Der Pflegenotstand spitzt sich zu. Die brisante Kombination von alternder Gesellschaft und Pflegekräftemangel führt zu immer schrecklicheren Zuständen.
Eine Frau, deren Mutter im Pflegeheim ist, beschreibt ihre Erfahrungen in diesem Heim. Weil sie Angst um ihre Mutter hat, möchte sie anonym bleiben. Denn wenn bekannt wird, dass da die Tochter schreibt, sind negative Rückwirkungen auf die Pflege der Mutter nicht auszuschließen. Das fürchtet die Tochter und sie dürfte Recht haben. Sie schreibt:
»Willst Du den Wert eines alten Menschen wissen, geh in ein Pflegeheim! Schau Dich um! Achte auf Sauberkeit und Hygiene im Haus! Rieche und schmecke das fade Essen! Trinke einen Schluck vom kalten Kaffee! Probiere vom trockenen Brot! Beobachte das mürrische Team! Nimm Kenntnis vom Umgangston! Höre das respektlose Duzen! Analysiere die Hektik des Pflegeablaufs! Erfahre von Demütigungen und Misshandlungen! Versuche, für den Toilettengang Hilfe zu bekommen! Sieh die übergroße Windel, die vier Liter fasst! Beachte die Grobheit im Umgang mit den Pflegebedürftigen! Blicke auf die Haut, die Finger- und Fußnägel der Bewohner!
Bemerke die blauen Flecken und Körperverletzungen! Vergleiche die Pflegedokumentation mit der durchgeführten Pflege! Erdulde die Stumpfheit endloser Tage! Erkenne die Vernachlässigungen! Empfinde die Einsamkeit alter Menschen! Begreife die Abhängigkeit der hilflosen Menschen! Nimm den Stellenschlüssel für Pflegekräfte wahr! Probiere aufzubegehren! Erlebe die Ohnmacht der Pflegebedürftigen!
Willst Du wissen, was DEIN Leben im Alter wert ist, sieh Dich in Pflegeheimen um!«
Warum gibt es noch kein #MeToo von Menschen, die Gewalt oder Vernachlässigung in der Pflege erfahren? Naja, die Antwort ist klar: Welche 88jährige Frau im Pflegebett hat schon ein Smartphone und kann es auch noch bedienen? Aber selbst, wenn sie es hätte und wenn sie das »#« auf der Tastatur finden würde – wer würde sie hören? Und würde sich die Öffentlichkeit für die #MeToo-Botschaft einer 88-Jährigen interessieren? Ist nicht sexy. Dabei kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, dass viele, viele Pflegebedürftige zu Opfern werden. Opfer von Gewalt. Opfer von Pflegefehlern. Opfer von Vernachlässigung. Konkreter gesagt: Wie wollen wir es nennen, wenn jemand stundenlang in seinen Exkrementen liegt? Wie wollen wir das nennen, wenn jemand vor Durst schreit und schreit und schreit und niemand kommt? Wie wollen wir das nennen, wenn Menschen »ins Bett gepflegt werden«, weil der Ertrag eines bettlägerigen Menschen für die Einrichtung höher ist als der von einem noch mobilen Menschen? Wie wollen wir das nennen, wenn ein Mensch, der Hilfe braucht, um zur Toilette zu gehen, diese Hilfe nicht bekommt? Wie wollen wir es nennen, wenn ein Mensch mit Tabletten so ruhiggestellt wird, dass ihm nur noch dumpfe, betäubte Zuckungen bleiben?
Wann endlich wird das jahrelange Schweigen zu Menschenrechtsverletzungen im Pflegebereich und im Umgang mit fragilen Alten gebrochen? Wer sorgt für ein #MeToo im Pflegebereich? Für einen Aufstand von unten? Wahrscheinlich müssten es die Angehörigen selbst sein, die mit einem »Pflege-MeToo« beginnen. Und dieses MeToo wird zunächst sicher mit dem Verdacht konfrontiert sein, den wir aus der Debatte um sexuelle Belästigung kennen: Das ist doch nicht glaubwürdig! Das ist doch übertrieben! Das kommt doch von denen, die immer etwas zu meckern haben!
