Der »Willy-Wahlkampf« von 1972 unter der Leitung von Albrecht Müller sowie Egon Bahr und Horst Ehmke war ein Paradebeispiel für pro-proletarisches Agieren auf bürgerlichem Parkett. Mit 45,8 Prozent erzielte die SPD ein sensationelles Ergebnis.
APO-Proteste gegen den Vietnamkrieg und – gemeinsam mit der IG Metall – gegen die Notstandsgesetze sowie für ein lustvolles Lebensgefühl verbanden mit Willy Brandt den Bruch mit der Adenauer-Ära. Als Müller Brandt dann noch zu dem Tabubruch bewegte, die Bild-Zeitung offen anzugreifen, wurde aus Wahlkampf auch ein Aufbegehren gegen den Geheimdienstlich-Medialen Komplex, »GMK« (siehe: UZ, 9.8.24) das seinen Anfang mit den Anschlägen auf Ohnesorg und Dutschke genommen hatte.
Die SPD-Wahlkampfführung verzichtete auf die übliche Unbarmherzigkeit von Aufklärern, Omnipotenz-Fantasien und religiös-überhöhte Hoffnungen als »kleinbürgerliche Illusionen« von oben abzutun. Statt auf »Gott, Kaiser und Tribun« verstand sie es umsichtig, viele pro-proletarische Sehnsüchte pragmatisch auf Brandt und »Frieden mit Russland« zu spiegeln.
Will die Arbeiterklasse mit ihren mittelschichtigen Partnern Hegemonie, also historischen Raum erobern, braucht sie Wissenshöhe, Bündnisbreite und Gefühlstiefe (= Kulturarbeit). Zunächst heißt das: pro-proletarischen Umgang mit der Ohnmacht bei bürgerlichen Wahlen!
Der sonderbare Satz von Marx, alle bisherige Geschichte sei eine Geschichte von Klassenkämpfen gewesen, sollte beileibe nicht die Vorstellung nähren, ständig hätten sich einst Sklaven mit ihren Haltern geprügelt oder Leibeigene mit den Feudalherren. Es bedarf psychologisch geschulter Erfahrungen, das Unterschwellige in Klassenkämpfen zu erfassen.
Oft war früher vom »proletarischen Klassenstandpunkt« die Rede. Der wurde aufgeklärten Kleinbürgern wie Marx, Engels, Bebel und Lenin eher zugebilligt als Kunstwerken von Brecht, Eisler und Picasso. Aber: Die zuletzt Genannten waren biografisch zwar nicht proletarisch, wirkten aber pro-proletarisch, um dem logischen Antagon (= Widerpart) aller imperialistischen Verhältnisse, der Arbeiterklasse, philosophisch und praktisch aus der Unterschwelligkeit nach oben zu helfen.
Zu bürgerlichem Wahlgeschehen gibt es hingegen bislang noch keine proproletarische Geschichtsschreibung. Wo sich eloquente Juristen mit akademischem Prekariat und echtem Proletariat die bürgerliche Wahlurne teilen, wird »Charisma« zu einer düster indifferenten Melange aus magischen »Ausstrahlungen« – materialistisch schwer zu deuten.
Transparenter sind da Betriebsratswahlen: als allzumeist ganz unverzauberte Resultanten sozialer Forderungen (Arbeitserleichterung, Kantinenausstattung, Lohn). Das Dressing etwa einer kandidierenden Vertrauensfrau tritt bei solchen proletarischen Wahlen hinter die Ausstrahlungskraft ihrer Aussagen zurück – die im Betrieb auch raumzeitlich überprüfbar bleiben.
