George Orwell (»1984«) würde sich angesichts der heutigen postdemokratischen Zustände bitter bestätigt sehen. Seine Vision eines totalitären Überwachungsstaates wird noch übertroffen durch die aktuellen Verhältnisse, die der amerikanische Politikwissenschaftler Sheldon Wolin charakterisiert hat als einen »umgekehrten Totalitarismus« (inverted totalitarianism).
Zu den Bildschirmen bei Orwell, mit denen »Big Brother« alles überwachte, also zu den heutigen TV-Glotzen, vor denen die Leute denkbetreut auf ihren Sofas sediert werden, kommen heute die Smartphones hinzu, das Internet in jeder Hosentasche. Es braucht weniger einen offenen Überwachungsterror; es läuft auf eine (»inverted«) verinnerlichte Demokratur, eine neuerdings KI-gestützte Selbstgleichschaltung durch Massenmanipulation hinaus. Meinungsumfragen bewirken selbstreferenziell die Bestätigung der Manipulation wie in einer großen Echokammer.
Die EU und die deutsche Bundesregierung überschlagen sich geradezu mit Gesetzen, Verordnungen, Verhaltenskodizes gegen »Desinformation«, »Fake news«, »Hasskriminalität« usw. Selbstverständlich gibt es das alles durch intensive Aktivitäten von Rechtsradikalen oder sonstigen, auch russischen, »Trollen«, die in den unendlichen Sphären des Internets und der »sozialen«(?) Netzwerke unterwegs sind. Nur sind die chronisch hinterherlaufenden staatlichen oder staatlich geförderten Zensur-»Maßnahmen« zweischneidig und vor allem einseitig.
Was »Gedankenverbrechen« nach George Orwell waren, tritt offen und kaum einzudämmen im Internet zutage. Was »wahr« ist oder nicht, wollen jetzt der Superstaat bestimmen sowie die Meinungsfabriken der TV-Anstalten und Medienkonzerne, die sich »zu einem Kartell zusammenschließen und daraus ein Wahrheitsministerium machen, ohne den Staat zu bemühen« (so Michael Meyen im Nachrichtenmagazin Hintergrund, 1+2, 2024).
Hier gleichen sich westlich-privatkapitalistische, als »demokratisch« etikettierte Formen der Überwachungsstaaten, und staatskapitalistisch-»autokratische« (z. B. China) offenbar immer mehr an.
Zahlreiche, vom Staat, von Unternehmensverbänden und Medienkonzernen finanzierte Think-tanks, Stiftungen und Institute wie die »Stiftung Wissenschaft und Politik«, »Bertelsmann-Stiftung«, »Neue soziale Marktwirtschaft«, »Zentrum liberale Moderne«, »Correktiv« bis hin zur »Bildungsstätte Anne Frank« sowie monopolartige Medien verbreiten die gewünschten Narrative.
Beispielsweise die Rentenlügen mit denen nach der gescheiterten Riester-Hype (»Eigenvorsorge« auf Kosten der Arbeitenden für den Profit der Unternehmen) jetzt die schuldenfinanzierte »Aktienrente« propagiert wird, von der lediglich das Finanzcasino profitiert, während die Altersarmut steigt und die Privilegien der Besserverdienenden (z. B. Beitragsbemessungsgrenze«) und Extra-Pensionierten unangetastet bleiben.
Oder zum Ukraine-Krieg: Milliarden über Milliarden werden in einen illusorischen Sieg der Ukraine »investiert«. Statt Russland ist die Ukraine im von den USA angezettelten Stellvertreterkrieg ruiniert. Deutschland soll »kriegstüchtig« werden, man will »den Krieg nach Russland tragen«. Man predigt Eskalation bis an die Schwelle des Atomkrieges. Ein Beispiel für Orwellschen Neusprech (»Krieg ist Frieden«) sind die »Friedenskundgebungen« der Ukraine-Unterstützer, auf denen für Waffenlieferungen und einen »Endsieg« der Ukraine demonstriert sowie Kompromisse abgelehnt werden – »mit Putin kann man nicht verhandeln«.
