Julia Richers und Regina Fritz: Dem weißen Terror fielen nicht nur Anhänger der Räteregierung zum Opfer, sondern auch rechte Sozialdemokraten und bürgerliche Liberale. Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung waren im Rücken der konterrevolutionären Truppen an der Tagesordnung. Die Machtergreifung Horthys war dann Auftakt für die judenfeindliche Gesetzgebung der 1930er und 1940er Jahre.
Christian Koller/Matthias Marschik (Hg.): »Die Ungarische Räterepublik 1919. Innenansichten – Außenperspektiven – Folgewirkungen«, Promedia Verlag, 277 Seiten, 21,90 €