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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Populismus – Bedrohung unserer Demokratie?

Seit eini­ger Zeit geht auch in Deutsch­land ein (gar nicht so) neu­es Gespenst um: der Popu­lis­mus. Der Begriff des Popu­lis­mus ist dabei zumeist nega­tiv kon­no­tiert. Er wird als die dunk­le Sei­te der Demo­kra­tie gese­hen, die bes­ser ver­hin­dert oder zumin­dest gebannt wer­den müs­se, wenn die Demo­kra­tie nicht auf die schie­fe Bahn des Auto­ri­ta­ris­mus gera­ten soll. Wenn die­se Ein­schät­zun­gen nicht ledig­lich die ver­zerr­ten Wahr­neh­mun­gen jener Kom­men­ta­to­ren sein sol­len, die ihre sozio­öko­no­mi­schen und sozio­kul­tu­rel­len Main­stream-Posi­tio­nen gefähr­det sehen, dann kön­nen sie viel­leicht ver­stan­den wer­den vor dem Hin­ter­grund, dass Popu­lis­mus zumeist als extre­me ideo­lo­gi­sche Posi­ti­on gese­hen wird, die auf Aus­gren­zung und gesell­schaft­li­cher Grenz­zie­hung – »Wir und Sie« – basiert. In die­sem Ver­ständ­nis ist Popu­lis­mus als anti-demo­kra­tisch zu begrei­fen, denn Demo­kra­tie wird als Aus­druck einer Eli­ten­herr­schaft abgelehnt.

Es besteht wenig Zwei­fel dar­an, dass es die­se Form des Popu­lis­mus auch in Deutsch­land z. B. in der Par­tei »Alter­na­ti­ve für Deutsch­land« oder der PEGI­DA-Bewe­gung gibt und dass sie befeu­ert wird durch glo­ba­li­sie­rungs­ge­trie­be­ne Ent­wick­lun­gen der zuneh­men­den sozio­öko­no­mi­schen und sozio­kul­tu­rel­len Pola­ri­sie­rung und der man­geln­den Rück­sicht­nah­me und Reak­ti­ons­emp­find­lich­keit der Politik.

Aller­dings zei­gen zahl­rei­che Unter­su­chun­gen, dass die mei­sten Wäh­ler mit popu­li­sti­schen Nei­gun­gen kei­nes­wegs anti-demo­kra­tisch sind und, vor allem, ihre Stim­me zumin­dest bei Wah­len noch gar nicht erhe­ben, weil sie ent­we­der im zuneh­mend grö­ßer wer­den­den Lager der Nicht-Wäh­ler ver­schwin­den oder – war­um auch immer – letzt­lich immer noch die tra­di­tio­nel­len Par­tei­en wäh­len. Die­se Art des Popu­lis­mus, der sich nicht gegen die Demo­kra­tie als kol­lek­ti­ves Ent­schei­dungs­ver­fah­ren an sich, son­dern gegen die prak­ti­zier­te Form der reprä­sen­ta­tiv-libe­ra­len Demo­kra­tie west­li­chen Stils rich­tet, ist kei­nes­wegs ein Cha­rak­ter­de­fekt jener Wäh­ler, die sich nicht undurch­sich­ti­gen Mehr­hei­ten unter­wer­fen wol­len und schnell als auto­ri­tä­re Libe­ra­le abge­kan­zelt wer­den. Viel­mehr ist er Aus­druck eines syste­ma­ti­schen Defekts von reprä­sen­ta­tiv-libe­ra­len Mehr­heits­wah­len bei der Aggre­ga­ti­on hete­ro­ge­ner Prä­fe­renz­ord­nun­gen (Inter­es­sen) oder, ein­fa­cher aus­ge­drückt: Es gibt schlicht kei­nen kon­si­stent bestimm­ten Gemein­wil­len demo­kra­ti­scher Gemein­we­sen. Was demo­kra­ti­sche Mehr­heits­wah­len her­vor­brin­gen, sind Min­der­heits­po­si­tio­nen jener Eli­ten, denen es gelingt, ihre Prä­fe­renz­ord­nun­gen (Inter­es­sen) in der The­men­aus­wahl (Agen­da-Buil­ding) und -rah­mung (Agen­da-Set­ting) als Gemein­in­ter­es­sen erschei­nen zu las­sen. Die­ser als »Wahl­pa­ra­do­xa« bekann­te Umstand ist in der Poli­tik­wis­sen­schaft und der poli­ti­schen Öko­no­mie längst bekannt, hat aber zu kei­ner­lei Nach­den­ken oder demo­kra­tie­kon­zep­tio­nel­len Kon­se­quen­zen geführt.

