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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Politik als Märchen

Die poli­ti­sche Welt wird immer mär­chen­haf­ter und sport­li­cher: Wer die Flug­bahn klug berech­net, hüpft geschickt vom Tram­po­lin, federt sodann von der LSE leicht ab und lan­det, die kine­ti­sche Ener­gie sicher fokus­sie­rend, glück­lich im Außen­amt. Wer Mär­chen erzäh­len kann, weiß auch als Wirt­schafts­mi­ni­ster, Indu­strien von einem Kon­ti­nent auf den ande­ren zu zau­bern, bis sein Land schließ­lich erleich­tert wie­der vor­in­du­stri­ell rei­ne Luft atmen kann. Wer jedoch als Mit­tel­stür­mer in Russ­land, Eng­land und der Schweiz mei­ster­haft Tore ver­wan­del­te, wird vom Tor­schüt­zen­kö­nig traum­haft geor­gisch zum Prä­si­den­ten befördert.

In Geor­gi­en, einem Land, das 2.700 km Luft­li­nie von uns ent­fernt liegt, wur­de am 14. Dezem­ber Micheil Kawe­la­schwi­li zum Prä­si­den­ten gewählt, der poli­ti­sche Erfah­run­gen u. a. bereits bei Dyna­mo Tbi­lis­si, Man­che­ster City, Gra­shop­per Zürich und Alan­jia Wla­di­kaw­kas gesam­melt hat. Wer wie Kawe­la­schwi­li vom Fuß­ball­platz und nicht vom Völ­ker­recht kommt, weiß, dass »wer selbst ein Ver­lie­rer ist, ande­rer Leu­te Erfolg nicht ertra­gen kann«.

So etwa Salo­me Sura­bi­schwi­li – die wie ihre Cou­si­ne, die Sekre­tä­rin auf Lebens­zeit der Aca­dé­mie fran­çai­se Hélè­ne Car­rè­re d´Encausse (1929-2023), aus einer geor­gi­schen Emi­gran­ten­fa­mi­lie stammt und von der gran­de éco­le Sci­ence Po kommt, von Prä­si­dent Saa­ka­schwi­li 2004 von der Bot­schaf­te­rin Frank­reichs zur geor­gi­schen Außen­mi­ni­ste­rin beför­dert, im Fol­ge­jahr ent­las­sen und 2018 mit Unter­stüt­zung des regie­ren­den Par­tei­en­bünd­nis­ses »Geor­gi­scher Traum« des Mil­li­ar­därs Iwa­ni­schwi­li zur Prä­si­den­tin gewählt wur­de –, die nicht abtre­ten und die Wahl Kawe­la­schwi­lis nicht aner­ken­nen will. Oder die Oppo­si­ti­on, die der Wahl­ver­samm­lung eben­so fern­blieb wie dem neu­ge­wähl­ten Par­la­ment, des­sen Legi­ti­mi­tät sie nicht anerkennt.

Zu den Wahl­sie­gern zählt der im Russ­land der 1990er Jah­re im Zwie­licht der Pri­va­ti­sie­rung des Staats­ver­mö­gens mär­chen­haft reich gewor­de­ne west­ge­or­gi­sche Klein­bau­ern­sohn Iwa­ni­schwi­li, der bis 2008 Saa­ka­schwi­li unter­stütz­te, sich mit ihm über­warf und 2012 das Par­tei­en­bünd­nis »Geor­gi­scher Traum« grün­de­te und als des­sen Finan­cier Poli­ti­ker för­dert und fal­len lässt. Ver­lo­ren hat er jedoch zuvor meh­re­re Mil­lio­nen durch den Anla­ge­be­ra­ter Patri­ce Les­cau­dron von der Cre­dit Sui­s­se, der sich 2020 das Leben nahm. Die­sen Selbst­mord hält Iwa­ni­schwi­li jedoch für ein Mär­chen, das er von Pri­vat­de­tek­ti­ven erfor­schen ließ: Er ver­mu­tet hin­ter dem Ver­schwin­den Les­cau­drons und sei­ner Mil­lio­nen ame­ri­ka­ni­sche Dien­ste. Sein Ver­trau­en in die west­li­che Welt ist seit­her erschüt­tert. Im Bau sei­nes Anwe­sens am Schwar­zen Meer resi­die­rend, beäugt der ein­sti­ge Hoff­nungs­trä­ger des Westens mitt­ler­wei­le Osten, Westen, Nor­den und Süden skep­tisch und ver­traut allein sei­ner Haus­macht: Eine wei­te­re euro­päi­sche Inte­gra­ti­on sei­nes Lan­des wird er danach beur­tei­len, ob sie sei­ne Haus­macht stärkt oder schwächt.

Die Pri­va­ti­sie­rung der Poli­tik fin­det nicht nur »in Län­dern, die Hun­dert­tau­sen­de von Kilo­me­tern von uns ent­fernt lie­gen«, statt. Das Poli­ti­sche wird immer pri­va­ter. Das sport­li­che Renn­pferd Inci­ta­tus aus dem Renn­stall der pars prasi­na erlang­te einst den Rang eines Kon­suls. Im Jahr 41 ver­lor der Gaul das pas­si­ve Wahl­recht. Eine bis heu­te rechts­kräf­ti­ge spe­zie­si­sti­sche Dis­kri­mi­nie­rung, die Ost wie West sicher­lich bald sport­lich über­win­den werden.

Der Autor ist Histo­ri­ker und Kau­ka­sio­lo­ge. 2020 erschien im Ver­lag Vitto­rio Klo­ster­mann »Geor­gi­en zwi­schen Eigen­staat­lich­keit und rus­si­scher Okku­pa­ti­on. Die Wur­zeln des Kon­flikts vom 18. Jahr­hun­dert bis 1924«. Im Ber­li­ner Gans Ver­lag erschein­nt nun der geor­gi­sche Rei­se­es­say »Tusche­ti­ens Wol­ken und Karth­lis Unter­gang. Von der Schön­heit und Zer­stö­rung einer Kul­tur­land­schaft am Ran­de der bewohn­ten Welt« sowie die euro­päi­sche Ele­gie »Die schö­ne Zeit«.