Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Quälende Pflege

Der Pfle­ge­not­stand spitzt sich zu. Die bri­san­te Kom­bi­na­ti­on von altern­der Gesell­schaft und Pfle­ge­kräf­te­man­gel führt zu immer schreck­li­che­ren Zuständen.

Eine Frau, deren Mut­ter im Pfle­ge­heim ist, beschreibt ihre Erfah­run­gen in die­sem Heim. Weil sie Angst um ihre Mut­ter hat, möch­te sie anonym blei­ben. Denn wenn bekannt wird, dass da die Toch­ter schreibt, sind nega­ti­ve Rück­wir­kun­gen auf die Pfle­ge der Mut­ter nicht aus­zu­schlie­ßen. Das fürch­tet die Toch­ter und sie dürf­te Recht haben. Sie schreibt:

»Willst Du den Wert eines alten Men­schen wis­sen, geh in ein Pfle­ge­heim! Schau Dich um! Ach­te auf Sau­ber­keit und Hygie­ne im Haus! Rie­che und schmecke das fade Essen! Trin­ke einen Schluck vom kal­ten Kaf­fee! Pro­bie­re vom trocke­nen Brot! Beob­ach­te das mür­ri­sche Team! Nimm Kennt­nis vom Umgangs­ton! Höre das respekt­lo­se Duzen! Ana­ly­sie­re die Hek­tik des Pfle­ge­ab­laufs! Erfah­re von Demü­ti­gun­gen und Miss­hand­lun­gen! Ver­su­che, für den Toi­let­ten­gang Hil­fe zu bekom­men! Sieh die über­gro­ße Win­del, die vier Liter fasst! Beach­te die Grob­heit im Umgang mit den Pfle­ge­be­dürf­ti­gen! Blicke auf die Haut, die Fin­ger- und Fuß­nä­gel der Bewohner!

Bemer­ke die blau­en Flecken und Kör­per­ver­let­zun­gen! Ver­glei­che die Pfle­ge­do­ku­men­ta­ti­on mit der durch­ge­führ­ten Pfle­ge! Erdul­de die Stumpf­heit end­lo­ser Tage! Erken­ne die Ver­nach­läs­si­gun­gen! Emp­fin­de die Ein­sam­keit alter Men­schen! Begrei­fe die Abhän­gig­keit der hilf­lo­sen Men­schen! Nimm den Stellenschlüssel für Pfle­ge­kräf­te wahr! Pro­bie­re auf­zu­be­geh­ren! Erle­be die Ohn­macht der Pflegebedürftigen!

Willst Du wis­sen, was DEIN Leben im Alter wert ist, sieh Dich in Pfle­ge­hei­men um!«

War­um gibt es noch kein #MeToo von Men­schen, die Gewalt oder Ver­nach­läs­si­gung in der Pfle­ge erfah­ren? Naja, die Ant­wort ist klar: Wel­che 88jährige Frau im Pfle­ge­bett hat schon ein Smart­phone und kann es auch noch bedie­nen? Aber selbst, wenn sie es hät­te und wenn sie das »#« auf der Tasta­tur fin­den wür­de – wer wür­de sie hören? Und wür­de sich die Öffent­lich­keit für die #MeToo-Bot­schaft einer 88-Jäh­ri­gen inter­es­sie­ren? Ist nicht sexy. Dabei kann kaum ein Zwei­fel dar­über bestehen, dass vie­le, vie­le Pfle­ge­be­dürf­ti­ge zu Opfern wer­den. Opfer von Gewalt. Opfer von Pfle­ge­feh­lern. Opfer von Ver­nach­läs­si­gung. Kon­kre­ter gesagt: Wie wol­len wir es nen­nen, wenn jemand stun­den­lang in sei­nen Exkre­men­ten liegt? Wie wol­len wir das nen­nen, wenn jemand vor Durst schreit und schreit und schreit und nie­mand kommt? Wie wol­len wir das nen­nen, wenn Men­schen »ins Bett gepflegt wer­den«, weil der Ertrag eines bett­lä­ge­ri­gen Men­schen für die Ein­rich­tung höher ist als der von einem noch mobi­len Men­schen? Wie wol­len wir das nen­nen, wenn ein Mensch, der Hil­fe braucht, um zur Toi­let­te zu gehen, die­se Hil­fe nicht bekommt? Wie wol­len wir es nen­nen, wenn ein Mensch mit Tablet­ten so ruhig­ge­stellt wird, dass ihm nur noch dump­fe, betäub­te Zuckun­gen bleiben?

