Die auf Seite 696 zitierten Auslassungen Ossietzkys über Reaktion und mittelparteiliches Bürgertum schlossen mit dem Satz: »Sie finden sich auf dem Verfassungspapier der Republik.« Ossietzky setzte fort: »Sie finden sich in der unbedingten Ablehnung der Tatsache, daß selbst diese Republik revolutionären Ursprungs ist, daß es ohne den 9. November niemals einen 11. August gegeben hätte. Die bürgerliche Demokratie tanzt vor Wonne, wenn ihr der frühere – und jetzige? – kronprinzliche Nachrichtenoffizier Kurt Anker großmütig testiert, es habe 1918 wirklich keine Revolution gegeben, und Alles sei hübsch von selber gekommen. Deshalb keine Schuld, keine Anklage. Am Besten: gar nicht mehr davon sprechen. Das ist die neue Friedensformel: die endgültige Verankerung der Weimarer Demokratie im Sumpfe des Juste milieu.« [1] Wer den revolutionären Ursprung der Verfassung leugnet, so ist Ossietzky zu verstehen, sieht in der Republik nicht die Gründung eines neuen Deutschlands, sondern die Fortsetzung des alten in einer neuen Staatsform. Die Demokratie entfaltet sich nicht, sondern versackt im Sumpf des Juste milieu, und die »bürgerliche Demokratie« sieht nicht, dass dem Sumpf der Kronprinz entsteigen könnte.
Der Ausdruck Juste milieu taucht bei Ossietzky erstmals im Frühjahr 1926 auf. Die konservative Deutschnationale Volkspartei, in Ossietzkys Augen die politische und soziale Reaktion, machte in Gestalt Hugenbergs der Deutschen Volkspartei das Angebot, zusammenzugehen, ähnlich wie es in Thüringen Höcke der FDP und CDU unterbreitete. Ossietzky ordnete die DVP dem Juste milieu zu. Woher er den Ausdruck hatte, der allenfalls dem Historiker etwas sagt, teilte er nicht mit. Ludwig Börne gebrauchte ihn in seinen Korrespondenzen aus Paris. Er bezeichnete damit die Zwitterstellung zwischen Monarchie und Republik, die Frankreich nach der Julirevolution 1830 unter dem Bürgerkönig Louis-Philippe I. einnahm. Ossietzky beruft sich nicht auf Börne. Erst Jahre später schreibt er in der Besprechung einer Börne-Biographie über ihn: »Er wird europäischer Patriot. Und als nach dem mächtigen revolutionären Aufschwung von 1830 der steile Abfall ins Juste milieu kommt, statt der Freiheit der Börsenliberalismus, da wird auch der Ewigsieche totmüde.« [2]
Diese im Dezember 1929 geschriebenen Zeilen mögen Ossietzkys eigene Enttäuschungen über die deutsche Republik spiegeln. Das »enrichissez vous«, das »bereichert euch«, also den Appell, sich um private Geschäfte zu kümmern, mit dem Anhänger des Bürgerkönigs von weitergehenden politischen Reformen abzulenken suchten, bezieht Ossietzky auf die Börse. Sie ist der Ort, die soziale Basis des Juste milieu, die den eigentlich klassenübergreifenden politischen Liberalismus zersetzte. In der Februarrevolution 1848 entstand in Frankreich eine Republik, die, durch die Junischlacht zwischen Bourgeoisie und Proletariat geschwächt, bald im Bonapartismus versank. In der Novemberrevolution 1918 entstand auch in Deutschland eine Republik, der etwas längere Dauer beschieden war, ehe sie im Faschismus versank.
