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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Politikum 17. Juni

Der Arbei­ter­auf­stand am 17. Juni 1953 in der DDR war von Anfang an auch ein Kampf­platz der Geschichts­schrei­bung in Ost und West. Das dürf­te zum 70. Jah­res­tag des Ereig­nis­ses nicht viel anders sein. Was auf bei­den Sei­ten gern unter­schla­gen wur­de, war der Kon­text der Nach­kriegs­ge­schich­te, in der es durch­aus noch offen war, zu wel­cher Ord­nung sich ein geteil­tes oder gar ver­ein­tes Deutsch­land ent­wickeln wür­de. In der DDR wur­de die offen­sicht­lich gewor­de­ne Unzu­frie­den­heit, ja, Wut gan­zer Beleg­schaf­ten, neben zöger­li­chem Ein­ge­ständ­nis von Feh­lern, auf vom Westen ein­ge­drun­ge­ne anti­so­zia­li­sti­sche, wenn nicht faschi­sti­sche Kräf­te redu­ziert. Eine dif­fe­ren­zier­te Bewer­tung in der Öffent­lich­keit war nicht möglich.

Wolf­gang Leon­hard hat im Mai 1945 auf einer inter­nen Sit­zung sehr glaub­haft Wal­ter Ulb­richt sagen hören: »Es muss demo­kra­tisch aus­se­hen, aber wir müs­sen alles in der Hand haben.« Die Nach­kriegs­po­li­tik der west­li­chen Besat­zungs­mäch­te hat aller­dings gezeigt, dass in deren inter­nen Sit­zun­gen der­sel­be Satz gefal­len sein muss.

Bei­spiel Hes­sen. Hier hat­te die US-Mili­tär­be­hör­de sehr schnell dar­auf gedrängt, dass die Ord­nung durch eine neue Ver­fas­sung wie­der­her­ge­stellt wird. Sie soll­te mit einem Volks­ent­scheid ange­nom­men wer­den. So weit, so gut. Die damals han­deln­den Poli­ti­ker waren zumeist aus Wider­stand und Ver­fol­gung gekom­men, sie hiel­ten sich an den ame­ri­ka­ni­schen Fahr­plan, wichen aber in einem zen­tra­len Punkt ab – bei der Wirt­schafts­ord­nung. In Arti­kel 41 wur­de gefor­dert, dass sofort nach Inkraft­tre­ten der Ver­fas­sung die Groß­in­du­strie in Gemein­ei­gen­tum über­führt wird: Berg­bau, Koh­le, Kali und Erze, dazu die Stahl­wer­ke, die Ener­gie­be­trie­be und das Ver­kehrs­we­sen. Groß­ban­ken und die Ver­si­che­run­gen soll­ten unter staat­li­che Ver­wal­tung genom­men wer­den. Die US-Besat­zungs­macht war ent­setzt. Aber der ange­kün­dig­te Volks­ent­scheid konn­te nicht mehr rück­gän­gig gemacht wer­den. So ord­ne­ten sie als Aus­weg an, neben der Abstim­mung über die Ver­fas­sung, über Arti­kel 41 geson­dert abzu­stim­men. In der irri­gen Annah­me, so viel Sozia­lis­mus wer­de schon kei­ne Mehr­heit finden.

Am 1. Dezem­ber 1946 stimm­ten 72 Pro­zent der Hes­sen für die Ent­eig­nung der Groß­in­du­strie. Die hes­si­schen Bür­ger hat­ten sich für eine wahr­haf­te Volks­ver­fas­sung ent­schie­den. Damit ent­spra­chen sie dem über­gro­ßen Wil­len aller Deut­schen. Wo immer es im glei­chen Jahr Volks­ent­schei­de zur sel­ben Fra­ge gab, ob in Ber­lin, Nord­rhein-West­fa­len oder Sach­sen, stimm­ten zwi­schen 70 und fast 80 Pro­zent für Gemein­ei­gen­tum der Groß­in­du­strie. Oft war noch die Ent­eig­nung von Kriegs­ver­bre­chern und Groß­grund­be­sit­zern vor­ge­se­hen. Die an der Spit­ze der gesell­schaft­li­chen Pyra­mi­de hat­ten ihr Eigen­tum im Gan­zen erhal­ten, und man­che hat­ten es gemehrt, alle ande­ren waren zu Mil­lio­nen um ihr Eigen­tum gebracht. Die Leu­te waren sicher nicht übers Jahr zu Anti­fa­schi­sten oder gar Sozia­li­sten gewor­den, aber sie fühl­ten sich wohl betro­gen und woll­ten die Schul­di­gen und deren Eigen­tums­ba­sis nicht davon­kom­men lassen.