Wann end­lich wird das jah­re­lan­ge Schwei­gen zu Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen im Pfle­ge­be­reich und im Umgang mit fra­gi­len Alten gebro­chen? Wer sorgt für ein #MeToo im Pfle­ge­be­reich? Für einen Auf­stand von unten? Wahr­schein­lich müss­ten es die Ange­hö­ri­gen selbst sein, die mit einem »Pfle­ge-MeToo« begin­nen. Und die­ses MeToo wird zunächst sicher mit dem Ver­dacht kon­fron­tiert sein, den wir aus der Debat­te um sexu­el­le Belä­sti­gung ken­nen: Das ist doch nicht glaub­wür­dig! Das ist doch über­trie­ben! Das kommt doch von denen, die immer etwas zu meckern haben!

Als Ant­wort auf einen Zei­tungs­auf­ruf des Insti­tuts für Sozio­lo­gie der Uni­ver­si­tät Gie­ßen erreich­te uns ein Sta­pel von Kla­ge­brie­fen, in denen Ange­hö­ri­ge von ihren Erleb­nis­sen in Pfle­ge­hei­men berich­te­ten. Immer wie­der lasen wir, dass die Betrof­fe­nen und ihre Ange­hö­ri­gen es nicht wagen, sich über die Zustän­de in den Hei­men zu beschwe­ren – aus Angst vor Repres­sa­li­en. Und der Autor und Pfle­ge­kri­ti­ker Claus Fussek hat mir einen Brief zur Ver­fü­gung gestellt – unter der Über­schrift »Sag bit­te nichts, aber schreib alles auf! Das glaubt dir sonst nie­mand!«, eben­falls geschrie­ben von einer Toch­ter, deren Mut­ter im Pfle­ge­heim ist:

»Mei­ne Mut­ter hat­te zeit­le­bens tatkräftig und selbstständig gehan­delt. Im Pfle­ge­heim war Eigen­ver­ant­wor­tung nicht mehr möglich. Sie war plötzlich abhängig von den Pflegekräften, von der Heim­lei­tung oder der Pfle­ge­dienst­lei­tung. Sie war abhängig von deren Lau­nen und deren mehr oder min­der vor­han­de­nem guten Wil­len. Da mei­ne Mut­ter zwar hoch­be­tagt, aber gei­stig abso­lut fit war, wuss­te ich, dass ihre Angst begründet war. Außer­dem stimm­ten ihre Schil­de­run­gen zum Umgang eini­ger Pflegekräfte mit den Pflegebedürftigen mit mei­nen Beob­ach­tun­gen überein. Zum Bei­spiel das Ver­wech­seln von Medi­ka­men­ten, das wochen­lang nicht frisch bezo­ge­ne Bett, die lan­gen War­te­zei­ten bei Hil­fe­ru­fen, ein rup­pi­ger Befehls­ton, das schlech­te Essen – all das und noch viel mehr durf­te ich nicht an zuständiger Stel­le anspre­chen. Das hat­te ich mei­ner Mut­ter zuge­sagt. Abge­se­hen von weni­gen lebens­not­wen­di­gen Beschwer­den hielt ich die­ses Ver­spre­chen bis zu dem Tag, an dem das zwei­la­gi­ge Toi­let­ten­pa­pier ratio­niert wur­de. Die gemein­sa­me Toi­let­te zwi­schen zwei Zim­mern wur­de von der benach­bar­ten Bewoh­ne­rin wegen einer Magen-Darm-Grip­pe stark fre­quen­tiert. Das hauchdünne Toi­let­ten­pa­pier und die Ersatz­rol­le waren schnell auf­ge­braucht. Die Bit­te mei­ner Mut­ter um eine wei­te­re Rol­le wur­de von der Pfle­ge­kraft abge­lehnt: ›Sie haben erst gestern eine Ersatz­rol­le bekom­men. Das geht nicht, dass sie so viel Papier ver­brau­chen.‹ Ich war über die­sen Vor­fall empört, habe not­ge­drun­gen von der Ange­stell­ten-Toi­let­te zwei Rol­len geholt und am nächsten Tag Nach­schub gekauft. Mit dem gera­de erwor­be­nen Mehr­fach-Pack Klo­pa­pier unterm Arm betrat ich das Pfle­ge­heim. Irgend­je­mand hat dann die­se überaus ›bedeut­sa­me‹ Lie­fe­rung der Pfle­ge­dienst­lei­tung mit­ge­teilt. Die Pfle­ge­dienst­lei­tung, die ich bis dahin nur bei der Anmel­dung gese­hen hat­te, bat mich zum Gespräch. Ich wur­de auf­ge­for­dert, das Toi­let­ten­pa­pier in einer Tasche ver­packt mit­zu­brin­gen. Die teil­wei­se durch­sich­ti­ge Plastiktüte, in der die Rol­len ver­kauft wer­den, las­se den Inhalt erken­nen. Das sei sei­tens des Hei­mes nicht zu akzep­tie­ren. Dass ich überhaupt Toi­let­ten­pa­pier anlie­fern muss­te, stand nicht zur Dis­kus­si­on. Da die Zim­mer­nach­ba­rin mei­ner Mut­ter kei­ne Angehörigen hat­te, habe ich bei mei­nen täglichen Besu­chen häufig Toi­let­ten­pa­pier mit­ge­bracht, ver­packt in der üblichen Verkaufsfolientüte. Während man pfle­ge­ri­sche Missstände igno­rier­te, war dem Pfle­ge­heim mei­ne für alle Bewoh­ner und Besu­cher offen­sicht­li­che Klo­pa­pier­lie­fe­rung ein Dorn im Auge. Mir wur­de wörtlich gesagt: ›Ihre Mut­ter kann blei­ben, Sie nicht!‹ Zuerst glaub­te ich, mich verhört zu haben. Aber es war ernst gemeint. Mei­ne Besu­che wur­den nicht mehr gedul­det. Da ich mei­ne Mut­ter nicht allein las­sen konn­te und woll­te, muss­ten wir inner­halb kürzester Zeit ein ande­res Pfle­ge­heim suchen.«