Juste milieu ist bei Ossietzky kein fester Begriff. Er unterscheidet nicht immer klar zwischen einem soziokulturellen und einem von Parteien gebildeten politischen Milieu. Die begriffliche Unschärfe liegt aber auch in der Natur der Sache. Die Mitte, sei sie nun politisch oder soziokulturell zu verstehen, zeigt keine klaren Konturen. Am deutlichsten ist dies für Ossietzky bei der DVP zu erkennen: »Keiner Idee und keinem politischen Programm verhaftet«, lebe die Partei davon, sich anbietende politische Gelegenheiten zu ergreifen. Dem verzweifelten Ausruf des parteilosen Reichskanzlers Luther »Irgendwie muss Deutschland doch regiert werden« fügt er hinzu: »und irgendwie wird es auch immer regiert«. Das Juste milieu geht mit der Reaktion Koalitionen ein, ist aber notfalls auch bereit, sich von den Sozialdemokraten helfen zu lassen. [3] Es gibt das Terrain ab, auf dem sich »Realpolitiker« tummeln, Politiker also, die nie von der »Politik des Möglichen« abweichen, stets bereit sind zurückzustecken, und die auf diese Weise eine »unmögliche Republik« schaffen. [4] Anfang 1929 wertet Ossietzky die Publizierung und freundliche Aufnahme von Briefen Rosa Luxemburgs als einen weiteren Beweis dafür, dass der Krater der Revolution ausgebrannt sei und das Juste milieu als konsolidiert empfunden wird. Ein reichliches Jahr später sieht er nach dem Wahlerfolg der Nazis im September 1930 das Juste milieu nur noch ein »gespenstisches Dasein« führen. Die Klientel war zur Rechten übergelaufen. [5]
Wenn auch das Wort heute kaum noch gebraucht wird, so ist doch die Sache geblieben. In der Unentschlossenheit und mangelnden Geschlossenheit der Parteien der Mitte spiegelt sich die Situation ihrer Klientel, der Mittelschichten. Viele Angehörige schwanken zwischen Zufriedenheit mit dem erreichten Wohlstand und der Sorge vor sozialem Abstieg. Der die Gesellschaft dominierende Gegensatz von Kapital und Arbeit zwingt sie zu einem Spagat.
Denjenigen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen, ihre Arbeitskraft also auf dem Arbeitsmarkt verkaufen, erlaubt das Einkommen in Zeiten der Konjunktur, Kapital zu bilden, womit sie an der Ausbeutung der Arbeitskraft anderer partizipieren. Die Spaltung des gesellschaftlichen Seins führt zu einem schwankenden politischen Bewusstsein, auch bei denen, die als eigenständig Wirtschaftende meinen, ihre eigenen Herren zu sein. Bei den einen reicht die politische Bildung so weit, dass sich ihre demokratische Denkart gegen ihr materielles Interesse behauptet. Sie begreifen die Ursachen ökonomischer Krisen. Andere nicht. Sie wollen sie auch nicht begreifen. Sie würden die Illusionen zerstören, denen sie sich dank ihres durch Kapitalbesitz gehobenen Lebensstandards hingeben. Den Ausweg suchen sie nicht in der Demokratisierung der Gesellschaft, sondern in einer starken Hand, von der sie sich die Verfestigung des Status quo erhoffen.
Nur wer den Aufstieg in das Topmanagement schafft, steht fest auf beiden Beinen. Er ist mit sich im Reinen. Die aberwitzig hohen materiellen Zuwendungen lassen ihn ein Kapital bilden, von dem er lebt und nach dem er sein Denken ausrichtet. Das wird auch von ihm erwartet. Edzard Reuter, der Sohn eines einstigen Spartakisten musste den Vorstandssitz bei Daimler-Benz räumen, weil soziale Überlegungen in seine kaufmännischen Entscheidungen einflossen. Dieter Zetsche, einer seiner Nachfolger, fuhr mit einer misslungenen Fusion riesige Verluste ein. Er durfte bleiben. Zwar hatte er einen Fehler gemacht, aber er hatte die richtige Einstellung: das Unternehmen durch Wachstum zu einer marktbeherrschenden Position führen, um mit Preiserhöhungen und Lohnsenkungen höhere Gewinne einzufahren. Diese Einstellung hängt übrigens nicht vom Geschlecht ab.
