Düsseldorfs Stadtrat erhob im Jahr 2006 ein solches Geschrei, dass der österreichische Dichter Peter Handke den ihm zugedachten, von Düsseldorf gestifteten Heinrich-Heine-Preis ablehnte. Die Schauspieler Käthe Reichel und Rolf Becker sowie Ossietzky-Herausgeber und -Redakteur Eckart Spoo riefen damals dazu auf, für einen Berliner Heinrich-Heine-Preis zu spenden, den Handke gerade auch wegen seines ständigen Bemühens um die Wahrheit über Serbien erhalten sollte. Ziel war es, 50.000 Euro zusammenzubringen – ebenso viel, wie die Stadt Düsseldorf für ihren Preis hatte ausgeben wollen. Es gelang. Mehr als 500 Spender, darunter auch viele Ossietzky-Leserinnen und -Leser, trugen zum Erfolg bei. Handke nahm das Geld nicht für sich, sondern schlug von vornherein vor, es den Menschen im »Elendstrichter Europas«, in den serbischen Enklaven im Kosovo, zukommen zu lassen. Ostern 2007 reisten die Initiatoren des Berliner Preises zusammen mit dem damaligen Intendanten des Berliner Ensembles, Claus Peymann, der viele Handke-Stücke herausgebracht hatte, sowie der Berliner Fotografin Gabriele Senft, die immer wieder den Balkan bereiste und mit ihren Fotos Schicksale dokumentierte und Solidaritätsaktionen auf den Weg brachte, in die serbische Enklave Velika Hoča im Kosovo. In einer fröhlichen Zeremonie überreichte die angereiste Schar Handke das Preisgeld, der es an seine Tochter Leokadia weiterreichte, die es dem Bürgermeister des 700-Seelen-Dorfes übergab. Ossietzky dokumentierte die Reise mit einem Themenheft: »Kosovo. Was wir damit zu tun haben«. Es versammelt Texte von Käthe Reichel, Otto Köhler, Rolf Becker, Eckart Spoo, Gabriele Senft, Hannes Hofbauer, Alexander S. Neu, Sergej Guk und Ralph Hartmann. Außerdem – und das ist ein Novum für Ossietzky – Fotos, die Gabriele Senft während der Reise aufgenommen hatte.
Jetzt erhält Peter Handke den Literaturnobelpreis. Und die Jury hat sich zum Glück nicht vom Geschrei beeindrucken lassen, das sich nach der Verkündung erhob. Erleichterung bei Ossietzky, denn alternativ ein Preisgeld in dieser Höhe zu sammeln, wäre nicht einfach geworden. Auch Rolf Becker freut sich für Handke: »Dank an die im Nobelpreiskomitee, die es gewagt haben, sich dem – Peter Handke meist denunzierenden – Mainstream zu widersetzen. Nicht trotz, sondern wegen seiner Schriften über Jugoslawien gebührt ihm die Auszeichnung. Seinen Kritikern sei nahegelegt, Handke zu lesen, statt Vorurteile zu übernehmen, die Geschichte des NATO-Krieges zu hinterfragen, statt dem ›Gründungsmythos der Berliner Republik‹ (Otto Köhler) und der geschichtlich nicht haltbaren Rechtfertigung des ersten deutschen Angriffskrieges seit 1939 zu entsprechen. ›Sagt die Wahrheit, nichts als die Wahrheit‹ wurde uns nachgerufen, als wir das bombardierte Land am 29. Mai 1999 verließen. Peter Handke sagt sie, ungeachtet aller Benachteiligung, hat verschriftlicht, wozu wir gemeinsam mit Eckart Spoo als Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern beizutragen versucht haben: ›Dialog von unten statt Bomben von oben‹. Mit Heinrich Heine: Der Gedanke, den wir gedacht, lässt uns keine Ruhe, bis wir ihm einen Leib gegeben, bis wir ihn zur sinnlichen Erscheinung gefördert. Der Gedanke will Tat, das Wort will Fleisch werden.«
An fast allen Medien vorbei ging derweil, dass die serbische Stadt Varvarin der Fotografin Gabriele Senft die Ehrenbürgerschaft verliehen hat. Am 23. September nahm sie in der Stadt die Ehrenurkunde samt Plakette entgegen.
Die Varvariner Bürger waren 1999 Opfer zweier schwerer NATO-Luftangriffe.
Im Nachgang zur Auszeichnung schrieb Gabriele Senft in einem Dankesbrief an Gemeinderat, Bürgermeister und alle Varvariner im Oktober 2019: »Das erste Mal war ich im April 2001 in Ihrer Stadt und lernte die Varvariner Betroffenen eines schlimmen NATO-Kriegsverbrechens kennen. Und doch war das schon die Fortsetzung einer Entscheidung, die ich 1999 mit anderen deutschen Frauen und Männern traf. Diese waren wie ich entsetzt und empört, dass Deutschlands führende Politiker zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkrieges wieder deutsche Soldaten in einen Angriffskrieg schickten. Im April 1999 hatten sich einige von ihnen entschlossen, ein Zeichen gegen diesen Krieg zu setzen, indem sie durch eine Busreise in die durch Bomben angegriffene Republik Jugoslawien energisch ein[en] Stop[p] der Bomben forderten. Am 24. April 2001 stand ich mit 130 anderen aus Deutschland und Landsleuten von Ihnen in Belgrad vor dem in der Nacht zerstörten staatlichen Rundfunk- und Fernsehsender RTS. Bis dahin zurück reicht der mir selbst gegebene Auftrag, die Wahrheit über die Kriegsverbrechen gegen die Volksrepublik Jugoslawien auch als Fotojournalistin zu verbreiten. Ich danke allen, die mir das ermöglichten. […]«
Glückwunsch an Peter Handke und Gabriele Senft, dass sie sich in ihrer Suche nach der Wahrheit nicht beirren lassen.
Das Ossietzky-Themenheft (15/2017) ist noch zu haben: Sonderdruck, 72 Seiten, 6,50 € zzgl. 1,50 € Versandkosten, Bezug: ossietzky@interdruck.net. Im Verlag Wiljo Heinen erschien 2014 Gabriele Senfts Dokumentation »TARGET. Die Brücke von Varvarin«, 224 Seiten, 16,80 €. Das Buch liegt seit 2019 auch in serbischer Sprache vor (Verlag des RTS).