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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Quarantäne als Sippenhaft

Das Coro­na­vi­rus sei ein »Gleich­ma­cher«, der unter­schieds­los Arme wie Rei­che, Mehr­hei­ten und Min­der­hei­ten tref­fe. Das besagt eine der­zeit belieb­te Erzäh­lung. Das Gegen­teil ist der Fall: In Wirk­lich­keit ver­schärft die Pan­de­mie die bestehen­den Ungleich­hei­ten und trifft vor allem Ange­hö­ri­ge ver­letz­ba­rer, mar­gi­na­li­sier­ter und ent­rech­te­ter Min­der­hei­ten. In Euro­pa sind beson­ders Roma betroffen.

Zahl­rei­che Ver­tre­ter der Min­der­heit in meh­re­ren Län­dern machen seit Wochen auf das Pro­blem auf­merk­sam. Zum einen sei­en Roma auf­grund mas­si­ver struk­tu­rel­ler Schlech­ter­stel­lung in ihren Wohn- und Lebens­ver­hält­nis­sen ohne­hin beson­ders durch das Virus gefähr­det. Zum ande­ren gebe es in zahl­rei­chen Län­dern, ins­be­son­de­re in Süd- und Süd­ost­eu­ro­pa, eine Radi­ka­li­sie­rung anti­zi­ga­ni­sti­scher Ein­stel­lun­gen und Maßnahmen.

Wie sehr die Ein­schät­zung zutrifft, zeigt sich in Bul­ga­ri­en. Dort wer­den für die Ver­brei­tung der Seu­che Per­so­nen ver­ant­wort­lich gemacht, die nach Aus­bruch der Pan­de­mie aus West­eu­ro­pa zurück­ge­kehrt sind, weil sie ihre Arbeit dort ver­lo­ren haben. Genau­er: Den Roma unter den Rück­keh­rern wird vor­ge­wor­fen, das Virus »ein­ge­schleppt« zu haben und die Qua­ran­tä­ne­be­stim­mun­gen zu miss­ach­ten. Der letz­te­re Vor­wurf trifft zum Teil zu, was Sozi­al­ar­bei­ter im Land auch auf die schlech­te Infor­ma­ti­ons­po­li­tik der Behör­den zurück­füh­ren. Qua­ran­tän­ever­let­zer gibt es aber auch unter Nicht-Roma, was von den Behör­den nicht wei­ter beach­tet wird. Gegen­über den Roma reagie­ren sie jedoch dra­stisch: Im April wur­den min­de­stens drei Roma-Sied­lun­gen in den Städ­ten Sofia und Pesh­tera mit ins­ge­samt 50.000 Ein­woh­nern kom­plett unter Qua­ran­tä­ne gestellt. Qua­ran­tän­ever­let­zun­gen durch Nicht-Roma sind bis­lang noch nie durch die Abrie­ge­lung gan­zer Wohn­vier­tel mit Tau­sen­den Unbe­tei­lig­ten sank­tio­niert wor­den. Es geht bei der Maß­nah­me also nicht um Schutz, son­dern um Stigmatisierung.

Die Qua­ran­tä­ne wird von Poli­zei­kräf­ten bewacht. Das Ver­las­sen der Vier­tel ist nur nach Aus­weis­kon­trol­le und Nach­weis eines wich­ti­gen Grun­des gestat­tet – was die Bewoh­ner letzt­lich der Will­kür der Poli­zei aus­lie­fert, die nach Berich­ten Betrof­fe­ner öfter mal die Hand auf­hält. Der Zugang zu Märk­ten und Ärz­ten ist erheb­lich erschwert; Apo­the­ken gibt es längst nicht in allen Roma-Vierteln.

Vor allem rechts­extre­me Poli­ti­ker – deren Par­tei­en­bünd­nis »Ver­ei­nig­te Patrio­ten« an der Regie­rung betei­ligt ist – dro­hen ganz offen. »Hal­tet euch an die Regeln«, for­der­te der Bür­ger­mei­ster des Ortes Strald­scha die Roma-Gemein­schaft auf. »Nicht, dass sich jemand wun­dert, war­um die Sozi­al­hil­fe fehlt, war­um der Bag­ger in die ille­ga­le Baracke stürzt oder der gewünsch­te Wohn­sitz plötz­lich ver­wehrt wird.« Der Euro­pa­ab­ge­ord­ne­te Angel Dscham­ba­ski bezeich­net Roma-Sied­lun­gen als kol­lek­ti­ve Gefahr für die Bevöl­ke­rung, weil sie ein »wah­res Nest der Ansteckung« sei­en, und for­dert, die angeb­lich von den Roma aus­ge­hen­de Gefahr müs­se »kon­trol­liert und ein­ge­dämmt« wer­den. Auch der (par­tei­lo­se) Innen­mi­ni­ster droh­te bereits mit wei­te­ren Abrie­ge­lun­gen, wenn Abstands­ge­bo­te nicht ein­ge­hal­ten werden.