Als Antwort auf einen Zeitungsaufruf des Instituts für Soziologie der Universität Gießen erreichte uns ein Stapel von Klagebriefen, in denen Angehörige von ihren Erlebnissen in Pflegeheimen berichteten. Immer wieder lasen wir, dass die Betroffenen und ihre Angehörigen es nicht wagen, sich über die Zustände in den Heimen zu beschweren – aus Angst vor Repressalien. Und der Autor und Pflegekritiker Claus Fussek hat mir einen Brief zur Verfügung gestellt – unter der Überschrift »Sag bitte nichts, aber schreib alles auf! Das glaubt dir sonst niemand!«, ebenfalls geschrieben von einer Tochter, deren Mutter im Pflegeheim ist:
»Meine Mutter hatte zeitlebens tatkräftig und selbstständig gehandelt. Im Pflegeheim war Eigenverantwortung nicht mehr möglich. Sie war plötzlich abhängig von den Pflegekräften, von der Heimleitung oder der Pflegedienstleitung. Sie war abhängig von deren Launen und deren mehr oder minder vorhandenem guten Willen. Da meine Mutter zwar hochbetagt, aber geistig absolut fit war, wusste ich, dass ihre Angst begründet war. Außerdem stimmten ihre Schilderungen zum Umgang einiger Pflegekräfte mit den Pflegebedürftigen mit meinen Beobachtungen überein. Zum Beispiel das Verwechseln von Medikamenten, das wochenlang nicht frisch bezogene Bett, die langen Wartezeiten bei Hilferufen, ein ruppiger Befehlston, das schlechte Essen – all das und noch viel mehr durfte ich nicht an zuständiger Stelle ansprechen. Das hatte ich meiner Mutter zugesagt. Abgesehen von wenigen lebensnotwendigen Beschwerden hielt ich dieses Versprechen bis zu dem Tag, an dem das zweilagige Toilettenpapier rationiert wurde. Die gemeinsame Toilette zwischen zwei Zimmern wurde von der benachbarten Bewohnerin wegen einer Magen-Darm-Grippe stark frequentiert. Das hauchdünne Toilettenpapier und die Ersatzrolle waren schnell aufgebraucht. Die Bitte meiner Mutter um eine weitere Rolle wurde von der Pflegekraft abgelehnt: ›Sie haben erst gestern eine Ersatzrolle bekommen. Das geht nicht, dass sie so viel Papier verbrauchen.‹ Ich war über diesen Vorfall empört, habe notgedrungen von der Angestellten-Toilette zwei Rollen geholt und am nächsten Tag Nachschub gekauft. Mit dem gerade erworbenen Mehrfach-Pack Klopapier unterm Arm betrat ich das Pflegeheim. Irgendjemand hat dann diese überaus ›bedeutsame‹ Lieferung der Pflegedienstleitung mitgeteilt. Die Pflegedienstleitung, die ich bis dahin nur bei der Anmeldung gesehen hatte, bat mich zum Gespräch. Ich wurde aufgefordert, das Toilettenpapier in einer Tasche verpackt mitzubringen. Die teilweise durchsichtige Plastiktüte, in der die Rollen verkauft werden, lasse den Inhalt erkennen. Das sei seitens des Heimes nicht zu akzeptieren. Dass ich überhaupt Toilettenpapier anliefern musste, stand nicht zur Diskussion. Da die Zimmernachbarin meiner Mutter keine Angehörigen hatte, habe ich bei meinen täglichen Besuchen häufig Toilettenpapier mitgebracht, verpackt in der üblichen Verkaufsfolientüte. Während man pflegerische Missstände ignorierte, war dem Pflegeheim meine für alle Bewohner und Besucher offensichtliche Klopapierlieferung ein Dorn im Auge. Mir wurde wörtlich gesagt: ›Ihre Mutter kann bleiben, Sie nicht!‹ Zuerst glaubte ich, mich verhört zu haben. Aber es war ernst gemeint. Meine Besuche wurden nicht mehr geduldet. Da ich meine Mutter nicht allein lassen konnte und wollte, mussten wir innerhalb kürzester Zeit ein anderes Pflegeheim suchen.«
Die Verunglimpfung, die jene erleben, die sich beschweren, lautet immer: ein Querulant. Kennen wir das nicht aus der Debatte um sexuelle Belästigung? Wurden nicht die Frauen zunächst (und manchmal bis heute) als unglaubwürdig diskreditiert? Ein Pflege-Me-Too würde ähnliche Barrieren zu überwunden haben. Aber wahrscheinlicher ist, dass es ein solches Pflege-Me-Too unter der Überschrift: »Das lassen wir uns nicht mehr gefallen!« nie geben wird. Natürlich liegt das auch an der schwer verständlichen ängstlichen Haltung des Pflegepersonals, das nicht für seine eigenen Interessen eintritt, geschweige denn für die der Pflegebedürftigen. Zwei Pflegende, die für 30 Menschen zuständig sind: Wann werden die sagen: »Das machen wir nicht mehr mit«?
Übrigens: Nach Auffassung des Zentralen Immobilien Ausschusses ZIA braucht Deutschland bis zum Ende dieses Jahrzehnts jährlich zwischen 210 und 390 neue Pflegeheime. Und professionelle Anleger wie Fonds, Versicherungen und Private-Equity-Firmen haben begriffen, dass die Nachfrage nach Pflegeplätzen steigen wird. Die Käufe und Verkäufe von Pflegeheimen nehmen kräftig zu, Transaktionen von Gesundheitsimmobilien stiegen 2020 um 61 Prozent, Pflegeheime hatten daran einen Anteil von 72 Prozent – das berichtete die Süddeutsche Zeitung am 4. Mai 2021. Die Privatisierungswelle, die vor unseren Augen im Bereich Pflege stattfindet, dürfte dazu führen, dass die Renditeerwartungen noch wichtiger werden als gute Pflege.
Der zweifach promovierte Theologe und Soziologe Reimer Gronemeyer forscht seit Jahren zu den Fragen des Alters in der Gesellschaft und engagiert sich u. a. in der Aktion Demenz e. V. und im Deutschen Hospiz- und PalliativVerband.