Solan­ge Gesell­schaf­ten kei­ne all­zu gro­ße Hete­ro­ge­ni­tät auf­wei­sen – z. B. homo­ge­ni­siert durch reli­giö­se Auto­ri­tä­ten oder öko­no­mi­sche Pro­zes­se (die »nivel­lier­te Mit­tel­stands­ge­sell­schaft« der zwei­ten Hälf­te des letz­ten Jahr­hun­derts) – und der Pro­zess der For­mung eines »her­ge­stell­ten Main­stream-Wil­lens« (wie es Joseph Alo­is Schum­pe­ter aus­drück­te) mit kla­ren, tabui­sier­ten Mei­nungs­be­rei­chen hin­rei­chend mono­po­li­siert ist, kann die­ser demo­kra­ti­sche Defekt weit­ge­hend kon­trol­liert wer­den. So war es wohl in West­deutsch­land bis zur deut­schen Ein­heit. Wenn aber die Demar­ka­ti­ons­li­nie zwi­schen so bezeich­ne­ten Mei­nungs­ta­bus (»unmark­ed space«) und der Main­stream-Mei­nung (»mark­ed space«) sicht­ba­rer wird und die Mei­nungs­füh­rer ihre Inter­es­sen immer unver­hoh­le­ner und drei­ster ver­tre­ten und durch­zu­set­zen ver­su­chen, wird Popu­lis­mus zu einem Ven­til für die ein­ge­bau­te Fru­stra­ti­on kol­lek­ti­ver Entscheidungsfindung.

Popu­lis­mus als Ver­such der Kom­pen­sa­ti­on die­ses Defek­tes – also die posi­tiv kon­no­tier­te Ver­wand­lung von Popu­lis­mus in Vox Popu­li – kann aber nur funk­tio­nie­ren, wenn die Mar­gi­na­li­sie­rung und Exklu­si­on der »Unge­hör­ten« been­det wer­den kann und die fak­tisch bis­lang Mar­gi­na­li­sier­ten eine fai­re Chan­ce zur Betei­li­gung am poli­ti­schen Mei­nungs­wett­be­werb bekom­men. Die sozia­len Medi­en bie­ten die Chan­ce für eine Demo­kra­ti­sie­rung der media­len Mei­nungs­ma­che, aller­dings bei gleich­zei­ti­gem Ver­lust der Infor­ma­ti­ons­qua­li­tät und der Rela­ti­vie­rung von Fak­ten und Wis­sen (»fake news«, »fake know­ledge«). Wenn die klas­si­schen Medi­en (Fern­se­hen, Radio und Zei­tun­gen) die gro­ße Brei­te ideo­lo­gisch-poli­ti­scher Posi­tio­nen, aber auch wis­sen­schaft­li­cher Stand­punk­te bes­ser als bis­her abbil­den wür­den und den­noch eine kla­re Linie zwi­schen ver­schie­de­nen, aber nach­voll­zieh­ba­ren Alter­na­ti­ven einer­seits und ande­rer­seits Nar­ra­ti­ven, die auf ver­steck­ten, nicht nach­voll­zieh­ba­ren, vor­geb­lich den­noch inten­tio­na­len Akti­vi­tä­ten beru­hen, zie­hen wür­den, könn­ten Ver­schwö­rungs­theo­rien und ande­rer ille­gi­ti­mer Hum­bug wohl auf jene beschränkt blei­ben, die dafür eine beson­de­re Dis­po­si­ti­on haben.

Vor allem aber soll­te und müss­te das demo­kra­ti­sche System inklu­si­ver gemacht wer­den, indem elek­to­ra­le Inno­va­tio­nen im Rah­men einer demo­kra­ti­schen Moder­ni­sie­rung erprobt wür­den – immer­hin hat es seit Grün­dung der Bun­des­re­pu­blik trotz immenser gesell­schaft­li­cher Ent­wick­lun­gen kei­ner­lei Demo­kra­tie­re­for­men im Sin­ne insti­tu­tio­nel­ler Ände­run­gen der Demo­kra­tie in Deutsch­land mehr gege­ben. Vor­schlä­ge rei­chen hier von ein­fa­chen ple­bis­zi­tä­ren Ele­men­ten wie Volks­ent­schei­den zu bestimm­ten Fra­ge­stel­lun­gen bis zu zufäl­lig zusam­men­ge­setz­ten Kom­mis­sio­nen mit Gesetz­ge­bungs- oder zumin­dest -prü­fungs­funk­ti­on – z. B. ein Gesell­schafts- oder Bür­ger­rat, wie von der Fri­days for Future-Bewe­gung gefor­dert – oder höhe­ren Quo­ren für Mehr­heits­ent­schei­dun­gen oder die Fest­le­gung und Durch­set­zung kon­sti­tu­tio­nel­ler Bar­rie­ren gegen die Beschrän­kung indi­vi­du­el­ler Rech­te durch ein­fa­che Mehr­hei­ten (also eine Stär­kung unver­äu­ßer­li­cher indi­vi­du­el­ler Rech­te, was in Zukunft die Ein­schrän­kung kör­per­li­cher Unver­sehrt­heit und indi­vi­du­el­ler Bewe­gungs­frei­heit, aber auch indi­vi­du­el­le Ent­schei­dungs­frei­hei­ten bes­ser sichern soll­ten), die auf­grund des oben beschrie­be­nen demo­kra­ti­schen Defekts eben nur eli­tä­re Min­der­heits­po­si­tio­nen sind.