Was ist Gerechtigkeit? Was ist soziale Gerechtigkeit? Seit 2500 Jahren suchen auch Philosophen nach Antworten.
Erste Erklärungen griffen auf metaphysische Begründungen zurück: Gerechtigkeit wurde als eine in der Natur vorhandene Ordnung verstanden oder als göttlichen Ursprungs. Ein auffallender Unterschied bestand dabei zwischen den frühen ägyptischen und assyrischen Hochkulturen, für die sich die Gerechtigkeit von einer göttlichen Weltordnung herleitete, und dem Griechenland der archaischen Zeit von etwa 800 bis 500 vor Christus. Denn die Götter in den frühen griechischen Epen wie der Odyssee handelten keineswegs nach einem absichtsvollen und klugen Gesamtplan, sondern griffen – nicht zuletzt aus Eigeninteresse – je nach Situation und Laune zu Gunsten oder Ungunsten der Menschen ins Weltgeschehen ein.
Die philosophische Auseinandersetzung der Griechen mit der Frage der Gerechtigkeit setzte im fünften Jahrhundert vor Christus mit den Sophisten ein, einer Gruppe von Philosophen, denen es um die Bedingungen für ein erfolgreiches Leben ging. Sie verneinten objektive Maßstäbe für Wahrheit und Gerechtigkeit, rückten aber den Menschen, seine Ethik und seine Erkenntnismöglichkeiten ins Zentrum ihrer Betrachtungen. Gerechtigkeit wurde in der griechischen Antike nicht in Gesetzesnormen gefasst oder an vorhandenen Rechtsnormen gemessen, sondern als Ausdruck einer persönlichen Lebenshaltung betrachtet.
Für andere Philosophen der griechischen Antike, für Platon oder für seinen Schüler Aristoteles (384-322 v. Chr.), war nur ein gerechter Mensch ein glücklicher Mensch. Und Gerechtigkeit die oberste Tugend. Aristoteles differenzierte dabei, wie Platon, zwischen zwei Arten von Gerechtigkeit oder Gleichheit im Zusammenleben der Menschen: Da ist erstens die rein zahlenorientierte, arithmetische Gleichheit etwa unter Geschäftspartnern, von denen der eine dem anderen für ein überlassenes Gut einen entsprechenden Wert schuldet. Oder die Pflicht eines Schädigers, exakt für den verursachten Schaden aufzukommen. Und da ist zweitens die qualitative Gleichheit, die bei der Verteilung von Gütern und Ämtern ausschlaggebend ist. Nach Ansicht von Aristoteles und auch Platon steht demjenigen mehr zu, dessen allgemeine Verdienste größer sind.
Erst in der römischen Gesellschaft bildeten sich die kodifizierten Rechtsvorschriften stärker aus. Gerechtigkeit wurde zwar immer noch mit einer persönlichen Haltung verbunden, war aber zum Beispiel bei Cicero (106-43 v. Chr.) schon an der gesellschaftlichen Ordnung orientiert. Der römische Rechtsgelehrte Ulpian (170-223) formulierte drei Grundsätze des Rechts: »Lebe ehrenhaft! Tue niemandem Unrecht! Gib jedem das Seine!« Grundsätze, die sich auch am Anfang des Corpus Juris Civilis, der Rechtssammlung des Kaisers Justinian (527 – 565) finden.
Noch in der Spätantike und im Mittelalter hatte die platonische Gerechtigkeitskonzeption einigen Einfluss. Platons Vorstellung von der gerechten Seele für einen gerechten Staat findet sich bei dem Neuplatonisten Plotin (um 205-270) ebenso wieder wie beim Kirchenvater Augustinus (354-430). Allerdings unterschieden beide zwischen einer noch unvollkommenen Gerechtigkeit auf Erden und einer höheren, wahren, eben himmlischen Gerechtigkeit. Der Grund für den unvollkommenen Charakter der Tugenden unter irdischen Bedingungen lag Augustinus zufolge in der Erbsünde der Menschen. Entsprechend war in seinen Augen die wahre Gerechtigkeit von Gottes Gnade abhängig.
Mittelalterliches Denken ist christliches Denken. Behauptet wird ein einziges übergeordnetes Prinzip, dem alles untertan ist – der christliche Gott. Dieser ist unendlich und vollkommen, menschliches Denken dagegen endlich und fehlbar. Im Mittelalter sind nicht Verstand oder Vernunft das Maß der Dinge, sondern der Glaube. Für die Philosophie ist das keine gute Zeit, sie muss sich der Theologie unterordnen. Die »Wahrheit« bleibt der Religion vorbehalten. Der Mensch, so die den Menschen knebelnde und unterdrückende Behauptung, könne Gerechtigkeit nur durch die Gnade Gottes erlangen. Doch über Gerechtigkeit und Gnade entschieden allein die selbsternannten und machtbesessenen Vertreter Gottes auf Erden.
