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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Proproletarische Wahlkampf-Überlegungen

Der »Wil­ly-Wahl­kampf« von 1972 unter der Lei­tung von Albrecht Mül­ler sowie Egon Bahr und Horst Ehm­ke war ein Para­de­bei­spiel für pro-pro­le­ta­ri­sches Agie­ren auf bür­ger­li­chem Par­kett. Mit 45,8 Pro­zent erziel­te die SPD ein sen­sa­tio­nel­les Ergebnis.

APO-Pro­te­ste gegen den Viet­nam­krieg und – gemein­sam mit der IG Metall – gegen die Not­stands­ge­set­ze sowie für ein lust­vol­les Lebens­ge­fühl ver­ban­den mit Wil­ly Brandt den Bruch mit der Ade­nau­er-Ära. Als Mül­ler Brandt dann noch zu dem Tabu­bruch beweg­te, die Bild-Zei­tung offen anzu­grei­fen, wur­de aus Wahl­kampf auch ein Auf­be­geh­ren gegen den Geheim­dienst­lich-Media­len Kom­plex, »GMK« (sie­he: UZ, 9.8.24) das sei­nen Anfang mit den Anschlä­gen auf Ohnes­org und Dutsch­ke genom­men hatte.

Die SPD-Wahl­kampf­füh­rung ver­zich­te­te auf die übli­che Unbarm­her­zig­keit von Auf­klä­rern, Omni­po­tenz-Fan­ta­sien und reli­gi­ös-über­höh­te Hoff­nun­gen als »klein­bür­ger­li­che Illu­sio­nen« von oben abzu­tun. Statt auf »Gott, Kai­ser und Tri­bun« ver­stand sie es umsich­tig, vie­le pro-pro­le­ta­ri­sche Sehn­süch­te prag­ma­tisch auf Brandt und »Frie­den mit Russ­land« zu spiegeln.

Will die Arbei­ter­klas­se mit ihren mit­tel­schich­ti­gen Part­nern Hege­mo­nie, also histo­ri­schen Raum erobern, braucht sie Wis­sens­hö­he, Bünd­nis­brei­te und Gefühls­tie­fe (= Kul­tur­ar­beit). Zunächst heißt das: pro-pro­le­ta­ri­schen Umgang mit der Ohn­macht bei bür­ger­li­chen Wahlen!

Der son­der­ba­re Satz von Marx, alle bis­he­ri­ge Geschich­te sei eine Geschich­te von Klas­sen­kämp­fen gewe­sen, soll­te bei­lei­be nicht die Vor­stel­lung näh­ren, stän­dig hät­ten sich einst Skla­ven mit ihren Hal­tern geprü­gelt oder Leib­ei­ge­ne mit den Feu­dal­her­ren. Es bedarf psy­cho­lo­gisch geschul­ter Erfah­run­gen, das Unter­schwel­li­ge in Klas­sen­kämp­fen zu erfassen.

Oft war frü­her vom »pro­le­ta­ri­schen Klas­sen­stand­punkt« die Rede. Der wur­de auf­ge­klär­ten Klein­bür­gern wie Marx, Engels, Bebel und Lenin eher zuge­bil­ligt als Kunst­wer­ken von Brecht, Eis­ler und Picas­so. Aber: Die zuletzt Genann­ten waren bio­gra­fisch zwar nicht pro­le­ta­risch, wirk­ten aber pro-pro­le­ta­risch, um dem logi­schen Ant­agon (= Wider­part) aller impe­ria­li­sti­schen Ver­hält­nis­se, der Arbei­ter­klas­se, phi­lo­so­phisch und prak­tisch aus der Unter­schwel­lig­keit nach oben zu helfen.

Zu bür­ger­li­chem Wahl­ge­sche­hen gibt es hin­ge­gen bis­lang noch kei­ne pro­pro­le­ta­ri­sche Geschichts­schrei­bung. Wo sich elo­quen­te Juri­sten mit aka­de­mi­schem Pre­ka­ri­at und ech­tem Pro­le­ta­ri­at die bür­ger­li­che Wahl­ur­ne tei­len, wird »Cha­ris­ma« zu einer düster indif­fe­ren­ten Melan­ge aus magi­schen »Aus­strah­lun­gen« – mate­ria­li­stisch schwer zu deuten.