Das Ent­set­zen der West­al­li­ier­ten stei­ger­te sich. Es soll zu hek­ti­schen Bera­tun­gen in Washing­ton gekom­men sein. Im Ergeb­nis wur­de der Volks­wil­le unter­lau­fen und die Sozia­li­sie­rung mit allen Mit­teln ver­hin­dert. Wenn nicht durch direk­tes Ver­bot, so durch den Erlass von Aus­füh­rungs­ge­set­zen, die alles blockier­ten. Gelang die Ent­eig­nung in Ein­zel­fäl­len doch, soll es Abfin­dun­gen in Mil­lio­nen­hö­he gege­ben haben, mit denen man sich schnell wie­der auf dem Markt ein­kau­fen konn­te. Was offen­bar völ­lig aus der Erin­ne­rung getilgt wur­de, ist die histo­ri­sche Tat­sa­che, dass die West­deut­schen die­sen Demo­kra­tie­be­trug kei­nes­wegs wider­stands­los hinnahmen.

Im Okto­ber 1948 rief die Stutt­gar­ter Gewerk­schafts­lei­tung zu einer Pro­test­kund­ge­bung gegen die Poli­tik des Frank­fur­ter Wirt­schafts­ra­tes unter Lud­wig Erhard auf, an der Zehn­tau­sen­de aus den Groß­be­trie­ben von Bosch und Daim­ler teil­nah­men. Die Abset­zung des »Wirt­schafts­dik­ta­tors« Erhard wur­de gefor­dert, der für unso­zia­le Bestim­mun­gen in der Wäh­rungs­re­form und Ver­rin­ge­rung des Real­ein­kom­mens ver­ant­wort­lich gemacht wur­de. In der Innen­stadt kam es zu einem Auf­ruhr, der von der US-Besat­zungs­macht mit Trä­nen­gas, berit­te­ner Poli­zei und einer Pan­zer­for­ma­ti­on nie­der­ge­schla­gen wur­de. Am Abend hat­te das Zen­trum ein »kriegs­ähn­li­ches Aus­se­hen«, wie die Zei­tun­gen schrie­ben, Rädels­füh­rer wur­den ver­haf­tet und im Raum Stutt­gart der Aus­nah­me­zu­stand ver­hängt. Der Mili­tär­gou­ver­neur Charles LaFo­let­te mach­te ein­ge­drun­ge­ne »säch­si­sche Kom­mu­ni­sten« für den Auf­ruhr ver­ant­wort­lich. War­um weiß davon heu­te selbst in Stutt­gart nie­mand mehr?

Der bizo­na­le Gewerk­schafts­rat nutz­te die all­ge­mei­ne Empö­rung und rief für den 12. Novem­ber zum 24-stün­di­gen Gene­ral­streik gegen die Poli­tik des Wirt­schafts­ra­tes und der Besat­zungs­mäch­te auf. Er hat­te dafür nach inter­nen Abspra­chen sogar die inof­fi­zi­el­le Geneh­mi­gung der Mili­tär­be­hör­den, die sich eine Ven­til­wir­kung ver­spra­chen. Doch die Wut war so groß, dass es der größ­te Mas­sen­streik seit der Welt­wirt­schafts­kri­se wur­de – mehr als neun Mil­lio­nen Arbei­ter betei­lig­ten sich. (Anteil­mä­ßig sehr viel mehr als beim angeb­li­chen Volksauf­stand des 17. Juni in der DDR.) Zu den For­de­run­gen des ersten und letz­ten Gene­ral­streiks im Nach­kriegs­deutsch­land gehör­ten nicht die Erhö­hung der Löh­ne, wohl aber die Über­füh­rung der Grund­stoff­in­du­strie in Gemein­ei­gen­tum sowie die Demo­kra­ti­sie­rung und Pla­nung der Wirt­schaft. Die Wirt­schafts­ord­nung war damals ernst­haft umstrit­ten. Doch genau die­ser Streit wur­de unter­bun­den, er durf­te nicht mit demo­kra­ti­schen Mit­teln aus­ge­tra­gen wer­den. Das poli­ti­sche Streik­recht wur­de nicht ins Grund­ge­setz aufgenommen.

