Welche Art von Literatur wird heutzutage von Literaturhäusern für förderungswürdig erachtet? Als Beispiel sollen der Text einer diesjährigen Bremer Autorenstipendiatin und dessen Begründung der Jury betrachtet werden. Zunächst ein Auszug aus dem prämierten Essay »Du Tier, ich Mensch?« für Leser ab 12 Jahren: »Wenn wir unsere Existenz herunterbrechen bis auf die kleinsten Bestandteile, aus denen unsere menschlichen Körper aufgebaut sind, so landen wir schließlich bei den Atomen. Nur etwa 20 verschiedene Grundbaustoffe bilden unseren menschlichen Körper. Und auch der Gartenrotschwanz, der eben durch mein Blickfeld gesegelt ist, während ich schreibe, besteht aus diesen Grundbaustoffen. So gesehen teilen wir alle alles miteinander, Menschen und Tiere.«
Hier fallen schon der sprunghafte Gedankengang, die eigentümliche Mischung von Fachbegriffen und Umgangssprache und die inhaltlichen Ungenauigkeiten auf: Atome sind noch einmal zerlegbar in die Elementarteilchen, die kleinste Einheit des Körpers ist für den Biologen die Zelle. Dies liest sich, als hätte die Autorin die vorsokratische Atomtheorie von Demokrit mit modernem naturwissenschaftlichem Allgemeinwissen vermischt. Außerdem wird in der Ich- und Wir-Perspektive gesprochen, woraus neue Unklarheiten entstehen. Im ersten Satz ist mit dem Wir vor allem die Autorin gemeint, die im Autorenplural dem Leser vorführt, wie man analysiert (»wenn wir herunterbrechen … so landen wir…«). Anschließend bezieht sich das Wir auf die gesamte Menschheit (»unsere menschlichen Körper«). Am Schluss umfasst das Wir sogar noch die Einheit von Mensch und Tier (»wir alle alles«). Mit einem Wort: In diesem Essay purzeln Begriffe, Gedanken und Perspektiven kunterbunt durcheinander.
Was findet die Jury hieran förderungswürdig? Aus ihrer Begründung: »Die Jury war beeindruckt von der kreativen Herangehensweise, die ein wildes Denken zulässt (…) und mit viel Witz und Fantasie stilsicher einen kindgerechten Zugang zum Thema« ermögliche.
Die Autorin hebt ausdrücklich hervor, dass sie sich als eine »Forschungsbegleiterin« versteht, die gemeinsam mit »euch« Fragen stellt. Das Heißt, die jungen Leserinnen und Leser, die sie nun direkt anspricht, sollen durch die Lektüre zum selbsttätigen Forschen veranlasst werden.
Aber die Autorin verstößt gleich mehrfach gegen diesen vollmundig verkündeten Vorsatz. Sie stellt viele unbegründete Behauptungen auf: »Nichts geht verloren in dieser Welt.« »Alles passiert in Kreisläufen.« »Die Welt steckt voller Widersprüche, und das macht alles sehr kompliziert.« Alles ist »immerzu (…) in Bewegung«. Dies sind Aussagen, die im Widerspruch zur Idee der Forschungsbegleitung vor dem Leser abgeladen werden, ohne dass er die Chance erhält, sie auf eigenen Wegen selbst zu entwickeln.
Damit nicht genug. Auch die Wertungen, zu denen der Leser eigentätig kommen sollte, werden gleich fix und fertig mitgeliefert: »Ein unglaubliches Wunder«. »Verrückt. Und irgendwie sehr tröstlich.«
Es ist ein Rätsel, wie die Jury zu dem Urteil gelangen kann, dass der Essay »anders als viele Sachbücher (…) kein fertiges Wissen einer Welterklärerin« präsentiert. Der Textauszug ist vollgestopft mit vorverdauten Bildungshäppchen – die zudem häufig fehlerhaft sind. So heißt es im Text resolut, dass in der Welt »immerzu alles in Bewegung« sei. Dies ist wohl eine Anspielung auf den ebenfalls vorsokratischen Philosophen Heraklit, dem der bekannte Ausspruch zugeschrieben wird: »Niemand kann zweimal in denselben Fluss steigen, denn alles fließt, nichts bleibt.«
In Wirklichkeit lautet Heraklits Fragment aber: »In die gleichen Ströme steigen wir und steigen wir nicht; wir sind es und sind es nicht.«
Dies besagt das genaue Gegenteil der Aussage im Text: Sooft ich auch in den fließenden Strom hineinspringe und heil wieder herausklettere, bleiben Strom und ich dieselben. Trotz aller Veränderungen und Bewegungen und durch diese hindurch behalten Weser und Jürgen ihre Identität bei.