Trans­pa­ren­ter sind da Betriebs­rats­wah­len: als all­zu­meist ganz unver­zau­ber­te Resul­tan­ten sozia­ler For­de­run­gen (Arbeits­er­leich­te­rung, Kan­ti­nen­aus­stat­tung, Lohn). Das Dres­sing etwa einer kan­di­die­ren­den Ver­trau­ens­frau tritt bei sol­chen pro­le­ta­ri­schen Wah­len hin­ter die Aus­strah­lungs­kraft ihrer Aus­sa­gen zurück – die im Betrieb auch raum­zeit­lich über­prüf­bar bleiben.

Vor dem zusam­men­ge­dräng­ten Wahl­kampf 24/​25 misch­ten sich die aus Ohn­macht gebo­re­nen Gegen­macht-Hoff­nun­gen mit para­re­li­giö­sen Pro­jek­tio­nen dif­fus um eine Koope­ra­ti­on des BSW mit der AfD. Damit hät­te bei Euro­pa- und Land­tags­wah­len krea­tiv und sou­ve­rän umge­gan­gen wer­den müs­sen, anstatt sie über die Köp­fe der Ohn­mäch­ti­gen hoch­mü­tig zu ver­wer­fen. Das BSW – anschluss­fä­hig an den Main­stream – ließ sich von Nato-nahen Medi­en bei den Land­tags­wah­len anlocken und als Stim­men­fres­se­rin gegen die AfD instru­men­ta­li­sie­ren. Dabei taten alle so, als sei die AfD mit über­kom­me­nen, »völ­ki­schen« Chif­fren der alten Nazis gleich­zu­set­zen: anti­se­mi­tisch, homo­phob und Blut-und-Boden-fixiert. Die AfD brauch­te dage­gen nur auf Schwu­le, Isra­el-Fans und Dun­kel­häu­ti­ge in ihrer Frak­ti­on zu verweisen.

Unter­schwel­lig pro­pro­le­ta­ri­sche Gegen­macht­per­spek­ti­ven für bil­li­ge­res Gas, Coro­na-Auf­deckung, Neu­ord­nung von Migra­ti­on und gegen Gen­der-Wild­wuchs, also die rote Linie durch Wagen­knechts Buch »Die Selbst­ge­rech­ten«, gerie­ten bald unter die Räder, auch in sozia­len Medi­en – auf X und Tik­Tok mit beson­ders bla­ma­bler BSW-Per­for­mance! Die For­de­rung »Frie­den mit Russ­land« wur­de auf den blut­lee­ren Pla­kat-Slo­gan »Für Frie­den« redu­ziert und ver­wech­sel­bar mit der Frie­dens-Dem­ago­gie des Kriegsministeriums.

Dabei hat­te Sahra Wagen­knecht bei der Grün­dung des BSW zunächst alles rich­tig gemacht: Sie hat­te sich weder auf schmal­lip­pi­gen Anti­ka­pi­ta­lis­mus ein­ge­las­sen noch gewerk­schaft­li­che For­de­run­gen – etwa Besteue­rung von Super­rei­chen – aus­ge­spart. In vie­le BSW-For­de­run­gen waren pro-pro­le­ta­ri­sche Wün­sche unter­schwel­lig ein­ge­schrie­ben. Und dazu hat­te das BSW noch gro­ße Tei­le des Mit­tel­stands popu­lär ange­spro­chen. Wagen­knecht war selbst unge­impft geblie­ben und hat­te dies betont (wenn auch, mit Rück­sicht auf Impf­pflicht-Befür­wor­ter wie Moham­med Ali: gedämpft) und für bür­ger­li­che Mei­nungs­frei­hei­ten gestrit­ten. Aber vor allem hat­te sie die kate­go­ri­sche For­de­rung »Frie­den mit Russ­land« erfolg­reich in die Land­tags­wahl­kämp­fe in Bran­den­burg, Sach­sen und Thü­rin­gen ein­ge­bracht. An Stamm­ti­schen und Arbeits­plät­zen war von »der Sahra« die Rede. Nir­gends von »der Alice«.

