Ein zunächst ganz normaler Satz: »Kerstin riss sich die Beine aus.« Wortwörtlich verstanden bedeutet er: Kerstin tut sich selbst Gewalt an, um ihre Mutter zu pflegen. Und umgekehrt heißt es, ebenso wortwörtlich verstanden, dass den Pflegebedürftigen in den Heimen Gewalt angetan wird: »Heute wurden sie auf Biegen und Brechen mobilisiert.« Auf der einen Seite opfern die Pfleger sich bei der Pflege selber auf, auf der anderen Seite werden die Alten zurechtgebogen und gebrochen. Von diesen und anderen Widersprüchen unserer modernen Welt handelt Sabine Peters jüngster Roman »Die dritte Hälfte«.
Hauptperson ist Doc, ein engagierter und menschenfreundlicher Arzt in Hamburg-St. Georg. Wie die meisten Personen im Roman steht er in seinem letzten Lebensdrittel und spult mit Ach und Krach seine verbleibenden Berufsjahre herunter. Die Personen sind gezeichnet durch ihre Arbeit, ob Arzt, Kunsthistoriker, Bibliothekarin oder Sekretärin. Aber Arbeit ist hier längst kein Mittel der Selbstverwirklichung mehr, sondern Ursache von Entfremdung und Beschädigung.
Weiteres Beispiel, das für nahezu alle Menschen im Kapitalismus gilt: Beim Seniorensport fühlt Doc sich als »Herr seines Körpers und scheuchte den Knecht auf und ab«. Hegels Herr-Knecht-Verhältnis, das ursprünglich auf die Entwicklung einer Klassen-Gesellschaft gemünzt war, hat sich in den einzelnen Menschen verlagert, der sich nun zu seinem eigenen Knecht macht. Heutzutage ist jeder seines eigenen Herrn Knecht.
Sabine Peters deckt dieses innere Herrschaftsverhältnis anhand der Alltagssprache auf. Ihre Personen benutzen zunächst harmlos erscheinende Redewendungen, in denen sich, genau gelesen, die Gewalttätigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse unbewusst widerspiegelt. Im Verlauf des Romans tritt deren sinnliche Vieldeutigkeit immer deutlicher zu Tage, sie verbinden sich zu einer eigenständigen Erzählung der Gewalt, so dass unser Alltag plötzlich wie ein Splatterfilm erscheint: sich totlachen, rackern, bis man tot umfällt, zusammenkratzen, im Büro schmoren. »Ordnung ist das halbe Leben«, sagt Doc gleich zu Beginn des Romans. Richtig, aber ein halbes, nur der Lohnarbeit unterworfenes Leben ist eben kein ganzes.
Dies ist die eine mit den Folgen der Entfremdung kämpfende Seite des Romans. Aber es gibt noch eine zweite Seite, wo gezeigt wird, wie die Personen versuchen, aus dem menschenfeindlichen Gewaltzusammenhang auszubrechen.
Es wird zwar in der Regel aus der Sicht der handelnden Personen erzählt, allerdings feuert der Erzähler im Roman auch einzelne Sätze ab, die aus größerer Distanz gesprochen zu sein scheinen. Beispiel. Doc erlebt Anfälle von Traurigkeit, da er sich gegenüber seiner verstorbenen Frau schuldig fühlt. Er wirft sich vor, die Ehe und seine Frau zugunsten der Arbeit in der Arztpraxis vernachlässigt zu haben. Deshalb könne er jetzt keine neue Beziehung mit einer Frau eingehen. »Seine Angst davor (wieder in diesem Sinne ›schuldig‹ zu werden) war bodenlos und unaussprechlich.« Hier öffnet sich sozusagen für einen Moment das stählerne Gehäuse des Kapitalismus (Max Weber), in dem Doc steckt. Der Erzähler spricht aus, wozu Doc niemals fähig wäre, so dass seine tabuisierten Ängste beim Namen genannt werden. Tiefliegende Ursachen, Vorgänge und Skandale anzusprechen, liegt in der Kompetenz eines distanzierten und allwissenden auktorialen Erzählers. In dieser Hinwendung zum objektiven Erzählen liegt eine der Stärken dieses Romans.
Zweites Beispiel: Doc fällt manchmal vor Erschöpfung in Sekundenschlaf, träumt von einer bunten Welt und fühlt sich nach dem Erwachen, als wäre er »weit weg gewesen«. So erlebt er utopische Momente, die er mit seiner ärztlichen Fantasie mitunter zu komplexeren Bildern ausmalt. Beim Frisör nach der Haarwäsche zum Beispiel stellt er sich »etwas Schönes« vor, eine vorbildliche Altersresidenz namens »Monrepos«, in dem er in Gemeinschaft mit anderen Alten ein selbstständiges und ziemlich anarchisches Leben führt.
Typisch für Sabine Peters Prosa ist dieser trotz aller alltäglichen Bedrängnis urplötzlich aus dem Menschen hervorbrechende utopische Überschuss.
Allerdings brennt der Überschuss bei Doc wie ein Strohfeuer ab, ohne sich in kontinuierlichen Handlungen fortzusetzen. Als Jugendliche vor der Kunsthalle für den Frieden demonstrieren, kehrt er ihnen den Rücken und geht nach Hause. Zu mehr als einer stummen Zustimmung reicht Docs Energie nach Feierabend nicht.
Am Schluss formt sich der utopische Überschuss in einem eindrücklichen Bild aus. Doc und sein Freund Brummer schaukeln auf einem Kinderspielplatz, sie fliegen hin und her und rufen: »Wir bauen Wege in der Luft.« Chapeau, die beiden Herren 60plus stecken ja nicht nur in Depri, Hypochondrie und Weltschmerz, sondern weisen Wege aus der Mühsal und dem ganzen Scheiß.
Sabine Peters Roman »Die dritte Hälfte« ist ein weiterer Höhepunkt ihres realistischen Erzählens, das die Spannbreite von tödlicher Entfremdung bis glückseligstem Geschaukel umfasst. Ihn zu lesen macht schon glücklich, weil er die (scheinbar) stählernen Verhältnisse des Alltags zum Tanzen bringt.
Sabine Peters: Die dritte Hälfte. Roman, Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 231 S., 22 €.