Dass viele »große« Männer ihren Erfolg häufig der Unterstützung durch ihre Frauen zu verdanken haben, ist inzwischen zu einer Spruchweisheit geronnen. Dennoch sind diese Frauen in der Regel nicht bekannt, spielen in der Öffentlichkeit keine Rolle, höchstens als Sidekick, als »Frau an seiner Seite«. Und was für Männer gilt, trifft auch auf große Familien-Clans zu, deren Namen üblicherweise in der Öffentlichkeit mit männlichen Mitgliedern verbunden werden.
Diesen ganz speziellen Gender-Gap hat sich die Autorin Heike Specht in ihrem neuesten Buch vorgenommen, und zwar am Beispiel der deutsch-jüdischen Familie Feuchtwanger. Bisher ist Specht als Biografin von Lilli Palmer und Curd Jürgens sowie 2019 mit Deutschland und seine First Ladies von 1949 bis heute (inklusive eines Kapitels über den ersten First Husband Joachim Sauer) schriftstellerisch hervorgetreten. In Die Frauen der Familie Feuchtwanger beschreibt sie aus weiblicher Perspektive all jene Frauen, die »fast zwei Jahrhunderte lang die Familie mit Frömmigkeit und Geschäftssinn, aber auch mit Pioniergeist und Wagemut auf Kurs hielten«.
Matriarchinnen, Hausherrinnen, Pionierinnen und Heldinnen steht über den einzelnen Kapiteln, denn: »Der Aufstieg, den die Feuchtwangers im Laufe des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts hingelegt haben, wäre ohne die Frauen nicht möglich gewesen. Ohne sie hätten die vier Feuchtwanger-Brüder aus der Fürther Provinz den steilen Weg ins gehobene Wirtschaftsbürgertum der Residenzstadt München nicht geschafft.«
Die Historikerin hat ihre Spurensuche vor rund einem Vierteljahrhundert mit den Recherchen zu ihrer Doktorarbeit gestartet. Für die Dissertation, veröffentlicht unter dem Titel »Die Feuchtwangers. Familie, Tradition und jüdisches Selbstverständnis«, hat die Studentin der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität 2004 den Preis der Landeshauptstadt erhalten.
Die Doktorarbeit bildet das solide Fundament des neuen Buches. Das ausgreifende Wissen der Verfasserin über die in vier Generationen sich herausbildenden Verästelungen der Familie belegt deren Herkunft Kapitel für Kapitel. Oder wie, durchaus wohlwollend, die SZ-Rezensentin Jutta Czeguhn formulierte: Man brauchte ihr »wohl nur eine Rolle Endlospapier zu reichen, und sie würde den weit verästelten Stammbaum dieser eindrucksvollen jüdisch-bayerischen Familie gewiss mühelos aufzeichnen können«.
Der Name »Feuchtwanger« taucht im ausgehenden 18. Jahrhundert zum ersten Mal in der Familienchronik auf, und zwar in Fürth mit der Hochzeit von Jaakow Arieh ben Mosche Schulhof und Hanna Fränkel, diese »ausgestattet mit einer ordentlichen Mitgift und besten Kontakten in die vornehmsten Gemeinden des Reiches«.
Die jüdische Familie Fränkel war 1670 aus Wien vertrieben worden und inzwischen eine der einflussreichsten jüdischen Familien des Ortes, sogar mit eigener Synagoge. Die Schulhofs stammten aus dem kleinen fränkischen Örtchen Feuchtwangen an der Sulzach, aus dem sie Mitte des 16. Jahrhunderts vertrieben worden waren. Auch sie waren nach Fürth geflohen, das sich im Laufe des 16. Jahrhunderts zu einem florierenden Zentrum des süddeutschen Judentums entwickelt hatte.
Ihr Nachname zeigt an, dass sie rund um den Hof der beiden großen Synagogen lebten, dem Schulhof. Da es im 16. Jahrhundert keine festen Nachnamen gab, hatten sie ihrem die Örtlichkeit zugeordnet, wo sie wohnten. Jakow aber entschloss sich Generationen später, den Ursprungsort seiner Vorfahren als Nachnamen zu übernehmen. Er hieß fortan zusammen mit seiner Frau Hanna »Feuchtwanger«, und unter diesem Namen wurden sie Stammvater und Stammmutter einer Dynastie, »die im Laufe der folgenden zweihundert Jahre erfolgreiche Kauffrauen, Bankiers, Ärztinnen, Wissenschaftler, Schriftsteller, Vordenkerinnen und Verleger hervorbringen sollte«.
Hanna Feuchtwanger war zuständig für das Zuhause, für den Frieden in der Familie, gebar mindesten fünf Kinder, genau weiß man es nicht, und führte mit ihrem Mann gemeinsam die Handelsgeschäfte, vermutlich mit Silberwaren, vielleicht auch mit Geldwechsel, bis sie mit 72 Jahren 1820 starb. Jakow Feuchtwanger war da schon seit zehn Jahren tot und Hanna seitdem Chefin des Kontors.
