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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Räterepublik Ungarn

Die Geschich­te Ungarns zwi­schen dem Ende des Ersten und dem Beginn des Zwei­ten Welt­kriegs wird meist mit der repres­si­ven Dik­ta­tur des Reich­ver­we­sers Miklós Hor­thy sowie sei­ner Kum­pa­nei mit den faschi­sti­schen Regimes Hit­lers und Mus­so­li­nis in Ver­bin­dung gebracht. Tat­säch­lich gab es in der unmit­tel­ba­ren Nach­kriegs­zeit aber auch eine kur­ze – heu­te meist ver­dräng­te – Zeit­span­ne, in der die pro­le­ta­ri­sche Revo­lu­ti­on auf Ungarn über­ge­grif­fen hat­te. Die unga­ri­sche Räte­re­pu­blik exi­stier­te aller­dings nur vom 21. März bis zum 1. August 1919. Die jet­zi­ge unga­ri­sche Rechts­re­gie­rung bezieht ihre Legi­ti­ma­ti­on unter ande­rem aus dem »schreck­li­chen roten Ter­ror« des Jah­res 1919. Rechts­ra­di­ka­le betrach­ten die kurz­le­bi­ge Räte­herr­schaft bis heu­te als Ergeb­nis einer »jüdisch-bol­sche­wi­sti­schen Verschwörung«.

Es ist ver­dienst­voll, dass der in Wien ansäs­si­ge Pro­me­dia Ver­lag kürz­lich einen Sam­mel­band zu dem meist ver­zerrt dar­ge­stell­ten Zeit­raum der Geschich­te Ungarns ver­öf­fent­licht hat. Wie Chri­sti­an Kol­ler und Mat­thi­as Mar­schik als Her­aus­ge­ber des Ban­des schon im Vor­wort schrei­ben, kann die Räte­herr­schaft nur vor dem Hin­ter­grund der Nach­kriegs­kri­se betrach­tet wer­den. Der Zusam­men­bruch des Habs­bur­ger­rei­ches hat­te – ähn­lich wie im rus­si­schen Zaren­reich – eine Rei­he sich aus­schlie­ßen­der Natio­na­lis­men her­vor­ge­bracht. Die sich neu kon­sti­tu­ie­ren­den Staa­ten gerie­ten ein­an­der um ihren Anteil an der Kon­kurs­mas­se der zusam­men­ge­bro­che­nen Mon­ar­chie in die Haa­re. Ungarn muss­te gra­vie­ren­de Gebiets­ver­lu­ste hin­neh­men, und die bür­ger­li­che Regie­rung erwies sich als unfä­hig, den Vor­marsch feind­li­cher Trup­pen zu stop­pen. Die unga­ri­schen Kom­mu­ni­sten und Sozi­al­de­mo­kra­ten erhoff­ten sich mili­tä­ri­sche Rücken­deckung von Sowjet­russ­land, wel­ches zu dem Zeit­punkt aber selbst ums Über­le­ben kämpf­te und dazu gar nicht in der Lage war.

Die 16 Bei­trä­ge des Ban­des beleuch­ten bis­her wenig auf­ge­ar­bei­te­te und bekann­te Aspek­te der unga­ri­schen Räte­herr­schaft. Karl-Heinz Grä­fe beschreibt unter ande­rem die Beset­zung von Betrie­ben und die Auf­tei­lung von Län­de­rei­en durch unzu­frie­de­ne Arbei­ter und von der Front zurück­strö­men­de Sol­da­ten. Die von der Räte­re­gie­rung auf­ge­grif­fe­nen For­de­run­gen nach Ver­staat­li­chung der Schlüs­sel­in­du­strie und Besei­ti­gung feu­da­ler Relik­te ent­sprach damals durch­aus dem Wunsch brei­ter Bevöl­ke­rungs­krei­se. Die Nie­der­schla­gung der Räte­re­pu­blik erfolg­te dann durch gemein­sam ope­rie­ren­de rumä­ni­sche, fran­zö­si­sche und ser­bi­sche Trup­pen – erst nach deren Abzug konn­te die unga­ri­sche Rech­te unter Hor­thy die Regie­rungs­ge­walt an sich reißen.

Edward Sau­n­ders beleuch­tet in sei­nem Bei­trag die Bio­gra­phie von Béla Kun, der bis heu­te als füh­ren­der Kopf der unga­ri­schen Räte­re­gie­rung gilt, obwohl er zu kei­nem Zeit­punkt deren Regie­rungs­chef war. Kun ist bis heu­te eine der umstrit­ten­sten Figu­ren der unga­ri­schen Geschich­te. Einer­seits gilt er als »roter Dik­ta­tor« und ver­ant­wort­lich für die angeb­li­che Schreckens­herr­schaft des Jah­res 1919. In den 1930er Jah­ren wur­de Kun im sowje­ti­schen Exil aber Opfer der sta­lin­schen Säu­be­run­gen. Wenig bekannt ist, dass er im März 1919 aus poli­ti­schen Grün­den inhaf­tiert war und die Sozi­al­de­mo­kra­ten ihn aus dem Gefäng­nis holen muss­ten, damit er als »Kom­mis­sar für Äuße­res« in die Räte­re­gie­rung auf­ge­nom­men wer­den konnte.

Der renom­mier­te Histo­ri­ker Béla Bodó wid­met sich in sei­nem Bei­trag dem Ungleich­ge­wicht in der Bewer­tung von »rotem« und »wei­ßem« Ter­ror. Er weist detail­liert nach, dass es zwar unzwei­fel­haft auch Plün­de­run­gen und Erschie­ßun­gen durch die auf Sei­ten der Räte­re­gie­rung kämp­fen­den Arbei­ter­mi­li­zen gab, die Mor­de und Gewalt­ta­ten, wel­che auf das Kon­to der Kon­ter­re­vo­lu­ti­on gin­gen, jedoch ein­deu­tig über­wo­gen. Es waren in der Haupt­sa­che anti­se­mi­tisch geson­ne­ne para­mi­li­tä­ri­sche wei­ße Ein­hei­ten, die damals mas­sen­haft Unbe­tei­lig­te umbrach­ten oder zu Tode fol­ter­ten. Zu ähn­li­chen Ergeb­nis­sen kommt auch der Bei­trag von Julia Richers und Regi­na Fritz: Dem wei­ßen Ter­ror fie­len nicht nur Anhän­ger der Räte­re­gie­rung zum Opfer, son­dern auch rech­te Sozi­al­de­mo­kra­ten und bür­ger­li­che Libe­ra­le. Pogro­me gegen die jüdi­sche Bevöl­ke­rung waren im Rücken der kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­ren Trup­pen an der Tages­ord­nung. Die Macht­er­grei­fung Hor­thys war dann Auf­takt für die juden­feind­li­che Gesetz­ge­bung der 1930er und 1940er Jahre.

Chri­sti­an Koller/​Matthias Mar­schik (Hg.): »Die Unga­ri­sche Räte­re­pu­blik 1919. Innen­an­sich­ten – Außen­per­spek­ti­ven – Fol­ge­wir­kun­gen«, Pro­me­dia Ver­lag, 277 Sei­ten, 21,90 €