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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Powerfrauen und Frauenpower

Dass vie­le »gro­ße« Män­ner ihren Erfolg häu­fig der Unter­stüt­zung durch ihre Frau­en zu ver­dan­ken haben, ist inzwi­schen zu einer Spruch­weis­heit geron­nen. Den­noch sind die­se Frau­en in der Regel nicht bekannt, spie­len in der Öffent­lich­keit kei­ne Rol­le, höch­stens als Side­kick, als »Frau an sei­ner Sei­te«. Und was für Män­ner gilt, trifft auch auf gro­ße Fami­li­en-Clans zu, deren Namen übli­cher­wei­se in der Öffent­lich­keit mit männ­li­chen Mit­glie­dern ver­bun­den werden.

Die­sen ganz spe­zi­el­len Gen­der-Gap hat sich die Autorin Hei­ke Specht in ihrem neue­sten Buch vor­ge­nom­men, und zwar am Bei­spiel der deutsch-jüdi­schen Fami­lie Feucht­wan­ger. Bis­her ist Specht als Bio­gra­fin von Lil­li Pal­mer und Curd Jür­gens sowie 2019 mit Deutsch­land und sei­ne First Ladies von 1949 bis heu­te (inklu­si­ve eines Kapi­tels über den ersten First Hus­band Joa­chim Sau­er) schrift­stel­le­risch her­vor­ge­tre­ten. In Die Frau­en der Fami­lie Feucht­wan­ger beschreibt sie aus weib­li­cher Per­spek­ti­ve all jene Frau­en, die »fast zwei Jahr­hun­der­te lang die Fami­lie mit Fröm­mig­keit und Geschäfts­sinn, aber auch mit Pio­nier­geist und Wage­mut auf Kurs hielten«.

Matri­ar­chin­nen, Haus­her­rin­nen, Pio­nie­rin­nen und Hel­din­nen steht über den ein­zel­nen Kapi­teln, denn: »Der Auf­stieg, den die Feucht­wan­gers im Lau­fe des 19. und begin­nen­den 20. Jahr­hun­derts hin­ge­legt haben, wäre ohne die Frau­en nicht mög­lich gewe­sen. Ohne sie hät­ten die vier Feucht­wan­ger-Brü­der aus der Für­ther Pro­vinz den stei­len Weg ins geho­be­ne Wirt­schafts­bür­ger­tum der Resi­denz­stadt Mün­chen nicht geschafft.«

Die Histo­ri­ke­rin hat ihre Spu­ren­su­che vor rund einem Vier­tel­jahr­hun­dert mit den Recher­chen zu ihrer Dok­tor­ar­beit gestar­tet. Für die Dis­ser­ta­ti­on, ver­öf­fent­licht unter dem Titel »Die Feucht­wan­gers. Fami­lie, Tra­di­ti­on und jüdi­sches Selbst­ver­ständ­nis«, hat die Stu­den­tin der Münch­ner Lud­wig-Maxi­mi­li­ans-Uni­ver­si­tät 2004 den Preis der Lan­des­haupt­stadt erhalten.

Die Dok­tor­ar­beit bil­det das soli­de Fun­da­ment des neu­en Buches. Das aus­grei­fen­de Wis­sen der Ver­fas­se­rin über die in vier Gene­ra­tio­nen sich her­aus­bil­den­den Ver­äste­lun­gen der Fami­lie belegt deren Her­kunft Kapi­tel für Kapi­tel. Oder wie, durch­aus wohl­wol­lend, die SZ-Rezen­sen­tin Jut­ta Czeguhn for­mu­lier­te: Man brauch­te ihr »wohl nur eine Rol­le End­los­pa­pier zu rei­chen, und sie wür­de den weit ver­ästel­ten Stamm­baum die­ser ein­drucks­vol­len jüdisch-baye­ri­schen Fami­lie gewiss mühe­los auf­zeich­nen können«.

Der Name »Feucht­wan­ger« taucht im aus­ge­hen­den 18. Jahr­hun­dert zum ersten Mal in der Fami­li­en­chro­nik auf, und zwar in Fürth mit der Hoch­zeit von Jaa­kow Arieh ben Mosche Schul­hof und Han­na Frän­kel, die­se »aus­ge­stat­tet mit einer ordent­li­chen Mit­gift und besten Kon­tak­ten in die vor­nehm­sten Gemein­den des Reiches«.

Die jüdi­sche Fami­lie Frän­kel war 1670 aus Wien ver­trie­ben wor­den und inzwi­schen eine der ein­fluss­reich­sten jüdi­schen Fami­li­en des Ortes, sogar mit eige­ner Syn­ago­ge. Die Schul­hofs stamm­ten aus dem klei­nen frän­ki­schen Ört­chen Feucht­wan­gen an der Sulz­ach, aus dem sie Mit­te des 16. Jahr­hun­derts ver­trie­ben wor­den waren. Auch sie waren nach Fürth geflo­hen, das sich im Lau­fe des 16. Jahr­hun­derts zu einem flo­rie­ren­den Zen­trum des süd­deut­schen Juden­tums ent­wickelt hatte.

