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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Poesie des utopischen Überschusses

Ein zunächst ganz nor­ma­ler Satz: »Ker­stin riss sich die Bei­ne aus.« Wort­wört­lich ver­stan­den bedeu­tet er: Ker­stin tut sich selbst Gewalt an, um ihre Mut­ter zu pfle­gen. Und umge­kehrt heißt es, eben­so wort­wört­lich ver­stan­den, dass den Pfle­ge­be­dürf­ti­gen in den Hei­men Gewalt ange­tan wird: »Heu­te wur­den sie auf Bie­gen und Bre­chen mobi­li­siert.« Auf der einen Sei­te opfern die Pfle­ger sich bei der Pfle­ge sel­ber auf, auf der ande­ren Sei­te wer­den die Alten zurecht­ge­bo­gen und gebro­chen. Von die­sen und ande­ren Wider­sprü­chen unse­rer moder­nen Welt han­delt Sabi­ne Peters jüng­ster Roman »Die drit­te Hälfte«.

Haupt­per­son ist Doc, ein enga­gier­ter und men­schen­freund­li­cher Arzt in Ham­burg-St. Georg. Wie die mei­sten Per­so­nen im Roman steht er in sei­nem letz­ten Lebens­drit­tel und spult mit Ach und Krach sei­ne ver­blei­ben­den Berufs­jah­re her­un­ter. Die Per­so­nen sind gezeich­net durch ihre Arbeit, ob Arzt, Kunst­hi­sto­ri­ker, Biblio­the­ka­rin oder Sekre­tä­rin. Aber Arbeit ist hier längst kein Mit­tel der Selbst­ver­wirk­li­chung mehr, son­dern Ursa­che von Ent­frem­dung und Beschädigung.

Wei­te­res Bei­spiel, das für nahe­zu alle Men­schen im Kapi­ta­lis­mus gilt: Beim Senio­ren­sport fühlt Doc sich als »Herr sei­nes Kör­pers und scheuch­te den Knecht auf und ab«. Hegels Herr-Knecht-Ver­hält­nis, das ursprüng­lich auf die Ent­wick­lung einer Klas­sen-Gesell­schaft gemünzt war, hat sich in den ein­zel­nen Men­schen ver­la­gert, der sich nun zu sei­nem eige­nen Knecht macht. Heut­zu­ta­ge ist jeder sei­nes eige­nen Herrn Knecht.

Sabi­ne Peters deckt die­ses inne­re Herr­schafts­ver­hält­nis anhand der All­tags­spra­che auf. Ihre Per­so­nen benut­zen zunächst harm­los erschei­nen­de Rede­wen­dun­gen, in denen sich, genau gele­sen, die Gewalt­tä­tig­keit der gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se unbe­wusst wider­spie­gelt. Im Ver­lauf des Romans tritt deren sinn­li­che Viel­deu­tig­keit immer deut­li­cher zu Tage, sie ver­bin­den sich zu einer eigen­stän­di­gen Erzäh­lung der Gewalt, so dass unser All­tag plötz­lich wie ein Splat­ter­film erscheint: sich tot­la­chen, rackern, bis man tot umfällt, zusam­men­krat­zen, im Büro schmo­ren. »Ord­nung ist das hal­be Leben«, sagt Doc gleich zu Beginn des Romans. Rich­tig, aber ein hal­bes, nur der Lohn­ar­beit unter­wor­fe­nes Leben ist eben kein ganzes.

Dies ist die eine mit den Fol­gen der Ent­frem­dung kämp­fen­de Sei­te des Romans. Aber es gibt noch eine zwei­te Sei­te, wo gezeigt wird, wie die Per­so­nen ver­su­chen, aus dem men­schen­feind­li­chen Gewalt­zu­sam­men­hang auszubrechen.