Mit der Neuzeit wuchs die Skepsis unter den Philosophen, ob der Mensch überhaupt daran interessiert sei, sich seinem Nächsten gegenüber gerecht zu verhalten. Das Gegenteil sei der Fall, stellte der Engländer Thomas Hobbes (1588-1679) fest, der dem neuen, an Erfahrungen orientierten Denken verpflichtet war: »Der Mensch ist dem Menschen Wolf«, so Hobbes, und der »Krieg aller gegen alle« sei der natürliche Zustand unter den Menschen. Sie besäßen keinen freien Willen und seien von ihrem egoistischen Selbsterhaltungstrieb beherrscht. Um der daraus resultierenden Unsicherheit und Gewalt ein Ende zu bereiten, müssen die Menschen, nach Ansicht Hobbes, ihre Gewalt gemeinschaftlich einem Staat übertragen, mit dessen Rechtsordnung überhaupt erst Gerechtigkeit für den Menschen etabliert werden kann.
Eine Idee, die schon Thomas Morus hatte. 1516 schrieb der englische Staatsmann sein Werk »Utopia«. Die dramatischen sozialen und politischen Verhältnisse, die Armut und die gewalttätige Willkür der Herrschenden waren Morus’ wesentlicher Beweggrund für das Verfassen seiner Sozialutopie, in der er eine ideale Gesellschaft, einen idealen gerechten Staat entwickelt, in dem die »Gerechtigkeit« jedoch mit totalitären Methoden durchgesetzt wird.
Auch der Schweizer Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) schlug einen »Gesellschaftsvertrag« vor. Doch anders als für Hobbes, der im Staat vor allem auch einen Garanten für den Rechtsschutz des individuellen Eigentums sah, war für Rousseau der Privatbesitz die Wurzel menschlichen Übels. Vom Moment der ersten Besitznahme an, so Rousseau, gehe die Entwicklung der Gesellschaft weg von einem nahezu paradiesischen, vorzivilisatorischen Naturzustand hin zu einer staatlich geschützten Herrschaft der Reichen über die Armen. Für einen gerechten Staat bedürfe es eines »Gesellschaftsvertrags«, der durch die freie Übereinkunft aller Bürger entstehe. Durch den Vertrag unterstellten sich die Bürger dem gemeinsamen Willen ihrer Mehrheit, dem Gemeinwillen, der die Grundlage für ihre Gesetze sein müsse. Tatsächlich entstanden in der Folge von Hobbes oder Rousseau neue Konzepte für Gesellschaftsverträge, die zum Beispiel auch die Verfassung der USA prägten.
Ebenfalls im 18. Jahrhundert entwickelte Immanuel Kant (1724-1804) die Idee des Vernunftrechts. Und anknüpfend an den schottischen Philosophen David Hume, einen Zeitgenossen von Kant, entstand im englischsprachigen Raum der Utilitarismus als dominierendes ethisches Prinzip. Ihr wichtigster Vertreter war der Sozialreformer Jeremy Bentham: Moral bestand für ihn in der Suche nach dem größtmöglichen individuellen Glück für alle. In diesem Sinne, im Sinne des gesamtgesellschaftlichen Nutzens, plädierte er für eine allgemeine Wohlfahrt. Utilitaristische Handlungen seien solche, die das Gesamtwohl einer Gesellschaft erhöhen, also für alle oder mindestens viele das Glück mehren. Gerechtigkeit wurde (wieder) nur als Rahmenbedingung verstanden.
Die Erkenntnis, dass Gerechtigkeit eben nicht aus einem höheren Prinzip abzuleiten, sondern eine ganz konkrete Überlebens-Frage ist, führte ab dem 19. Jahrhundert endlich – von Karl Marx über Friedrich Nietzsche und Walter Benjamin bis hin zu Jacques Derrida – zu einer massiven Kritik an den bürgerlich-liberalen Gerechtigkeitsauffassungen. Karl Marx (1818-1883) war nach Morus und Rousseau der erste politische Theoretiker, der (als Reaktion auf die Eskalation der sozialen Konflikte im Zeitalter der industriellen Revolution) das »Soziale« im engeren Sinne, also die Beseitigung ökonomisch-sozialer Ungleichheit und die Befreiung von Unterdrückung und Armut, ins Zentrum seines Denkens stellte. Erst seit Marx entspricht der Begriff der »sozialen Gerechtigkeit« in etwa dem, was wir heute darunter verstehen.