Klu­ge BSW-Ent­schei­dun­gen, von BSW-Abge­ord­ne­ten wie Hun­ko, Ulrich und ande­ren durch­ge­setzt, näm­lich ver­nünf­ti­gen AfD-Anträ­gen punk­tu­ell zuzu­stim­men, hät­ten nur offen­kun­di­ger in die Tat umge­setzt wer­den müs­sen. Spä­ter gab es sogar in Sach­sen die Coro­na-Unter­su­chungs­aus­schuss-For­de­rung von BSW und AfD. Lafon­taine sprach mit Chrup­al­la bei Servus.TV. Aber alles zu ver­schämt und zu spät!

Denn im Som­mer hat­te sich das BSW das Geständ­nis abrin­gen las­sen, mit der AfD, ins­be­son­de­re mit Höcke, nicht zu ver­han­deln, anstatt par­la­men­ta­risch und außer­par­la­men­ta­risch mit sämt­li­chen Par­tei­en zu reden, die es mit dem Grund­ge­setz im 75. Jahr sei­nes Bestehens neu ver­su­chen woll­ten – inklu­si­ve der AfD (sie­he: Ossietzky 24/​2024 »Ver­han­deln statt verbieten«).

Wohl aus ver­meint­li­cher Rück­sicht auf West­wäh­ler insze­nier­te sich das BSW im Gleich­klang mit Nato-Medi­en als ein »Oben der eta­blier­ten Par­tei­en«. Und mach­te sich dabei klein und ver­wech­sel­bar: in den Augen derer, die die AfD ver­bie­ten woll­ten und derer, die sie mit Sym­pa­thien sahen.

Wohl­mei­nen­de Kom­men­ta­to­ren in – vom BSW oft miss­ach­te­ten – alter­na­ti­ven Medi­en hat­ten damals pro­gno­sti­ziert, dass der GMK über sei­ne Umfra­ge­insti­tu­te nach der Charme-Offen­si­ve gegen die AfD dem BSW bald die 5-Pro­zent-Ster­be­glocke läu­ten las­sen wür­de. Mit dem ego­zen­tri­schen Agie­ren von Kat­ja Wolf in Thü­rin­gen und der anti­de­mo­kra­ti­schen Front mit Kriegs­par­tei­en gegen die AfD (z. B. bei der Wahl des Land­tags­prä­si­den­ten) fiel es dann von 11 Pro­zent auf 6 Pro­zent in den Umfra­gen. »Die Sahra« hat­te der Wei­del den Oppo­si­ti­ons-Füh­rungs­stab übergeben.

Auch sie selbst ließ sich auf das geseif­te Brett locken, als sie drei­mal öffent­lich Putin einen »Kriegs­ver­bre­cher« nann­te. Die­ses Wort aus den Schmutz­mün­dern von Caren Mios­ga und Rode­rich Kie­se­wet­ter gehör­te nun wahr­lich nicht in den klu­gen Mund einer Sahra Wagen­knecht. Mit etwas kol­lek­ti­ver Sprach­ar­beit hät­te sich ein ori­gi­nel­le­rer Begriff gefun­den, um Distanz zu Putin auszudrücken.

Auch hat­te Sahra Wagen­knecht im Okto­ber bei Lanz her­um­ge­ei­ert und ver­mie­den, sich klar zu ihrem eige­nen Euro­pa-Wahl­pla­kat zu beken­nen und ihre neu­en Thü­rin­ger Koali­ti­ons­part­ner SPD und CDU wei­ter­hin als »Kriegs­trei­ber« zu bezeich­nen (Sie­he: Mano­va »Die über­vor­sich­ti­ge Rebel­lin«, 26.10.24).

