Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer hat in diesem Jahr ihre Premiere als Verteidigungsministerin bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Tagungschef Wolfgang Ischinger hat für sie schon einmal vorgelegt und sich für einen Einsatz der Bundeswehr in Libyen auf Grundlage eines UN-Mandats ausgesprochen. Sollte der Weltsicherheitsrat eine militärische Intervention in dem nordafrikanischen Land beschließen, könne sich die Bundesregierung »als Initiator des Berliner Prozesses natürlich nicht wegducken«, diktierte Ex-Botschafter Ischinger der Funke Mediengruppe ins Blatt. Voraussetzung sei ein UN-Mandat, das die Ergebnisse der Libyen-Konferenz im Berliner Kanzleramt aufnehme – Verständigung auf eine Waffenruhe und ein Waffenembargo sowie den Verzicht auf weitere Unterstützung für die innerlibyschen Kriegsparteien. Ischinger will einen Einsatz nach Kapitel 7 der UN-Charta, der »auch Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung und bei Zuwiderhandlung« vorsehe. Die Bundeswehr könne mit einem Einsatz zur See beitragen sowie mit Tornado-Kampfjets oder AWACS-Flugzeugen bei der Luftaufklärung mitwirken.
Wolfgang Ischinger macht sich – wie viele andere im politischen Berlin – für einen Militäreinsatz ausgerechnet in jenem Land stark, das durch die Intervention von NATO-Staaten und die Ermordung des libyschen Präsidenten Muamar al-Gaddafi 2011 erst zerstört und dann ins Chaos gestürzt wurde mit Auswirkungen auf die Länder der Subsahara. Der deutsche Spitzendiplomat gehörte vor neun Jahren zu denen, die den Kurs des damaligen Außenministers Guido Westerwelle, sich bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat über eine Intervention von NATO-Staaten in Libyen zu enthalten, nicht richtig fanden – wie SPD und Grüne seinerzeit übrigens auch.
»Ob mit oder ohne deutsche Beteiligung an der militärischen Intervention – wir haben ein massives Interesse am arabischen Frühling. Sollte sich Gaddafi durchsetzen, wäre dieser Frühling wohl vorerst zu Ende. Deshalb muss man der Intervention natürlich einen raschen Erfolg wünschen«, äußerte Ischinger am 22. März 2011 im Handelsblatt. »Notwendige Kriege gibt es«, legte er am 28. April 2011 im Cicero nach: »Die Sache darf jetzt nicht schiefgehen – selbst die militärisch im Abseits stehenden Deutschen müssen ein eminentes Interesse am möglichst raschen Erfolg der Intervention in Libyen haben. Nicht nur im Interesse des arabischen Frühlings, sondern im Interesse Europas.« In den Augen Ischingers hatte sich das Daumendrücken gelohnt, am 31. August 2011 jubilierte er wieder im Handelsblatt: »In den Straßen von Tripolis wird gefeiert. Deutschlands Bündnispartner haben die Rebellen dazu befähigt, sich vom Joch eines Diktators zu befreien, der Krieg gegen seine eigene Bevölkerung führte. Die Bedenken derjenigen, die ein militärisches Eingreifen ablehnten, haben sich am Ende nicht bestätigt. […] In Deutschland diskutiert man derweil gern und lautstark darüber, ob die Bundesregierung der Libyen-Resolution des UNO-Sicherheitsrats im März hätte zustimmen sollen. Manöverkritik ist wichtig, aber bitte die Kirche im Dorf lassen: Das größte außenpolitische Debakel Deutschlands, wie manche meinen, war das nun wirklich nicht. […] Und deshalb darf natürlich auch nicht der Eindruck entstehen, dass ausgerechnet Deutschland zum Problembär der NATO oder gar der EU werden könnte. Das heißt nicht, dass deutsche Soldaten überall an vorderster Front dabei sein müssen. Aber umgekehrt darf eine Kultur der Zurückhaltung nicht als Vorwand für ein Fernbleiben bei von der UNO mandatierten militärischen Einsätzen herhalten. Ist nicht eine zentrale Lehre aus der deutschen Geschichte, Massenverbrechen zu verhindern?«