Ihr Nach­na­me zeigt an, dass sie rund um den Hof der bei­den gro­ßen Syn­ago­gen leb­ten, dem Schul­hof. Da es im 16. Jahr­hun­dert kei­ne festen Nach­na­men gab, hat­ten sie ihrem die Ört­lich­keit zuge­ord­net, wo sie wohn­ten. Jakow aber ent­schloss sich Gene­ra­tio­nen spä­ter, den Ursprungs­ort sei­ner Vor­fah­ren als Nach­na­men zu über­neh­men. Er hieß fort­an zusam­men mit sei­ner Frau Han­na »Feucht­wan­ger«, und unter die­sem Namen wur­den sie Stamm­va­ter und Stamm­mut­ter einer Dyna­stie, »die im Lau­fe der fol­gen­den zwei­hun­dert Jah­re erfolg­rei­che Kauf­frau­en, Ban­kiers, Ärz­tin­nen, Wis­sen­schaft­ler, Schrift­stel­ler, Vor­den­ke­rin­nen und Ver­le­ger her­vor­brin­gen sollte«.

Han­na Feucht­wan­ger war zustän­dig für das Zuhau­se, für den Frie­den in der Fami­lie, gebar min­de­sten fünf Kin­der, genau weiß man es nicht, und führ­te mit ihrem Mann gemein­sam die Han­dels­ge­schäf­te, ver­mut­lich mit Sil­ber­wa­ren, viel­leicht auch mit Geld­wech­sel, bis sie mit 72 Jah­ren 1820 starb. Jakow Feucht­wan­ger war da schon seit zehn Jah­ren tot und Han­na seit­dem Che­fin des Kontors.

Han­na hat­te in den letz­ten Jah­ren vor ihrem Tod »alle Hän­de voll zu tun, eine her­vor­ra­gen­de Par­tie für ihren jüng­sten Sohn zustan­de zu brin­gen«. So kam es, dass nach eini­gen finan­zi­el­len Bemü­hun­gen Selig­mann Feucht­wan­ger und Fan­ny Was­ser­mann hei­ra­te­ten, sie die Toch­ter eines rei­chen Tuch­händ­lers, des­sen Fami­lie »einen edlen, weit in die Ver­gan­gen­heit rei­chen­den Stamm­baum from­mer und flei­ßi­ger Ahn­in­nen und Ahnen vor­wei­sen konn­te«. Das Start­ka­pi­tal, das bei­de in die Ehe ein­brach­ten, floss in die Grün­dung der Fami­lie und das gemein­sa­me Geschäft. Nach dem gelun­ge­nen Coup zog sich Han­na aus der Fir­ma zurück. Sie erleb­te nicht mehr, wie ihre Schwie­ger­toch­ter Fan­ny zur eigent­li­chen Matri­ar­chin der Feucht­wan­gers wur­de: »Sie war die trei­ben­de Kraft, die die Fami­lie zu Beginn des 19. Jahr­hun­derts auf Erfolgs­kurs setz­te. Bis zu ihrem Tod 1875 war sie die unan­ge­foch­te­ne Matriarchin.«

Die Feucht­wan­gers waren, wie Hei­ke Specht beschreibt, »gro­ße, kin­der­rei­che Fami­li­en« auch in den fol­gen­den Gene­ra­tio­nen. In den Augen der Frau­en war »Kin­der­reich­tum ein Segen Got­tes, zehn bis fünf­zehn Söh­ne und Töch­ter waren kei­ne Sel­ten­heit«. Fan­ny und Selig­mann zogen 18 Kin­der groß. Vier ihrer Söh­ne gin­gen nach Mün­chen, grün­de­ten dort Unter­neh­men: Jakob und Moritz eröff­ne­ten eine Bank, David und Elkan grün­de­ten eine Margarinefabrik.

Specht: »Sicher, es gab Rück­schlä­ge, Bei­na­he-Plei­ten, unglück­li­che Ehen, per­sön­li­che Tra­gö­di­en, aber alles in allem lief es für die jeweils fol­gen­de Gene­ra­ti­on der Fami­lie Feucht­wan­ger im behag­li­chen Mün­chen immer noch ein wenig bes­ser als für die vor­her­ge­hen­de, leb­ten die Kin­der kom­for­ta­bler und siche­rer, glaub­ten an eine noch hoff­nungs­vol­le­re Zukunft als ihre Eltern und Großeltern.«

Bis zum Zivi­li­sa­ti­ons­bruch. Bis zum Jahr 1933. »Dann reißt der Film«, schreibt Hei­ke Specht. »In den Drei­ßi­ger­jah­ren des 20. Jahr­hun­derts endet die lan­ge Geschich­te der Fami­lie in Deutsch­land, wie die so vie­ler deutsch-jüdi­scher Fami­li­en. Auf bru­ta­le Wei­se wer­den sie her­aus­ge­ris­sen aus dem Land, das ihren Vor­fah­rin­nen und Vor­fah­ren über Jahr­hun­der­te Hei­mat gewe­sen war. Vie­le Feucht­wan­gers brach­ten sich in den Drei­ßi­ger­jah­ren in Palä­sti­na in Sicher­heit, bau­ten den 1948 gegrün­de­ten Staat Isra­el mit auf.«