Vor dem zusammengedrängten Wahlkampf 24/25 mischten sich die aus Ohnmacht geborenen Gegenmacht-Hoffnungen mit parareligiösen Projektionen diffus um eine Kooperation des BSW mit der AfD. Damit hätte bei Europa- und Landtagswahlen kreativ und souverän umgegangen werden müssen, anstatt sie über die Köpfe der Ohnmächtigen hochmütig zu verwerfen. Das BSW – anschlussfähig an den Mainstream – ließ sich von Nato-nahen Medien bei den Landtagswahlen anlocken und als Stimmenfresserin gegen die AfD instrumentalisieren. Dabei taten alle so, als sei die AfD mit überkommenen, »völkischen« Chiffren der alten Nazis gleichzusetzen: antisemitisch, homophob und Blut-und-Boden-fixiert. Die AfD brauchte dagegen nur auf Schwule, Israel-Fans und Dunkelhäutige in ihrer Fraktion zu verweisen.
Unterschwellig proproletarische Gegenmachtperspektiven für billigeres Gas, Corona-Aufdeckung, Neuordnung von Migration und gegen Gender-Wildwuchs, also die rote Linie durch Wagenknechts Buch »Die Selbstgerechten«, gerieten bald unter die Räder, auch in sozialen Medien – auf X und TikTok mit besonders blamabler BSW-Performance! Die Forderung »Frieden mit Russland« wurde auf den blutleeren Plakat-Slogan »Für Frieden« reduziert und verwechselbar mit der Friedens-Demagogie des Kriegsministeriums.
Dabei hatte Sahra Wagenknecht bei der Gründung des BSW zunächst alles richtig gemacht: Sie hatte sich weder auf schmallippigen Antikapitalismus eingelassen noch gewerkschaftliche Forderungen – etwa Besteuerung von Superreichen – ausgespart. In viele BSW-Forderungen waren pro-proletarische Wünsche unterschwellig eingeschrieben. Und dazu hatte das BSW noch große Teile des Mittelstands populär angesprochen. Wagenknecht war selbst ungeimpft geblieben und hatte dies betont (wenn auch, mit Rücksicht auf Impfpflicht-Befürworter wie Mohammed Ali: gedämpft) und für bürgerliche Meinungsfreiheiten gestritten. Aber vor allem hatte sie die kategorische Forderung »Frieden mit Russland« erfolgreich in die Landtagswahlkämpfe in Brandenburg, Sachsen und Thüringen eingebracht. An Stammtischen und Arbeitsplätzen war von »der Sahra« die Rede. Nirgends von »der Alice«.
Kluge BSW-Entscheidungen, von BSW-Abgeordneten wie Hunko, Ulrich und anderen durchgesetzt, nämlich vernünftigen AfD-Anträgen punktuell zuzustimmen, hätten nur offenkundiger in die Tat umgesetzt werden müssen. Später gab es sogar in Sachsen die Corona-Untersuchungsausschuss-Forderung von BSW und AfD. Lafontaine sprach mit Chrupalla bei Servus.TV. Aber alles zu verschämt und zu spät!
Denn im Sommer hatte sich das BSW das Geständnis abringen lassen, mit der AfD, insbesondere mit Höcke, nicht zu verhandeln, anstatt parlamentarisch und außerparlamentarisch mit sämtlichen Parteien zu reden, die es mit dem Grundgesetz im 75. Jahr seines Bestehens neu versuchen wollten – inklusive der AfD (siehe: Ossietzky 24/2024 »Verhandeln statt verbieten«).
Wohl aus vermeintlicher Rücksicht auf Westwähler inszenierte sich das BSW im Gleichklang mit Nato-Medien als ein »Oben der etablierten Parteien«. Und machte sich dabei klein und verwechselbar: in den Augen derer, die die AfD verbieten wollten und derer, die sie mit Sympathien sahen.
Wohlmeinende Kommentatoren in – vom BSW oft missachteten – alternativen Medien hatten damals prognostiziert, dass der GMK über seine Umfrageinstitute nach der Charme-Offensive gegen die AfD dem BSW bald die 5-Prozent-Sterbeglocke läuten lassen würde. Mit dem egozentrischen Agieren von Katja Wolf in Thüringen und der antidemokratischen Front mit Kriegsparteien gegen die AfD (z. B. bei der Wahl des Landtagspräsidenten) fiel es dann von 11 Prozent auf 6 Prozent in den Umfragen. »Die Sahra« hatte der Weidel den Oppositions-Führungsstab übergeben.