Oder zum Nah-Ost-Konflikt: Jede Kritik am rechtsnationalistischen, rassistischen Zionismus Israels, am Vernichtungskrieg in Gaza, am Siedlerterrorismus im Westjordanland wird offiziell als Antisemitismus, als »israel-bezogener Antisemitismus« denunziert. Beispiele entsprechender Desinformation folgen am Schluss dieses Artikels.
Wem gehört »unsere Demokratie«? Ist es überhaupt noch eine? Es ist – wie oben beleuchtet – eine Demokratur des Kapitals, der Reichen. Die von Correktiv ausgelöste Massenbewegung zur Verteidigung »unserer Demokratie« gegen die AfD kann – so hart es klingt – als spektakuläres Beispiel für »umgekehrten (gewendeten) Totalitarismus« betrachtet werden. Sicher ist es zu begrüßen, wenn Hunderttausende in vielen Städten gegen Ausländerhetze und die AfD, für Solidarität und Zusammenhalt demonstrieren. Sie demonstrieren aber ausgerechnet gemeinsam mit, zum großen Teil unter Initiative und Leitung der »staatstragenden« Parteien, die für Rüstungswahn, Kriegsvorbereitung, Sozialabbau und migrantenfeindliche Politik verantwortlich sind – also für alles, was man unter »rechts« verstehen muss. Es braucht gar keine AfD, wenn u. a. Kanzler Scholz »Abschiebungen im großen Stil« fordert und Ministerin Faeser ein Gesetzespaket mit einer Rückführungsoffensive« vorlegt, was geradezu nach dem ins Deutsche übersetzten Un-Wort »Remigration« klingt.
Migration ist ein unlösbares Problem so lange imperialistische Kriege, Verwüstungen und Umweltzerstörungen permanent Millionen Menschen in die Flucht treiben. Es ist daher ein Dauerthema, mit dem von nahezu allen Parteien populistische Politik und Propaganda betrieben wird und sich das gesamte Spektrum weiter nach rechts verschiebt.
Beispiele für Desinformation zur israelischen Politik:
1) Aus der »Argumentationshilfe zum Antisemitismus im Netz« der »Bildungsstätte Anne Frank«, hier zum Thema »Israel ist ein Apartheidstaat«: »Die Gründung des jüdischen Staates wird zu einem rassistischen und kolonialen Unterfangen verklärt, dessen Ziel die Verdrängung der Palästinenser*innen gewesen sei. (…) Der Vorwurf, Israel sei ein rassistischer (Siedler-)Kolonialstaat (…) ist (…) ein populäres Mittel des israelbezogenen Antisemitismus.« Und dann folgt als unverfrorene Desinformation auf die Frage: »Was kann ich dem entgegnen? – »Anders als in Südafrika unter dem Apartheid-Regime sind in Israel alle Staatsbürger*innen rechtlich gleichgestellt.«
Daraus kann man nur schließen, dass Palästinenser gar keine Staatsbürger sind, schon gar nicht in der Westbank oder in Gaza. Sie sind laut dem israelischen Verteidigungsminister Gallant vielmehr »menschliche Tiere«, die man vernichten muss.
2) Aus einem Interview mit dem »Antisemitismusbeauftragten« der Bundesregierung, Felix Klein (Darmstädter Echo vom 01.03.24): »Mit dem Begriff der Apartheid (…) soll Israel, entgegen den Fakten, dämonisiert (…) und delegitimiert werden. (…) Ein Großteil der palästinensischen Bevölkerung lebt unter Selbstverwaltung. Dass zum Beispiel separate Straßen für Israelis und Palästinenser im Westjordanland bestehen, dazu hat Israel völkerrechtlich als Besatzungsmacht das Recht.« Und, so Klein weiter: »So schräg es klingt, aber Antisemitismus kann auch von Jüdinnen und Juden verbreitet werden.«
Womit klar sein dürfte, dass natürlich jede Kritik am rechtsnationalistischen Zionismus und an der aktuell genozidal gesteigerten Politik Israels »antisemitisch« ist.