Seit einiger Zeit geht auch in Deutschland ein (gar nicht so) neues Gespenst um: der Populismus. Der Begriff des Populismus ist dabei zumeist negativ konnotiert. Er wird als die dunkle Seite der Demokratie gesehen, die besser verhindert oder zumindest gebannt werden müsse, wenn die Demokratie nicht auf die schiefe Bahn des Autoritarismus geraten soll. Wenn diese Einschätzungen nicht lediglich die verzerrten Wahrnehmungen jener Kommentatoren sein sollen, die ihre sozioökonomischen und soziokulturellen Mainstream-Positionen gefährdet sehen, dann können sie vielleicht verstanden werden vor dem Hintergrund, dass Populismus zumeist als extreme ideologische Position gesehen wird, die auf Ausgrenzung und gesellschaftlicher Grenzziehung – »Wir und Sie« – basiert. In diesem Verständnis ist Populismus als anti-demokratisch zu begreifen, denn Demokratie wird als Ausdruck einer Elitenherrschaft abgelehnt.
Es besteht wenig Zweifel daran, dass es diese Form des Populismus auch in Deutschland z. B. in der Partei »Alternative für Deutschland« oder der PEGIDA-Bewegung gibt und dass sie befeuert wird durch globalisierungsgetriebene Entwicklungen der zunehmenden sozioökonomischen und soziokulturellen Polarisierung und der mangelnden Rücksichtnahme und Reaktionsempfindlichkeit der Politik.
Allerdings zeigen zahlreiche Untersuchungen, dass die meisten Wähler mit populistischen Neigungen keineswegs anti-demokratisch sind und, vor allem, ihre Stimme zumindest bei Wahlen noch gar nicht erheben, weil sie entweder im zunehmend größer werdenden Lager der Nicht-Wähler verschwinden oder – warum auch immer – letztlich immer noch die traditionellen Parteien wählen. Diese Art des Populismus, der sich nicht gegen die Demokratie als kollektives Entscheidungsverfahren an sich, sondern gegen die praktizierte Form der repräsentativ-liberalen Demokratie westlichen Stils richtet, ist keineswegs ein Charakterdefekt jener Wähler, die sich nicht undurchsichtigen Mehrheiten unterwerfen wollen und schnell als autoritäre Liberale abgekanzelt werden. Vielmehr ist er Ausdruck eines systematischen Defekts von repräsentativ-liberalen Mehrheitswahlen bei der Aggregation heterogener Präferenzordnungen (Interessen) oder, einfacher ausgedrückt: Es gibt schlicht keinen konsistent bestimmten Gemeinwillen demokratischer Gemeinwesen. Was demokratische Mehrheitswahlen hervorbringen, sind Minderheitspositionen jener Eliten, denen es gelingt, ihre Präferenzordnungen (Interessen) in der Themenauswahl (Agenda-Building) und -rahmung (Agenda-Setting) als Gemeininteressen erscheinen zu lassen. Dieser als »Wahlparadoxa« bekannte Umstand ist in der Politikwissenschaft und der politischen Ökonomie längst bekannt, hat aber zu keinerlei Nachdenken oder demokratiekonzeptionellen Konsequenzen geführt.
Solange Gesellschaften keine allzu große Heterogenität aufweisen – z. B. homogenisiert durch religiöse Autoritäten oder ökonomische Prozesse (die »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts) – und der Prozess der Formung eines »hergestellten Mainstream-Willens« (wie es Joseph Alois Schumpeter ausdrückte) mit klaren, tabuisierten Meinungsbereichen hinreichend monopolisiert ist, kann dieser demokratische Defekt weitgehend kontrolliert werden. So war es wohl in Westdeutschland bis zur deutschen Einheit. Wenn aber die Demarkationslinie zwischen so bezeichneten Meinungstabus (»unmarked space«) und der Mainstream-Meinung (»marked space«) sichtbarer wird und die Meinungsführer ihre Interessen immer unverhohlener und dreister vertreten und durchzusetzen versuchen, wird Populismus zu einem Ventil für die eingebaute Frustration kollektiver Entscheidungsfindung.
Populismus als Versuch der Kompensation dieses Defektes – also die positiv konnotierte Verwandlung von Populismus in Vox Populi – kann aber nur funktionieren, wenn die Marginalisierung und Exklusion der »Ungehörten« beendet werden kann und die faktisch bislang Marginalisierten eine faire Chance zur Beteiligung am politischen Meinungswettbewerb bekommen. Die sozialen Medien bieten die Chance für eine Demokratisierung der medialen Meinungsmache, allerdings bei gleichzeitigem Verlust der Informationsqualität und der Relativierung von Fakten und Wissen (»fake news«, »fake knowledge«). Wenn die klassischen Medien (Fernsehen, Radio und Zeitungen) die große Breite ideologisch-politischer Positionen, aber auch wissenschaftlicher Standpunkte besser als bisher abbilden würden und dennoch eine klare Linie zwischen verschiedenen, aber nachvollziehbaren Alternativen einerseits und andererseits Narrativen, die auf versteckten, nicht nachvollziehbaren, vorgeblich dennoch intentionalen Aktivitäten beruhen, ziehen würden, könnten Verschwörungstheorien und anderer illegitimer Humbug wohl auf jene beschränkt bleiben, die dafür eine besondere Disposition haben.
Vor allem aber sollte und müsste das demokratische System inklusiver gemacht werden, indem elektorale Innovationen im Rahmen einer demokratischen Modernisierung erprobt würden – immerhin hat es seit Gründung der Bundesrepublik trotz immenser gesellschaftlicher Entwicklungen keinerlei Demokratiereformen im Sinne institutioneller Änderungen der Demokratie in Deutschland mehr gegeben. Vorschläge reichen hier von einfachen plebiszitären Elementen wie Volksentscheiden zu bestimmten Fragestellungen bis zu zufällig zusammengesetzten Kommissionen mit Gesetzgebungs- oder zumindest -prüfungsfunktion – z. B. ein Gesellschafts- oder Bürgerrat, wie von der Fridays for Future-Bewegung gefordert – oder höheren Quoren für Mehrheitsentscheidungen oder die Festlegung und Durchsetzung konstitutioneller Barrieren gegen die Beschränkung individueller Rechte durch einfache Mehrheiten (also eine Stärkung unveräußerlicher individueller Rechte, was in Zukunft die Einschränkung körperlicher Unversehrtheit und individueller Bewegungsfreiheit, aber auch individuelle Entscheidungsfreiheiten besser sichern sollten), die aufgrund des oben beschriebenen demokratischen Defekts eben nur elitäre Minderheitspositionen sind.