Die Äuße­run­gen machen deut­lich: Roma sol­len als Sün­den­bock für die Virus­er­kran­kung herhalten.

In man­chen Städ­ten, etwa in Bur­gas, wer­den Droh­nen ein­ge­setzt, um aus der Fer­ne her­aus die Kör­per­tem­pe­ra­tur von Men­schen zu mes­sen, laut Amne­sty Inter­na­tio­nal offen­bar aus­schließ­lich bei Roma. Die Orga­ni­sa­ti­on weist in einem Bericht von Mit­te April dar­auf hin, dass die Qua­ran­tä­ne eines gan­zen Wohn­vier­tels in min­de­stens einem Fall damit begrün­det wur­de, es gebe dort kei­ne Was­ser­ver­sor­gung und kaum sani­tä­re Anla­gen, so dass die Ein­woh­ner die Hygie­ne­re­geln nicht ein­hal­ten könn­ten. Anstatt Anstren­gun­gen zu unter­neh­men, die struk­tu­rel­le Dis­kri­mi­nie­rung end­lich zu besei­ti­gen und bei­spiels­wei­se Was­ser­lei­tun­gen zu legen oder Tank­wa­gen und Toi­let­ten bereit­zu­stel­len, wird die pre­kä­re Situa­ti­on der Roma zyni­scher Wei­se zum »Argu­ment« für ihre ver­schärf­te Diskriminierung.

In Bul­ga­ri­en ist die offe­ne Dis­kri­mi­nie­rung der Roma anschei­nend beson­ders stark, aber ähn­li­che Berich­te gibt es auch aus ande­ren Län­dern. Aus Nord­ma­ze­do­ni­en etwa berich­tet das Euro­pean Roma Rights Cent­re, dass im März aus einer 200-köp­fi­gen Grup­pe von Rück­keh­rern aus Öster­reich und Ita­li­en allein die neun Mit­glie­der einer Roma-Musi­ker­grup­pe her­aus­ge­nom­men wor­den sei­en, um sie in einer Kaser­ne in Qua­ran­tä­ne zu hal­ten. Alle ande­ren hät­ten ledig­lich eine Erklä­rung unter­schrei­ben müs­sen, sich selbst zu iso­lie­ren. In der Slo­wa­kei wer­den stig­ma­ti­sie­ren­de Viren­tests an Roma durch­ge­führt, teils von der Armee, und fünf Sied­lun­gen von Roma ste­hen auch dort unter Qua­ran­tä­ne. Wie auch in Bul­ga­ri­en sind die repres­si­ven Maß­nah­men von kei­nem Plan beglei­tet, wie man infi­zier­te Per­so­nen adäquat behan­delt oder ihre Umge­bung vor Ansteckung schützt oder eine Ver­sor­gung der betrof­fe­nen Vier­tel mit sau­be­rem Was­ser, Sani­tär­an­la­gen und Hygie­nemit­teln garan­tiert. Regie­rungs­chef Igor Mato­vič ließ sich ledig­lich zu der Äuße­rung her­ab, die Mehr­heits­be­völ­ke­rung wäre bedroht, wenn die Roma aus ihren Sied­lun­gen »her­aus­krie­chen«. Auch in Rumä­ni­en sind meh­re­re Roma-Vier­tel abge­rie­gelt worden.

Der Zen­tral­rat Deut­scher Sin­ti und Roma und meh­re­re Roma-Orga­ni­sa­tio­nen aus den Bal­kan­staa­ten war­nen in einer gemein­sa­men Erklä­rung vor einer Zunah­me anti­zi­ga­ni­sti­scher Gewalt. Die Sor­ge wird auch von der EU-Kom­mis­sa­rin für Gleich­heits­po­li­tik, Hele­na Dal­li, und der Gene­ral­se­kre­tä­rin des Euro­pa­ra­tes, Mari­ja Pejči­no­vić Burić, geteilt. Gemein­sam ver­ur­teil­ten bei­de Anfang April den Anstieg von Hass­re­den im Inter­net und Fake News, die sich gegen Roma rich­ten. Es gel­te zu »ver­hin­dern, dass natio­na­le oder eth­ni­sche Min­der­hei­ten, ins­be­son­de­re Roma, in der aktu­el­len Kri­se zu Sün­den­böcken werden«.