Mit dieser Logik wirbt Ischinger nun also für das Zuspätkommen deutscher Soldaten in jenem Land, in dem schon Generalleutnant Erwin Rommel mit seinem Afrika-Korps ungefragt einen deutschen Fußabdruck hinterlassen hatte. Doch Ischinger will nicht nur Libyen, er will mehr auf seiner zur Sicherheitskonferenz umlackierten Wehrkundetagung im Bayerischen Hof. »Wir dürfen uns nicht mit 27 Einzelkrisen verzetteln, sondern müssen auch die grundsätzlichen Fragen nach Weltordnung, nach regionaler Ordnung oder Unordnung, nach der Zukunft des Westens stellen.« In einem ausführlichen Interview in der Zeitschrift IPG – Internationale Politik und Gesellschaft, herausgegeben von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, erklärte Ischinger am 9. Januar, »warum Deutschland seine außenpolitische Zurückhaltung überwinden und die EU die Kleinstaaterei aufgeben muss«. Auf den Punkt gebracht: »Wir sind nicht die Schweiz.«
Die Europäische Union habe »Nachholbedarf«, wenn es darum gehe, »in geostrategischen Fragen mit einer Stimme zu sprechen«. Ischinger: »Jeder in den internationalen Beziehungen handelnde Akteur muss sich die Frage stellen: Was sind meine Stärken und was sind meine Schwächen? Niemand wird bestreiten, dass die Europäische Union ihre Stärken in der Handelspolitik hat, in ihrer Rolle als Wirtschaftsmacht, als Innovationstreiber. Die EU ist einer der größten handels- und wirtschaftspolitischen Akteure der Welt. Diese Stärke haben wir bisher geostrategisch – um diesen Begriff von Frau von der Leyen zu nutzen – zu wenig eingesetzt.« Im Argen liegt für Ischinger die Außenpolitik mit einer »Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts: Jeder Kleinstaat hat ein Vetorecht und kann alles blockieren. Kein Wunder, dass man die Europäische Union als geostrategischen oder geopolitischen Akteur auf der Welt nicht ernst nimmt. Wenn ich durch Asien oder den Nahen und Mittleren Osten reise, stelle ich fest: Niemand redet über Europa, weil wir nicht mit einer Stimme sprechen.« So könne es nicht weitergehen, notwendig seien »Mehrheitsentscheidungen« in einer »geopolitisch« agierenden EU. »Wir können uns nicht als eine große Schweiz definieren, die sich sozusagen hinterm Berg verbirgt, und die große Weltpolitik findet woanders statt. Die Weltpolitik hat die Tendenz, zu uns zu kommen, wie wir am Syrien-Konflikt gesehen haben, mit hunderttausenden von Flüchtlingen, die nicht nur in Deutschland die politische Landschaft verändert haben. Die Krisen kommen zu uns, wenn wir uns ihrer nicht annehmen.«
Ischinger weiß selbstredend, dass die »Krisen« unter anderem existieren, weil sich die USA und NATO ihrer annehmen, siehe die seit 2001 andauernde Militärintervention in Afghanistan, siehe die Zerstörung des Irak auf Befehl von US-Präsident Bush 2003, siehe die Unterstützung islamistischer Terrormilizen in Syrien durch die NATO-Mitglieder USA und Türkei sowie die alliierte Kopf-ab-Diktatur Saudi-Arabien, siehe das von NATO-Mitgliedern angerichtete Kriegschaos in Libyen, siehe die von US-Präsident Donald Trump betriebene Eskalationspolitik gegenüber dem Iran, die zum Jahreswechsel mit der Ermordung des iranischen Generals Qassem Soleimani durch eine US-Drohne in Bagdad einen neuen Höhepunkt erreicht und die Region an den Rand eines Kriegsinfernos gebracht hat. Die Sicherheit Deutschlands und Europas will Ischinger ausgerechnet in die Hände des Washingtoner Staatsterroristen legen: »Die Bundesrepublik Deutschland wird keine Nuklearmacht sein, sie wird das auch nicht sein wollen. Im Ernstfall können wir uns auch nicht selbst verteidigen. Ergo brauchen wir die USA – selbst wenn es in manchen Punkten stressig geworden ist.«
Auf der Sicherheitskonferenz 2019 hatte Ischinger die Frage aufgeworfen: »Who will pick up the pieces – wer sammelt die zerbrochenen Teile der Weltordnung wieder auf?« Diese Frage sei in den vergangenen elf Monaten nicht hinreichend beantwortet worden, konstatiert der Konferenzchef. »Im Gegenteil: Es sind noch mehr Scherben entstanden.« In dem Punkt ist ihm zuzustimmen. NATO und USA sind allerdings Problembären, nicht Besen und Schaufel.