Ein solches dialektisches Denken hat die Jury nicht im Sinn, als sie den Essay dafür lobt, dass er zum »wilden Denken« einlade. Damit ist auch nicht das Denken der »Wilden« gemeint, das Claude Lévi-Strauss in seinem bekannten Buch »Das wilde Denken« (1962) über naturnahe Kulturen darstellt und würdigt. Es geht wohl eher um ein Denken, das sich außerhalb der üblichen Bahnen und eingefahrenen Ansichten und der Logik bewegt. Kurz: Gelobt wird ein Denken ohne Vernunft.
Zusammengefasst: Der Begründung der Jury mangelt es genauso wie dem Essay an gedanklicher und sprachlicher Präzision. Fast wünschte man sich, beide hätten doch besser der Künstlichen Intelligenz das Schreiben ihrer Texte überlassen.
Schlimmer. Mit dem Verfassen dieses Essays wird der grundlegende Unterschied zwischen Sachtext und fiktivem erzählendem Text zum Verschwinden gebracht. Indem die Autorin in der Wir-Form Fragen an die Leser stellt, legt sie eine Erzählerinstanz an, die die bisherige Gattung der Sachtexte aufsprengt.
Noch schlimmer. Es tritt kein mit mehr oder weniger sicherem Wissen ausgestatteter auktorialer Erzähler auf wie zum Beispiel in den Romanen von Charles Dickens, Johann Wolfgang Goethe oder Honoré Balzac. Hier wird vielmehr der berüchtigte »unzuverlässige« Erzähler aus dem (post-)modernen Literaturbetrieb auf den Sachtext losgelassen. Der unzuverlässige Erzähler ist gekennzeichnet durch radikalen Subjektivismus, mangelnde Sachkompetenz und beschränkte Ausdrucksfähigkeit. So wird dem Sachtext der letzte Rest an Vernünftigkeit ausgetrieben.
Dies ist auch Merkmal vieler Podcasts, in denen Laien über Themen quatschen, von denen sie keine Ahnung haben. Der tarzansprachliche Titel »Du Tier, ich Mensch?« ist schon Programm des ganzen Essays. Darin wird nicht mehr rational argumentiert. Eine solche Text- und Gedankenverstümmelung auch noch als einen »kindgerechten Zugang« zum Thema der Mensch-Tier-Beziehungen zu verkaufen, zeigt, auf welches Niveau die didaktische Reflexion heutzutage herabgesunken ist.
Außerdem wird der Fließtext des Essays von Marginalien unterbrochen, die unter anderem Begriffserklärungen, Textverbesserungen und Hinweise auf weitere nachzuforschende Themen bieten. Solche Paratexte sind nichts weltbewegend Neues, aber hier sollen sie wohl dazu ermuntern, nach dem Smartphone zu greifen. Liegt die von der Jury gewürdigte »innovative und originelle Weise« des Essays darin, sich selbst abzuschaffen und die Leser zu Google weiterzuleiten?
Am schlimmsten aber ist, dass die Autorin des vom Bremer Senator für Kultur preisgekrönten Essays anscheinend den Mut verloren hat, die Welt vermittelst der Vernunft zu erkunden. Damit verstärkt die mutlose Literatur die Trends des Irrationalismus und des Antihumanismus, statt das junge Lesepublikum zu animieren und zu befähigen, solche Trends kritisch zu erkennen und sich gegen sie zu wenden.
Es wäre vielmehr Aufgabe der Jury gewesen, die Autorin zu schützen und sie vor den Gefahren einer solchen Literatur zu warnen. Stattdessen: »Die Jury ist begeistert und überzeugt, dass daraus ein besonderes, Alt und Jung inspirierendes und darüber hinaus wunderbar illustriertes Buch wird.« Zumindest spricht die Jury offen aus, dass sie im Interesse des Buchhandels juriert.