Die Ver­un­glimp­fung, die jene erle­ben, die sich beschwe­ren, lau­tet immer: ein Que­ru­lant. Ken­nen wir das nicht aus der Debat­te um sexu­el­le Belä­sti­gung? Wur­den nicht die Frau­en zunächst (und manch­mal bis heu­te) als unglaub­wür­dig dis­kre­di­tiert? Ein Pfle­ge-Me-Too wür­de ähn­li­che Bar­rie­ren zu über­wun­den haben. Aber wahr­schein­li­cher ist, dass es ein sol­ches Pfle­ge-Me-Too unter der Über­schrift: »Das las­sen wir uns nicht mehr gefal­len!« nie geben wird. Natür­lich liegt das auch an der schwer ver­ständ­li­chen ängst­li­chen Hal­tung des Pfle­ge­per­so­nals, das nicht für sei­ne eige­nen Inter­es­sen ein­tritt, geschwei­ge denn für die der Pfle­ge­be­dürf­ti­gen. Zwei Pfle­gen­de, die für 30 Men­schen zustän­dig sind: Wann wer­den die sagen: »Das machen wir nicht mehr mit«?

Übri­gens: Nach Auf­fas­sung des Zen­tra­len Immo­bi­li­en Aus­schus­ses ZIA braucht Deutsch­land bis zum Ende die­ses Jahr­zehnts jähr­lich zwi­schen 210 und 390 neue Pfle­ge­hei­me. Und pro­fes­sio­nel­le Anle­ger wie Fonds, Ver­si­che­run­gen und Pri­va­te-Equi­ty-Fir­men haben begrif­fen, dass die Nach­fra­ge nach Pfle­ge­plät­zen stei­gen wird. Die Käu­fe und Ver­käu­fe von Pfle­ge­hei­men neh­men kräf­tig zu, Trans­ak­tio­nen von Gesund­heits­im­mo­bi­li­en stie­gen 2020 um 61 Pro­zent, Pfle­ge­hei­me hat­ten dar­an einen Anteil von 72 Pro­zent – das berich­te­te die Süd­deut­sche Zei­tung am 4. Mai 2021. Die Pri­va­ti­sie­rungs­wel­le, die vor unse­ren Augen im Bereich Pfle­ge statt­fin­det, dürf­te dazu füh­ren, dass die Ren­di­te­er­war­tun­gen noch wich­ti­ger wer­den als gute Pflege.

Der zwei­fach pro­mo­vier­te Theo­lo­ge und Sozio­lo­ge Rei­mer Gro­ne­mey­er forscht seit Jah­ren zu den Fra­gen des Alters in der Gesell­schaft und enga­giert sich u. a. in der Akti­on Demenz e. V. und im Deut­schen Hos­piz- und PalliativVerband.