Hanna hatte in den letzten Jahren vor ihrem Tod »alle Hände voll zu tun, eine hervorragende Partie für ihren jüngsten Sohn zustande zu bringen«. So kam es, dass nach einigen finanziellen Bemühungen Seligmann Feuchtwanger und Fanny Wassermann heirateten, sie die Tochter eines reichen Tuchhändlers, dessen Familie »einen edlen, weit in die Vergangenheit reichenden Stammbaum frommer und fleißiger Ahninnen und Ahnen vorweisen konnte«. Das Startkapital, das beide in die Ehe einbrachten, floss in die Gründung der Familie und das gemeinsame Geschäft. Nach dem gelungenen Coup zog sich Hanna aus der Firma zurück. Sie erlebte nicht mehr, wie ihre Schwiegertochter Fanny zur eigentlichen Matriarchin der Feuchtwangers wurde: »Sie war die treibende Kraft, die die Familie zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf Erfolgskurs setzte. Bis zu ihrem Tod 1875 war sie die unangefochtene Matriarchin.«
Die Feuchtwangers waren, wie Heike Specht beschreibt, »große, kinderreiche Familien« auch in den folgenden Generationen. In den Augen der Frauen war »Kinderreichtum ein Segen Gottes, zehn bis fünfzehn Söhne und Töchter waren keine Seltenheit«. Fanny und Seligmann zogen 18 Kinder groß. Vier ihrer Söhne gingen nach München, gründeten dort Unternehmen: Jakob und Moritz eröffneten eine Bank, David und Elkan gründeten eine Margarinefabrik.
Specht: »Sicher, es gab Rückschläge, Beinahe-Pleiten, unglückliche Ehen, persönliche Tragödien, aber alles in allem lief es für die jeweils folgende Generation der Familie Feuchtwanger im behaglichen München immer noch ein wenig besser als für die vorhergehende, lebten die Kinder komfortabler und sicherer, glaubten an eine noch hoffnungsvollere Zukunft als ihre Eltern und Großeltern.«
Bis zum Zivilisationsbruch. Bis zum Jahr 1933. »Dann reißt der Film«, schreibt Heike Specht. »In den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts endet die lange Geschichte der Familie in Deutschland, wie die so vieler deutsch-jüdischer Familien. Auf brutale Weise werden sie herausgerissen aus dem Land, das ihren Vorfahrinnen und Vorfahren über Jahrhunderte Heimat gewesen war. Viele Feuchtwangers brachten sich in den Dreißigerjahren in Palästina in Sicherheit, bauten den 1948 gegründeten Staat Israel mit auf.«
Heute dürfte allgemein der Bekannteste aus dieser Familie der Schriftsteller Lion Feuchtwanger sein (1884-1958), Verfasser weltbekannter, auch verfilmter Romane wie Jud Süß, Erfolg, Geschwister Oppermann, Exil, Goya und der Josephus-Trilogie. Nach der Verbrennung seiner Bücher 1933 und seiner Ausbürgerung lebte er mit seiner Frau Marta in Südfrankreich. 1940 wurde er in Frankreich interniert und konnte dank der Hilfe Martas – die ihn umhütete und ihm mehrmals das Leben rettete –ؘ über Spanien und Portugal in die USA fliehen, wo sich die Familie in Los Angeles, der Stadt der Engel, niederließ. (Siehe dazu auch: Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur, in: Ossietzky 11/2024.) Drei Frauen der Familie Feuchtwanger haben eine Sonderrolle in diesem Buch: Marta Feuchtwanger (1891-1987) in Los Angeles, die Gynäkologin und Zionistin Rahel Straus (1880-1963) in Jerusalem, sie hatte 1900 als erste Frau an der Medizinischen Universität in Heidelberg studiert und als dritte Ärztin in München eine eigene Praxis eröffnet, und Felice Schragenheim (1922-1944) in Berlin. »Sie stehen im Sturm der Ereignisse. Das riesige Loch, das Verfolgung und Shoah reißen werden, können sie noch gar nicht in vollem Umfang ermessen. Aber jede von ihnen weiß: Etwas ist unwiederbringlich zu Ende gegangen.« Sie führen als weibliche Stimmen durch das Buch, »Momentaufnahmen aus der Perspektive der frühen 1940er Jahre, die die chronologische Erzählung der Familiengeschichte durchbrechen«.
In der Friedrichshaller Straße 23 in Berlin-Schmargendorf befindet sich seit dem 22. Oktober 2004 ein Stolperstein. Seine Inschrift: Hier wohnte / Felice / Schragenheim / JG. 1922 / Deportiert 1944 / Theresienstadt / Auschwitz / Groß Rosen / ???
Felice war »Jaguar«. Diesen Kosenamen gab ihr Lilly Wust, von Felice »Aimée« genannt. Die beiden Frauen hatten sich im Sommer 1942 kennen gelernt und ineinander verliebt. Felice war eine Nichte von Lion Feuchtwanger, arbeitete als Journalistin und im Widerstand. Am 21. August 1944 wurde sie von der Gestapo abgeholt und im September nach Theresienstadt deportiert. Todestag und -ort sind unbekannt. Der Form halber legte das Amtsgericht Berlin-Charlottenburg nach dem Zweiten Weltkrieg den 31. Dezember 1944 als Todestag fest.
1995 veröffentlichte die österreichische Schriftstellerin Erica Fischer das Buch Aimée und Jaguar. Eine Liebesgeschichte, Berlin 1943, das vor allem auf dem Zeugnis von Lilly Wust basiert. 1999 kam Aimée & Jaguar von Max Färberböck ins Kino.
Der 18-seitige Bildteil des Buches enthält ein Foto der beiden Frauen bei einem innigen Kuss. Es ist eine der letzten Aufnahmen von Felice Schragenheim. Unterzeile: »Bei der Rückkehr von diesem Badeurlaub an die Havel wartete die Gestapo auf sie.«
Felice steht stellvertretend für alle Mitglieder der Familie Feuchtwanger, die nicht fliehen konnten und die nicht überlebt haben.
Heike Specht: Die Frauen der Familie Feuchtwanger. Eine unerzählte Geschichte, Piper Verlag, München 2024, 336 S., 24 €.