Im »Arbei­ter- und Bau­ern­staat« gab es gar kein Streik­recht, weil die Werk­tä­ti­gen in den volks­ei­ge­nen Betrie­ben angeb­lich nicht gegen sich sel­ber strei­ken kön­nen. Umso kopf­lo­ser war das völ­lig ver­fehl­te Kri­sen­ma­nage­ment, als es doch geschah. Dabei hat­te sich die kri­sen­haf­te Situa­ti­on ange­kün­digt. Nach dem Beschluss zum »Auf­bau des Sozia­lis­mus« vom Som­mer 1952 ver­such­ten die West­mäch­te ver­stärkt, die DDR durch poli­ti­sche und wirt­schaft­li­che Blocka­den zu desta­bi­li­sie­ren. Statt­des­sen wur­den in der DDR die Genos­sen­schaf­ten und die volks­ei­ge­nen Betrie­be geför­dert, wäh­rend gegen die Pri­vat­in­du­strie und die Groß­bau­ern eine Art Steu­er­krieg geführt wur­de. Besat­zungs­ko­sten und Repa­ra­tio­nen laste­ten auf der Wirt­schaft, es gab spür­ba­re Eng­päs­se in der Ver­sor­gung und Preis­er­hö­hun­gen. Was aus der Erin­ne­rung auch völ­lig gelöscht ist: Von April bis Anfang Juni streik­ten die Bau­ar­bei­ter West­ber­lins immer wie­der für höhe­re Löh­ne. Haben die wie­der­hol­ten Berich­te der Ber­li­ner Zei­tung dar­über womög­lich die Kol­le­gen in Ost­ber­lin ermutigt?

Als die DDR-Regie­rung einen Aus­weg durch admi­ni­stra­ti­ve Norm­er­hö­hung um min­de­stens 10 Pro­zent ankün­dig­te, kamen schar­fe Pro­te­ste aus den Betrie­ben. Eine ver­ord­ne­te Norm­er­hö­hung wider­sprach allen Grund­sät­zen der Lohn­po­li­tik, wie sie seit Jahr­zehn­ten in Indu­strie­staa­ten gal­ten. Danach konn­te die Norm nur erhöht wer­den, wenn der Nor­mie­rer mit der Stopp­uhr auf Grund neu­er Tech­nik fest­stell­te, dass die Arbei­ter eine höhe­re Pro­duk­ti­on brach­ten. Was aber auch nie­mand weiß oder erwähnt: Schon 1951 wur­de beschlos­sen, für tech­nisch begrün­de­te Nor­men in der gan­zen Indu­strie zu sor­gen. Par­tei­se­kre­tä­re und Gewerk­schaf­ten hat­ten das schlei­fen las­sen, so dass auch 1953 nur ein Drit­tel der gel­ten­den Nor­men tech­nisch begrün­det waren. Die Mehr­zahl war aus längst ver­gan­ge­nen Zei­ten über­nom­men oder über den Dau­men gepeilt. Das volks­wirt­schaft­lich uner­wünsch­te Ergeb­nis war, dass die Nor­men vie­ler­orts über­erfüllt wur­den und dadurch die Löh­ne stär­ker stie­gen als im Plan vor­ge­se­hen war.

Am 21. April stand in der Ber­li­ner Zei­tung, man müs­se nun drin­gend die Kluft zwi­schen Lohn­sum­me und Arbeits­pro­duk­ti­vi­tät über­win­den. Weil näm­lich die Regie­rung im März fest­stel­len muss­te, dass »die für 1952 geplan­te Lohn­sum­me auf unge­setz­li­che Wei­se um 500 Mil­lio­nen D-Mark über­schrit­ten wor­den war. Über eine hal­be Mil­li­ar­de! Für die­sen Feh­ler müs­sen wir alle zah­len.« Was aller­dings pas­siert wäre, wenn die Löh­ne noch nied­ri­ger als im Westen aus­ge­fal­len wären, wur­de nicht erwo­gen. Aber am 3. Juni bestärk­te die Zei­tung den Unmut: »Es wäre unsin­nig, die weni­gen vor­han­de­nen tech­nisch begrün­de­ten Nor­men auf dem Ver­wal­tungs­weg zu erhö­hen; man wür­de ihnen dadurch den Cha­rak­ter der tech­ni­schen Begrün­det­heit nehmen.«