Es wird zwar in der Regel aus der Sicht der han­deln­den Per­so­nen erzählt, aller­dings feu­ert der Erzäh­ler im Roman auch ein­zel­ne Sät­ze ab, die aus grö­ße­rer Distanz gespro­chen zu sein schei­nen. Bei­spiel. Doc erlebt Anfäl­le von Trau­rig­keit, da er sich gegen­über sei­ner ver­stor­be­nen Frau schul­dig fühlt. Er wirft sich vor, die Ehe und sei­ne Frau zugun­sten der Arbeit in der Arzt­pra­xis ver­nach­läs­sigt zu haben. Des­halb kön­ne er jetzt kei­ne neue Bezie­hung mit einer Frau ein­ge­hen. »Sei­ne Angst davor (wie­der in die­sem Sin­ne ›schul­dig‹ zu wer­den) war boden­los und unaus­sprech­lich.« Hier öff­net sich sozu­sa­gen für einen Moment das stäh­ler­ne Gehäu­se des Kapi­ta­lis­mus (Max Weber), in dem Doc steckt. Der Erzäh­ler spricht aus, wozu Doc nie­mals fähig wäre, so dass sei­ne tabui­sier­ten Äng­ste beim Namen genannt wer­den. Tief­lie­gen­de Ursa­chen, Vor­gän­ge und Skan­da­le anzu­spre­chen, liegt in der Kom­pe­tenz eines distan­zier­ten und all­wis­sen­den aukt­oria­len Erzäh­lers. In die­ser Hin­wen­dung zum objek­ti­ven Erzäh­len liegt eine der Stär­ken die­ses Romans.

Zwei­tes Bei­spiel: Doc fällt manch­mal vor Erschöp­fung in Sekun­den­schlaf, träumt von einer bun­ten Welt und fühlt sich nach dem Erwa­chen, als wäre er »weit weg gewe­sen«. So erlebt er uto­pi­sche Momen­te, die er mit sei­ner ärzt­li­chen Fan­ta­sie mit­un­ter zu kom­ple­xe­ren Bil­dern aus­malt. Beim Fri­sör nach der Haar­wä­sche zum Bei­spiel stellt er sich »etwas Schö­nes« vor, eine vor­bild­li­che Alters­re­si­denz namens »Mon­r­epos«, in dem er in Gemein­schaft mit ande­ren Alten ein selbst­stän­di­ges und ziem­lich anar­chi­sches Leben führt.

Typisch für Sabi­ne Peters Pro­sa ist die­ser trotz aller all­täg­li­chen Bedräng­nis urplötz­lich aus dem Men­schen her­vor­bre­chen­de uto­pi­sche Überschuss.

Aller­dings brennt der Über­schuss bei Doc wie ein Stroh­feu­er ab, ohne sich in kon­ti­nu­ier­li­chen Hand­lun­gen fort­zu­set­zen. Als Jugend­li­che vor der Kunst­hal­le für den Frie­den demon­strie­ren, kehrt er ihnen den Rücken und geht nach Hau­se. Zu mehr als einer stum­men Zustim­mung reicht Docs Ener­gie nach Fei­er­abend nicht.

Am Schluss formt sich der uto­pi­sche Über­schuss in einem ein­drück­li­chen Bild aus. Doc und sein Freund Brum­mer schau­keln auf einem Kin­der­spiel­platz, sie flie­gen hin und her und rufen: »Wir bau­en Wege in der Luft.« Cha­peau, die bei­den Her­ren 60plus stecken ja nicht nur in Depri, Hypo­chon­drie und Welt­schmerz, son­dern wei­sen Wege aus der Müh­sal und dem gan­zen Scheiß.

Sabi­ne Peters Roman »Die drit­te Hälf­te« ist ein wei­te­rer Höhe­punkt ihres rea­li­sti­schen Erzäh­lens, das die Spann­brei­te von töd­li­cher Ent­frem­dung bis glück­se­lig­stem Geschau­kel umfasst. Ihn zu lesen macht schon glück­lich, weil er die (schein­bar) stäh­ler­nen Ver­hält­nis­se des All­tags zum Tan­zen bringt.

Sabi­ne Peters: Die drit­te Hälf­te. Roman, Wall­stein Ver­lag, Göt­tin­gen 2024. 231 S., 22 €.