Die Lebens­si­tua­ti­on zahl­rei­cher Roma prä­de­sti­niert sie, dem Virus zum Opfer zu fal­len: Für Hun­dert­tau­sen­de von ihnen sind Maß­nah­men wie regel­mä­ßi­ges Hän­de­wa­schen illu­so­risch, weil sie im Haus kein Lei­tungs­was­ser haben. Auf­ru­fe zum »Abstand­hal­ten« sind ange­sichts beeng­ter Wohn­ver­hält­nis­se und feh­len­der Frei­flä­chen in den Vier­teln – und bei Aus­gangs­sper­re – wir­kungs­los. In der Kri­se ver­schärft sich ihre Lage wei­ter, da vie­le ihre Ein­kom­mens­mög­lich­kei­ten ver­lo­ren haben. Vom regu­lä­ren Arbeits­markt sind die mei­sten Roma aus­ge­schlos­sen. Doch Tage­löh­ner wer­den der­zeit weni­ger gebraucht, und Tätig­kei­ten wie das Sam­meln von Alt­me­tall, Han­del mit Gegen­stän­den des All­tags­be­darfs oder Sam­meln und Ver­kauf von Kräu­tern sind unter­bun­den, weil Märk­te geschlos­sen sind und eine strik­te Aus­gangs­sper­re herrscht. Auch der Weg nach West­eu­ro­pa, um sich dort mit Tage­löh­ne­r­ei, Musi­zie­ren oder schlicht Bet­teln durch­zu­schla­gen, ist der­zeit abgeschnitten.

Reser­ven, um den Lock­down zu über­ste­hen, ste­hen vie­len Roma nicht zur Ver­fü­gung, so dass jetzt bereits der Kauf von Sei­fe, geschwei­ge denn von Mund­schutz, für vie­le einen kaum erschwing­li­chen Luxus dar­stellt. All die­se Fak­to­ren füh­ren dazu, dass für Roma eine erhöh­te Gefahr der Ver­brei­tung des Virus besteht – bei weit weni­ger Mög­lich­kei­ten, sich im Krank­heits­fall medi­zi­nisch ver­sor­gen zu lassen.

Sozi­al­ar­bei­ter bezie­hungs­wei­se Media­to­ren, die als Kon­takt­stel­le zwi­schen Roma-Gemein­schaf­ten und Behör­den fun­gie­ren, bemü­hen sich, huma­ni­tä­re Hil­fe zu lei­sten und Spen­den zu sam­meln, war­nen aber vor einer dro­hen­den Hungersnot.

Auch die lang­fri­sti­gen Fol­gen der Aus­gangs­ein­schrän­kun­gen dürf­ten Roma zumin­dest in Süd- und Ost­eu­ro­pa här­ter tref­fen als die Mehr­heits­ge­sell­schaf­ten. Schu­len sind geschlos­sen, eben­so Lern- und Nach­hil­fe­zen­tren. Unter­richt per Inter­net ist ihnen man­gels Com­pu­tern und Inter­net­zu­gang kaum mög­lich. In man­chen Län­dern, wie Ser­bi­en und Nord­ma­ze­do­ni­en, wird übers Fern­se­hen »unter­rich­tet«, was zwar leich­ter zugäng­lich ist, aber in über­füll­ten Ein­raum­woh­nun­gen auch wenig effek­tiv. In ihrem gemein­sa­men Papier war­nen die Roma-Orga­ni­sa­tio­nen, man müs­se »in naher Zukunft mit hohen Abbre­cher­quo­ten und Zehn­tau­sen­den von Kin­dern rech­nen, die in den Schu­len den Anschluss verlieren«.

Die Orga­ni­sa­tio­nen for­dern von den natio­na­len Regie­run­gen und der EU, schnellst­mög­lich in allen Roma-Sied­lun­gen Lebens­mit­tel, sau­be­res Was­ser und grund­le­gen­de Mit­tel für Hygie­ne und Gesund­heits­schutz zur Ver­fü­gung zu stel­len. Auch ein dis­kri­mi­nie­rungs­frei­er Zugang zur Gesund­heits­ver­sor­gung und die Ent­wick­lung lang­fri­sti­ger Pro­gram­me zur Woh­nungs- und Infra­struk­tur­ent­wick­lung sei­en erforderlich.

Ob sie erhört wer­den, ist frag­lich. Die Euro­päi­sche Uni­on stellt zwar Mit­tel für Sofort­hil­fen zur Ver­fü­gung, hat aber die Lage der Roma bis­lang nicht im Blick. Zugleich stellt die Kom­mis­si­on in einem unver­öf­fent­lich­ten Bericht Über­le­gun­gen an, die bestehen­den Pro­gram­me zur Inte­gra­ti­on von Roma auf das näch­ste Jahr zu ver­schie­ben, »bis die nor­ma­len Geschäf­te wie­der auf­ge­nom­men wer­den kön­nen«. Bis dahin wird die Lage der Roma aber noch weit schlech­ter sein als heu­te – Gegen­steu­ern ist also höchst dringlich.