In Potsdam gibt es im September eine neue Runde von Stadtradeln. Motto: Radeln für ein gutes Klima. Landbriefträger Brose ist dabei. Er kann nicht stillstehen, stillsitzen schon gar nicht, denn er hat infolge seines Berufs eine Beinnervosität. Wenn eine Sitzung zu lange dauert, muss er auf dem Vorflur zur Erholung immer mal einen kleinen Geschwindmarsch einlegen. Neuerdings hat sich Brose ein Fahrrad angeschafft, wie sie jetzt überall Mode sind. Rentmeister Fix vom Kloster Wutz hat schließlich auch eines. Und wenn der eins hat, mit wie viel größerer Berechtigung kann er als Landbriefträger ein Rad brauchen. Schon von Berufswegen. Brose sagt Rad, weil er das fremde Wort, das so verschieden ausgesprochen wird, nicht leiden kann. »Manche sagen ›ci‹, und manche sagen ›schi‹.« Bildungsprätensionen sind ihm fremd, aber man will sich doch auch nicht bloßstellen. Brose ist jedenfalls dabei und radelt mit für das Team »Heart of Mittelmark« (Stechlinsee – Rheinsberg – Wutz). Er fährt sowieso. Ob mit oder ohne Stadt- und Land-Radeln.
Landbriefträger Brose ist übrigens der Meinung, dass die Verkehrsregeln geändert gehören. Muskelkraft soll stets vor Maschinenkraft den Vorrang haben, und klein vor groß, also genau umgekehrt wie bisher. Erst die Geher, dann die Radler, danach die Reiter und Leute mit Pferdekutschen und erst ganz zum Schluss die zwei-, drei-, vier- oder mehrrädrigen Motor-Fahrzeuge und -Kutschen. Auf See ist es schon so geregelt. Auf Land muss umgeregelt werden. Außerdem ist seiner Meinung nach das Tempo generell zu hoch und sollte zukünftig per Gesetz auf ein angemessenes Maß reduziert werden. Niemand sollte in einer Siedlung schneller als 1 Meile pro Stunde fahren dürfen. Lieber noch etwas langsamer. Schritttempo. Wie soll man sonst seine Neuigkeiten austauschen.
Als nächstes wird Brose die Wahlbenachrichtigungen in jedes Haus im Landkreis tragen. Darauf freut er sich schon. Das gibt tüchtig Kilometer und allerhand intrikate Plaudereien, ja Friktionen. Seine Wahlprognosen haben sich bisher noch immer als richtig erwiesen. Das hat sich inzwischen bis in die Landeshauptstadt rumgesprochen. »Mehrheit?« Brose orakelt gern mit schillernden Zitaten. »Mehrheit ist Unsinn. Der Staat muss untergehn, früh oder spät, wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.« Wobei ihm natürlich klar ist, dass letzteres das wichtigere Kriterium ist. Ein Mehrheitssieg allein ist noch nicht hinreichend für eine Katastrophe.
Im Übrigen ist Brose für Laissez-faire, was er für sich so übersetzt: »lass fahren dahin« bzw. »fahre fair«. Das schließt sich ja wohl nicht aus, sondern ein. Als die Maschinenkraftfahrer neulich auf der Potsdamer Breiten Straße einen Geher nicht durchlassen wollten, der ein vierrädriges Gestell vor sich herschob, an das er sich klammerte und mit dem er sich mühsam aufrecht hielt, da stoppte er den ganzen Verkehr und sorgte so dafür, dass der arme Mann passieren konnte. Einige Maschinenmobilisten kurbelten ihre Fensterscheiben runter und brüllten, er solle gefälligst die Fußgänger-Brücke benutzen, die extra da hinten am Ende der Straße eingerichtet sei, aber Brose, eigenwillig und stur, schrie zurück: »Ich werde gleich den Dorfgendarmen Uncke holen und euch alle aufschreiben lassen.« Das zog, und sie fuhren fort, hupend und stinkende Rauchfahnen hinter sich herziehend. »Verdammtes Pack«, schimpfte Brose, »haben alle noch nichts von Wohlfahrt gehört«.
Brose sieht sich im Gewinner-Team. Denn er kann auch die Kilometer seiner Freunde mit aufschreiben, zu denen Hoppenmarieken gehört, die ihre Geschäfte zwischen Hohen Vietz, Gusow und Frankfurt seit jüngstem auch radelnd betreibt. Auch die geradelten Luftwege von Fidje Papendeik will Brose für The Heart of Mittelmarch verbuchen lassen. Jens Ole Jepsen gehört aber nicht dazu, der ist für das falsche Team in die Pedale getreten, auch wenn seine täglichen Fahrten von Rugbüll nach Glüserup und zurück dem Klima kaum geschadet haben dürften, wenn man Klima nur im wörtlichen Sinn versteht. Für das gesellschaftliche Klima ist solche Freudenpflichtbesessenheit natürlich der Supergau.
»Vielleicht fährt mein Team nicht die meisten Kilometer ein«, schmunzelt Brose, »aber Gewinner sind wir trotzdem. Denn beim Radeln gewinnen alle.« Und er setzt hinzu: »Bei der Wahl ist es aber anders. Da dürft ihr eure Kreuze nicht an der falschen Stelle machen. Das könnte fatale Auswirkungen haben. Nicht Autobahnen sind Straßen der Verständigung und des Friedens, sondern Radwege.« Auf dem Dorfanger steigt er kurz ab und schaut in die Runde, wohin er rasch noch mal muss, um etwas auszurichten. Oder soll er eben mal bei der hübschen Wirtin halt machen, die ihm einladend zuwinkt. Gegen einen Kümmel wird Uncke nichts einzuwenden haben. Schließlich wird im Krug nicht bloß ausgeschenkt, da erfährt man auch immer was.