Schließ­lich hat­te sich die BSW-Füh­rung Main­stream-anschluss­fä­hig in eine Gefan­gen­schaft gebracht, aus der es dann bei 6-Pro­zent-Umfra­gen nur noch mit kopf­lo­sen Plat­ti­tü­den zur Migra­ti­ons­fra­ge aus­bre­chen zu kön­nen glaub­te. Im Janu­ar war es dann tra­gisch ver­fan­gen zwi­schen zwei Feh­lern: Wer den bei­den Merz-Anträ­gen zustimm­te, war mit der AfD ver­haf­tet. Wer sie ablehn­te: mit den Grünen.

Der GMK, sei­ne »Cor­rec­tivs« und Spin­doc­tors haben mitt­ler­wei­le bes­ser als Lin­ke gelernt, wie man außer­par­la­men­ta­ri­sche Bewe­gun­gen für Wäh­ler­mo­bi­li­sie­rung umsetzt und pro-impe­ria­li­sti­sche Auf­mär­sche insze­niert. Vor­geb­lich gegen »Rechts­extre­mis­mus«. Dabei gibt es kei­ne ernst­zu­neh­men­de Defi­ni­ti­on von Faschis­mus – von Dimit­row bis Abend­roth – ohne des­sen »Kriegs­tüch­tig­keit« (Kampf­be­griff von Goeb­bels, 9.6.1944; https://www.nachdenkseiten.de/?p=128303).

Wäh­rend Trump als eine Art »Gor­bat­schow des US-Impe­ria­lis­mus« einen drit­ten Welt­krieg mit neu­en Waf­fen an die Ukrai­ne ver­wor­fen und Van­ce in Mün­chen die EU zur Mei­nungs­frei­heit ermahnt hat­ten, publi­zier­te das BSW wenig, sich wirk­mäch­tig auf die­se Ambi­va­lenz aus Washing­ton zu beziehen.

Dann kam das offe­ne Zer­würf­nis mit Selen­skyj, was Trump nicht so stark hin­ter­las­sen dürf­te, wie er öffent­lich tut. Denn die EU rüstet sich – künf­tig unter Füh­rung von Merz und Pisto­ri­us – vom »klei­nen Bru­der« des US-Impe­ria­lis­mus zu des­sen aggres­si­ver Anfüh­re­rin um, um doch noch mit­tels Nato-Erst­schlags-Opti­on die Herr­schaft über rus­si­sche Roh­stof­fe zu erlan­gen. Was Putin 2022 in wahr­lich letz­ter Minu­te vor­erst zunich­te gemacht hatte.

Hier­zu­lan­de nun, aus Rück­sicht auf Trump, auf Anti­ka­pi­ta­lis­mus zu ver­zich­ten, wäre eben­so töricht, wie die­sen wahl­los aus­zu­wei­ten oder in ana­chro­ni­sti­scher »anti-rechts-Rhe­to­rik« gegen Trump und AfD wei­ter auf der Stel­le zu tram­peln. Eine anti­mo­no­po­li­sti­sche Zuspit­zung gegen Black­Rock, Ama­zon, Rhein­me­tall, Gates, Sor­os etc. hin­ge­gen könn­te hier­zu­lan­de mit dem Anti­ko­lo­nia­lis­mus inner­halb der BRICS-Staa­ten nach­hal­tig kor­re­spon­die­ren. Jetzt, da das BSW par­la­men­ta­risch als ori­en­tie­ren­der Part­ner auch für ehr­li­che Kriegs­geg­ner in AfD und SPD aus­fällt, muss die Brand­mau­er in der Frie­dens­be­we­gung hinweg.

Dazu jedoch dür­fen die aus­sa­ge­star­ken Kräf­te im BSW jetzt nicht vor lau­ter Frust mit allen Win­den aus­ein­an­der­stie­ben, son­dern auf ihre Geburts­ur­kun­de neu zurück- und zusammenkommen.