Unter der Über­schrift »Aus­spre­chen, was ist« hat­te die Ber­li­ner Zei­tung zuvor über die Rede von Elli Schmidt auf dem 13. Ple­num der SED berich­tet, in der sie kri­ti­sier­te, dass »in den letz­ten Wochen Ver­sor­gungs­maß­nah­men und Preis­er­hö­hun­gen durch­ge­führt wur­den, ohne dass die Bevöl­ke­rung über die Zusam­men­hän­ge genü­gend unter­rich­tet wur­de (…). Wenn wir nicht den Mut haben, die Mas­sen an den Sor­gen und Schwie­rig­kei­ten teil­neh­men zu las­sen, ent­fer­nen wir uns von ihnen.«

Sie hat­ten nicht den Mut, und die Din­ge nah­men ihren Lauf. Zu erwar­ten ist, dass gera­de in der jet­zi­gen Rus­so­pho­bie der Mythos vom »durch die sowje­ti­sche Armee bru­tal und blu­tig nie­der­ge­schla­ge­nen« Auf­stand wie­der­be­lebt wird. Sicher, allein die Prä­senz der Pan­zer war ein ein­schüch­tern­des Sym­bol von Gewalt. Stark genug, um den Auf­stand zu unter­drücken. Doch das sug­ge­rier­te Bild, wonach die fried­li­chen Demon­stran­ten nach »chi­ne­si­scher Lösung« zusam­men­ge­schos­sen wur­den, ist falsch. Fakt ist: Die sowje­ti­schen Pan­zer hat­ten stren­gen Befehl, nicht zu schie­ßen. Dar­an haben sie sich auch gehal­ten. Das ist den auf­ge­brach­ten Demon­stran­ten auch schnell auf­ge­fal­len. Eher sind die in den Luken ste­hen­den jun­gen Pan­zer­fah­rer mit Stei­nen und Lat­ten ange­grif­fen wor­den, als dass die­se Gewalt ange­wen­det hät­ten. Ihre ein­schüch­tern­de Wir­kung hat­te Gren­zen. Wäh­rend des gesam­ten Auf­stan­des ist kein ein­zi­ger Mensch durch die Gewalt eines Pan­zers ums Leben gekom­men. Es soll einen Unfall gege­ben haben, bei dem ein Pan­zer in eine Bau­gru­be gerutscht ist und dabei jeman­den erdrückt hat.

Über die genau­en Umstän­de der 55 Todes­op­fer des Auf­stan­des ist erstaun­lich wenig bekannt. Scharf­schüt­zen wie auf dem Mai­dan hat es jeden­falls nicht gege­ben. Immer­hin sind über 250 öffent­li­che Gebäu­de erstürmt wor­den, dar­un­ter Dienst­stel­len der Poli­zei, der Staats­si­cher­heit und der SED. Aus 12 Gefäng­nis­sen wur­den 1400 Häft­lin­ge befreit. Die­se Aktio­nen waren oft von Demü­ti­gun­gen und gewalt­sa­men, bewaff­ne­ten Prü­ge­lei­en von bei­den Sei­ten begleitet.

Ich habe die­se Dar­stel­lung bei einem Fak­ten­scheck in der For­schungs­ab­tei­lung im dama­li­gen Haus für die Sta­si-Unter­la­gen erfah­ren. Lei­der hat­te sich auch die­se Behör­de trotz bes­se­ren Wis­sens meist nur dann zu Wort gemel­det, wenn für die Geschichts­schrei­bung wie­der eine emo­tio­nal auf­ge­la­de­ne Dämo­ni­sie­rung ver­langt wur­de. Es brauch­te schon eini­ge Hart­näckig­keit, um auch ande­re Infor­ma­tio­nen zu bekom­men. Bei dem vie­len Geld der Steu­er­zah­ler, das in For­schung geflos­sen ist, soll­ten sich wenig­stens an die­sem Jah­res­tag alle Behör­den ver­pflich­tet füh­len, von sich aus mit dif­fe­ren­zier­ten Erkennt­nis­sen der media­len Ein­sei­tig­keit entgegenzutreten.