Auch sie selbst ließ sich auf das geseifte Brett locken, als sie dreimal öffentlich Putin einen »Kriegsverbrecher« nannte. Dieses Wort aus den Schmutzmündern von Caren Miosga und Roderich Kiesewetter gehörte nun wahrlich nicht in den klugen Mund einer Sahra Wagenknecht. Mit etwas kollektiver Spracharbeit hätte sich ein originellerer Begriff gefunden, um Distanz zu Putin auszudrücken.
Auch hatte Sahra Wagenknecht im Oktober bei Lanz herumgeeiert und vermieden, sich klar zu ihrem eigenen Europa-Wahlplakat zu bekennen und ihre neuen Thüringer Koalitionspartner SPD und CDU weiterhin als »Kriegstreiber« zu bezeichnen (Siehe: Manova »Die übervorsichtige Rebellin«, 26.10.24).
Schließlich hatte sich die BSW-Führung Mainstream-anschlussfähig in eine Gefangenschaft gebracht, aus der es dann bei 6-Prozent-Umfragen nur noch mit kopflosen Plattitüden zur Migrationsfrage ausbrechen zu können glaubte. Im Januar war es dann tragisch verfangen zwischen zwei Fehlern: Wer den beiden Merz-Anträgen zustimmte, war mit der AfD verhaftet. Wer sie ablehnte: mit den Grünen.
Der GMK, seine »Correctivs« und Spindoctors haben mittlerweile besser als Linke gelernt, wie man außerparlamentarische Bewegungen für Wählermobilisierung umsetzt und pro-imperialistische Aufmärsche inszeniert. Vorgeblich gegen »Rechtsextremismus«. Dabei gibt es keine ernstzunehmende Definition von Faschismus – von Dimitrow bis Abendroth – ohne dessen »Kriegstüchtigkeit« (Kampfbegriff von Goebbels, 9.6.1944; https://www.nachdenkseiten.de/?p=128303).
Während Trump als eine Art »Gorbatschow des US-Imperialismus« einen dritten Weltkrieg mit neuen Waffen an die Ukraine verworfen und Vance in München die EU zur Meinungsfreiheit ermahnt hatten, publizierte das BSW wenig, sich wirkmächtig auf diese Ambivalenz aus Washington zu beziehen.
Dann kam das offene Zerwürfnis mit Selenskyj, was Trump nicht so stark hinterlassen dürfte, wie er öffentlich tut. Denn die EU rüstet sich – künftig unter Führung von Merz und Pistorius – vom »kleinen Bruder« des US-Imperialismus zu dessen aggressiver Anführerin um, um doch noch mittels Nato-Erstschlags-Option die Herrschaft über russische Rohstoffe zu erlangen. Was Putin 2022 in wahrlich letzter Minute vorerst zunichte gemacht hatte.
Hierzulande nun, aus Rücksicht auf Trump, auf Antikapitalismus zu verzichten, wäre ebenso töricht, wie diesen wahllos auszuweiten oder in anachronistischer »anti-rechts-Rhetorik« gegen Trump und AfD weiter auf der Stelle zu trampeln. Eine antimonopolistische Zuspitzung gegen BlackRock, Amazon, Rheinmetall, Gates, Soros etc. hingegen könnte hierzulande mit dem Antikolonialismus innerhalb der BRICS-Staaten nachhaltig korrespondieren. Jetzt, da das BSW parlamentarisch als orientierender Partner auch für ehrliche Kriegsgegner in AfD und SPD ausfällt, muss die Brandmauer in der Friedensbewegung hinweg.
Dazu jedoch dürfen die aussagestarken Kräfte im BSW jetzt nicht vor lauter Frust mit allen Winden auseinanderstieben, sondern auf ihre Geburtsurkunde neu zurück- und zusammenkommen.