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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Quo vadis deutsche Literatur?

Wel­che Art von Lite­ra­tur wird heut­zu­ta­ge von Lite­ra­tur­häu­sern für för­de­rungs­wür­dig erach­tet? Als Bei­spiel sol­len der Text einer dies­jäh­ri­gen Bre­mer Autoren­sti­pen­dia­tin und des­sen Begrün­dung der Jury betrach­tet wer­den. Zunächst ein Aus­zug aus dem prä­mier­ten Essay »Du Tier, ich Mensch?« für Leser ab 12 Jah­ren: »Wenn wir unse­re Exi­stenz her­un­ter­bre­chen bis auf die klein­sten Bestand­tei­le, aus denen unse­re mensch­li­chen Kör­per auf­ge­baut sind, so lan­den wir schließ­lich bei den Ato­men. Nur etwa 20 ver­schie­de­ne Grund­bau­stof­fe bil­den unse­ren mensch­li­chen Kör­per. Und auch der Gar­ten­rot­schwanz, der eben durch mein Blick­feld gese­gelt ist, wäh­rend ich schrei­be, besteht aus die­sen Grund­bau­stof­fen. So gese­hen tei­len wir alle alles mit­ein­an­der, Men­schen und Tiere.«

Hier fal­len schon der sprung­haf­te Gedan­ken­gang, die eigen­tüm­li­che Mischung von Fach­be­grif­fen und Umgangs­spra­che und die inhalt­li­chen Unge­nau­ig­kei­ten auf: Ato­me sind noch ein­mal zer­leg­bar in die Ele­men­tar­teil­chen, die klein­ste Ein­heit des Kör­pers ist für den Bio­lo­gen die Zel­le. Dies liest sich, als hät­te die Autorin die vor­so­kra­ti­sche Atom­theo­rie von Demo­krit mit moder­nem natur­wis­sen­schaft­li­chem All­ge­mein­wis­sen ver­mischt. Außer­dem wird in der Ich- und Wir-Per­spek­ti­ve gespro­chen, wor­aus neue Unklar­hei­ten ent­ste­hen. Im ersten Satz ist mit dem Wir vor allem die Autorin gemeint, die im Autoren­plu­ral dem Leser vor­führt, wie man ana­ly­siert (»wenn wir her­un­ter­bre­chen … so lan­den wir…«). Anschlie­ßend bezieht sich das Wir auf die gesam­te Mensch­heit (»unse­re mensch­li­chen Kör­per«). Am Schluss umfasst das Wir sogar noch die Ein­heit von Mensch und Tier (»wir alle alles«). Mit einem Wort: In die­sem Essay pur­zeln Begrif­fe, Gedan­ken und Per­spek­ti­ven kun­ter­bunt durcheinander.

Was fin­det die Jury hier­an för­de­rungs­wür­dig? Aus ihrer Begrün­dung: »Die Jury war beein­druckt von der krea­ti­ven Her­an­ge­hens­wei­se, die ein wil­des Den­ken zulässt (…) und mit viel Witz und Fan­ta­sie stil­si­cher einen kind­ge­rech­ten Zugang zum The­ma« ermögliche.

Die Autorin hebt aus­drück­lich her­vor, dass sie sich als eine »For­schungs­be­glei­te­rin« ver­steht, die gemein­sam mit »euch« Fra­gen stellt. Das Heißt, die jun­gen Lese­rin­nen und Leser, die sie nun direkt anspricht, sol­len durch die Lek­tü­re zum selbst­tä­ti­gen For­schen ver­an­lasst werden.

Aber die Autorin ver­stößt gleich mehr­fach gegen die­sen voll­mun­dig ver­kün­de­ten Vor­satz. Sie stellt vie­le unbe­grün­de­te Behaup­tun­gen auf: »Nichts geht ver­lo­ren in die­ser Welt.« »Alles pas­siert in Kreis­läu­fen.« »Die Welt steckt vol­ler Wider­sprü­che, und das macht alles sehr kom­pli­ziert.« Alles ist »immer­zu (…) in Bewe­gung«. Dies sind Aus­sa­gen, die im Wider­spruch zur Idee der For­schungs­be­glei­tung vor dem Leser abge­la­den wer­den, ohne dass er die Chan­ce erhält, sie auf eige­nen Wegen selbst zu entwickeln.

Damit nicht genug. Auch die Wer­tun­gen, zu denen der Leser eigen­tä­tig kom­men soll­te, wer­den gleich fix und fer­tig mit­ge­lie­fert: »Ein unglaub­li­ches Wun­der«. »Ver­rückt. Und irgend­wie sehr tröstlich.«

Es ist ein Rät­sel, wie die Jury zu dem Urteil gelan­gen kann, dass der Essay »anders als vie­le Sach­bü­cher (…) kein fer­ti­ges Wis­sen einer Welt­erklä­re­rin« prä­sen­tiert. Der Text­aus­zug ist voll­ge­stopft mit vor­ver­dau­ten Bil­dungs­häpp­chen – die zudem häu­fig feh­ler­haft sind. So heißt es im Text reso­lut, dass in der Welt »immer­zu alles in Bewe­gung« sei. Dies ist wohl eine Anspie­lung auf den eben­falls vor­so­kra­ti­schen Phi­lo­so­phen Hera­klit, dem der bekann­te Aus­spruch zuge­schrie­ben wird: »Nie­mand kann zwei­mal in den­sel­ben Fluss stei­gen, denn alles fließt, nichts bleibt.«

In Wirk­lich­keit lau­tet Hera­klits Frag­ment aber: »In die glei­chen Strö­me stei­gen wir und stei­gen wir nicht; wir sind es und sind es nicht.«

Dies besagt das genaue Gegen­teil der Aus­sa­ge im Text: Sooft ich auch in den flie­ßen­den Strom hin­ein­sprin­ge und heil wie­der her­aus­klet­te­re, blei­ben Strom und ich die­sel­ben. Trotz aller Ver­än­de­run­gen und Bewe­gun­gen und durch die­se hin­durch behal­ten Weser und Jür­gen ihre Iden­ti­tät bei.