Heu­te dürf­te all­ge­mein der Bekann­te­ste aus die­ser Fami­lie der Schrift­stel­ler Lion Feucht­wan­ger sein (1884-1958), Ver­fas­ser welt­be­kann­ter, auch ver­film­ter Roma­ne wie Jud Süß, Erfolg, Geschwi­ster Opper­mann, Exil, Goya und der Jose­phus-Tri­lo­gie. Nach der Ver­bren­nung sei­ner Bücher 1933 und sei­ner Aus­bür­ge­rung leb­te er mit sei­ner Frau Mar­ta in Süd­frank­reich. 1940 wur­de er in Frank­reich inter­niert und konn­te dank der Hil­fe Mar­tas – die ihn umhü­te­te und ihm mehr­mals das Leben ret­te­te –ؘ über Spa­ni­en und Por­tu­gal in die USA flie­hen, wo sich die Fami­lie in Los Ange­les, der Stadt der Engel, nie­der­ließ. (Sie­he dazu auch: Uwe Witt­stock: Mar­seil­le 1940. Die gro­ße Flucht der Lite­ra­tur, in: Ossietzky 11/​2024.) Drei Frau­en der Fami­lie Feucht­wan­ger haben eine Son­der­rol­le in die­sem Buch: Mar­ta Feucht­wan­ger (1891-1987) in Los Ange­les, die Gynä­ko­lo­gin und Zio­ni­stin Rahel Straus (1880-1963) in Jeru­sa­lem, sie hat­te 1900 als erste Frau an der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät in Hei­del­berg stu­diert und als drit­te Ärz­tin in Mün­chen eine eige­ne Pra­xis eröff­net, und Feli­ce Schra­gen­heim (1922-1944) in Ber­lin. »Sie ste­hen im Sturm der Ereig­nis­se. Das rie­si­ge Loch, das Ver­fol­gung und Sho­ah rei­ßen wer­den, kön­nen sie noch gar nicht in vol­lem Umfang ermes­sen. Aber jede von ihnen weiß: Etwas ist unwie­der­bring­lich zu Ende gegan­gen.« Sie füh­ren als weib­li­che Stim­men durch das Buch, »Moment­auf­nah­men aus der Per­spek­ti­ve der frü­hen 1940er Jah­re, die die chro­no­lo­gi­sche Erzäh­lung der Fami­li­en­ge­schich­te durchbrechen«.

In der Fried­richs­hal­ler Stra­ße 23 in Ber­lin-Schmar­gen­dorf befin­det sich seit dem 22. Okto­ber 2004 ein Stol­per­stein. Sei­ne Inschrift: Hier wohn­te /​ Feli­ce /​ Schra­gen­heim /​ JG. 1922 /​ Depor­tiert 1944 /​ The­re­si­en­stadt /​ Ausch­witz /​ Groß Rosen / ??? 

Feli­ce war »Jagu­ar«. Die­sen Kose­na­men gab ihr Lil­ly Wust, von Feli­ce »Aimée« genannt. Die bei­den Frau­en hat­ten sich im Som­mer 1942 ken­nen gelernt und inein­an­der ver­liebt. Feli­ce war eine Nich­te von Lion Feucht­wan­ger, arbei­te­te als Jour­na­li­stin und im Wider­stand. Am 21. August 1944 wur­de sie von der Gesta­po abge­holt und im Sep­tem­ber nach The­re­si­en­stadt depor­tiert. Todes­tag und -ort sind unbe­kannt. Der Form hal­ber leg­te das Amts­ge­richt Ber­lin-Char­lot­ten­burg nach dem Zwei­ten Welt­krieg den 31. Dezem­ber 1944 als Todes­tag fest.

1995 ver­öf­fent­lich­te die öster­rei­chi­sche Schrift­stel­le­rin Eri­ca Fischer das Buch Aimée und Jagu­ar. Eine Lie­bes­ge­schich­te, Ber­lin 1943, das vor allem auf dem Zeug­nis von Lil­ly Wust basiert. 1999 kam Aimée & Jagu­ar von Max Fär­ber­böck ins Kino.

Der 18-sei­ti­ge Bild­teil des Buches ent­hält ein Foto der bei­den Frau­en bei einem inni­gen Kuss. Es ist eine der letz­ten Auf­nah­men von Feli­ce Schra­gen­heim. Unter­zei­le: »Bei der Rück­kehr von die­sem Bade­ur­laub an die Havel war­te­te die Gesta­po auf sie.«

Feli­ce steht stell­ver­tre­tend für alle Mit­glie­der der Fami­lie Feucht­wan­ger, die nicht flie­hen konn­ten und die nicht über­lebt haben.

 Hei­ke Specht: Die Frau­en der Fami­lie Feucht­wan­ger. Eine uner­zähl­te Geschich­te, Piper Ver­lag, Mün­chen 2024, 336 S., 24 €.