Es wird wieder viel von der politischen Mitte geredet. Anders als Ossietzky es sah, gilt sie als Basis der Demokratie und nicht als ein Sumpf, in dem die Demokratie zu versacken droht. Doch eindeutig kann sie sich nicht selbst bestimmen, sondern nur ihren Standort. Zur Rechten wie zur Linken zieht sie Brandmauern hoch, die aber nur in ihrer Vorstellung stabil sind. Sie selber verhält sich wie eine Molluske. So schlecht, wie man eine Nacktschnecke greifen kann, lässt sie sich begreifen.
Der Boden schwankt. Entschieden vorgetragene Abgrenzungsbekundungen nach rechts und links verschaffen noch keine Standfestigkeit. Ein Mann der Mitte lässt sich mit den Stimmen der Rechten zum Ministerpräsidenten Thüringens wählen. Ist das vertretbarer als die Wahl eines Rechten mit Stimmen der Mitte? Nach seiner Wahl lässt die Mitte ihn fallen. Es treten Bestrebungen auf, sich neu zu orientieren. Klare Abgrenzung nach rechts und Kontaktaufnahme mit links wird erwogen. Das ist das Gegenteil von Weimar – wenn es so bleiben sollte. Es ist aber nicht ganz das Gegenteil, weil es keine Linke mehr gibt, wie sie in Weimar existierte, eine Linke, die den Sozialismus auf ihre Agenda gesetzt hatte, ob sie nun reformerisch oder revolutionär auftrat. Die linksliberal gewordene Sozialdemokratie, die Mitte suchend, die sie als »Volkspartei« einst in sich trug, ist schon weiter. Sie kann mit der sozialdemokratisch gewordenen Linkspartei zusammengehen wie auch mit der liberalkonservativen CDU, von der Teile wiederum mit der Rechten liebäugeln. In dem schon im Juni 1945 einsetzenden, von selbständig handelnden heterogenen Gruppen vorangetriebenen Gründungsprozess der CDU behaupteten sich schließlich Traditionsbestände der protestantisch-konservativen DNVP und des katholisch-sozialen Zentrums, die sich als »Christen« vereinten – für echte Zentrumsanhänger eine Zwangsvereinigung.
Auf internationaler Ebene macht das Juste milieu sich unglaubwürdig. So tritt die von ihm politisch geprägte Europäische Union gern als Anwalt der Menschenrechte auf, doch dass Menschen, die auf der Flucht zu ihr sind, ihr Leben verlieren, rührt sie nicht. Ihnen gegenüber festigt sie ihre Grenzen. Ein seltener Fall von Einheit, wenn es nicht um wirtschaftliche Maßnahmen geht.
In Europa hebt die Europäische Union Grenzen auf, ohne freilich das ganze Europa vereinen zu wollen. Russland, seit dem Kiewer Rus historisch gewachsen und zusammengewachsen, wird nicht aufgenommen, sondern auseinandergenommen. Währenddessen verabschiedet sich Großbritannien von der Europäischen Union. In Russland entsteht eine mit Sanktionen bewehrte Brandmauer, diesmal in Wirklichkeit und nicht in der Vorstellung. Das Juste milieu schädigt damit die Wirtschaft der eigenen Länder. Politik löst sich von wirtschaftlichen Interessen, was ausnahmsweise keinen Beifall verdient. Statt zu kooperieren, werden Feindbilder geschaffen. Die Gefahr eines Krieges wird heraufbeschworen. Vielleicht zerfällt Russland vorher in Oligarchien, und das Juste milieu steht vor der Aufgabe, ukrainische Oligarchen in die EU zu integrieren. Das freilich dürfte es überfordern.
[1] Carl von Ossietzky: »Sämtliche Schriften«, Rowohlt 1994, Art. 680, Z. 30-40; [2] Art. 894, Z. 42-45; [3] Art. 636, Z. 172-177; [4] Art. 668, Z. 171-175; [5] Art. 833, Z. 64-67 u. Art. 1003, Z. 4 f.