Ein sol­ches dia­lek­ti­sches Den­ken hat die Jury nicht im Sinn, als sie den Essay dafür lobt, dass er zum »wil­den Den­ken« ein­la­de. Damit ist auch nicht das Den­ken der »Wil­den« gemeint, das Clau­de Lévi-Strauss in sei­nem bekann­ten Buch »Das wil­de Den­ken« (1962) über natur­na­he Kul­tu­ren dar­stellt und wür­digt. Es geht wohl eher um ein Den­ken, das sich außer­halb der übli­chen Bah­nen und ein­ge­fah­re­nen Ansich­ten und der Logik bewegt. Kurz: Gelobt wird ein Den­ken ohne Vernunft.

Zusam­men­ge­fasst: Der Begrün­dung der Jury man­gelt es genau­so wie dem Essay an gedank­li­cher und sprach­li­cher Prä­zi­si­on. Fast wünsch­te man sich, bei­de hät­ten doch bes­ser der Künst­li­chen Intel­li­genz das Schrei­ben ihrer Tex­te überlassen.

Schlim­mer. Mit dem Ver­fas­sen die­ses Essays wird der grund­le­gen­de Unter­schied zwi­schen Sach­text und fik­ti­vem erzäh­len­dem Text zum Ver­schwin­den gebracht. Indem die Autorin in der Wir-Form Fra­gen an die Leser stellt, legt sie eine Erzäh­ler­instanz an, die die bis­he­ri­ge Gat­tung der Sach­tex­te aufsprengt.

Noch schlim­mer. Es tritt kein mit mehr oder weni­ger siche­rem Wis­sen aus­ge­stat­te­ter aukt­oria­ler Erzäh­ler auf wie zum Bei­spiel in den Roma­nen von Charles Dickens, Johann Wolf­gang Goe­the oder Hono­ré Bal­zac. Hier wird viel­mehr der berüch­tig­te »unzu­ver­läs­si­ge« Erzäh­ler aus dem (post-)modernen Lite­ra­tur­be­trieb auf den Sach­text los­ge­las­sen. Der unzu­ver­läs­si­ge Erzäh­ler ist gekenn­zeich­net durch radi­ka­len Sub­jek­ti­vis­mus, man­geln­de Sach­kom­pe­tenz und beschränk­te Aus­drucks­fä­hig­keit. So wird dem Sach­text der letz­te Rest an Ver­nünf­tig­keit ausgetrieben.

Dies ist auch Merk­mal vie­ler Pod­casts, in denen Lai­en über The­men quat­schen, von denen sie kei­ne Ahnung haben. Der tar­z­an­sprach­li­che Titel »Du Tier, ich Mensch?« ist schon Pro­gramm des gan­zen Essays. Dar­in wird nicht mehr ratio­nal argu­men­tiert. Eine sol­che Text- und Gedan­ken­ver­stüm­me­lung auch noch als einen »kind­ge­rech­ten Zugang« zum The­ma der Mensch-Tier-Bezie­hun­gen zu ver­kau­fen, zeigt, auf wel­ches Niveau die didak­ti­sche Refle­xi­on heut­zu­ta­ge her­ab­ge­sun­ken ist.

Außer­dem wird der Fließ­text des Essays von Mar­gi­na­li­en unter­bro­chen, die unter ande­rem Begriffs­er­klä­run­gen, Text­ver­bes­se­run­gen und Hin­wei­se auf wei­te­re nach­zu­for­schen­de The­men bie­ten. Sol­che Para­tex­te sind nichts welt­be­we­gend Neu­es, aber hier sol­len sie wohl dazu ermun­tern, nach dem Smart­phone zu grei­fen. Liegt die von der Jury gewür­dig­te »inno­va­ti­ve und ori­gi­nel­le Wei­se« des Essays dar­in, sich selbst abzu­schaf­fen und die Leser zu Goog­le weiterzuleiten?

Am schlimm­sten aber ist, dass die Autorin des vom Bre­mer Sena­tor für Kul­tur preis­ge­krön­ten Essays anschei­nend den Mut ver­lo­ren hat, die Welt ver­mit­telst der Ver­nunft zu erkun­den. Damit ver­stärkt die mut­lo­se Lite­ra­tur die Trends des Irra­tio­na­lis­mus und des Anti­hu­ma­nis­mus, statt das jun­ge Lese­pu­bli­kum zu ani­mie­ren und zu befä­hi­gen, sol­che Trends kri­tisch zu erken­nen und sich gegen sie zu wenden.

Es wäre viel­mehr Auf­ga­be der Jury gewe­sen, die Autorin zu schüt­zen und sie vor den Gefah­ren einer sol­chen Lite­ra­tur zu war­nen. Statt­des­sen: »Die Jury ist begei­stert und über­zeugt, dass dar­aus ein beson­de­res, Alt und Jung inspi­rie­ren­des und dar­über hin­aus wun­der­bar illu­strier­tes Buch wird.« Zumin­dest spricht die Jury offen aus, dass sie im Inter­es­se des Buch­han­dels juriert.