Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Philomela und Procne reden

Ovids »Meta­mor­pho­sen« geben den Sub­text des neu­en Romans von Ulri­ke Draes­ner: »Die Ver­wan­del­ten«. Genau­er: Die vie­len Geschich­ten die­ses Wer­kes der Welt­li­te­ra­tur, in denen Frau­en Gewalt ange­tan wird. 50 Ver­ge­wal­ti­gun­gen zähl­te die Autorin. Zur Nöti­gung gehört in die­sen Tex­ten auch das Stumm­ma­chen. Das geschieht etwa durch Ver­wand­lung in Bäu­me: »Für immer in Äste, Stumm­heit und Holz. In Atem nur mit Blatt­grün. In Spre­chen nur mit dem Wind«, so beschreibt es die Autorin.

Auf einer Lesung im Schau­spiel­haus Mag­de­burg am 6.4.2023, die ich mode­rie­ren durf­te, ging Ulri­ke Draes­ner auf mei­ne Fra­ge nach der »Grau­sam­keit« näher auf den gei­sti­gen Hin­ter­grund ihres Romans ein. Sie sprach davon, dass sie eigens ein Stück der »Meta­mor­pho­sen« dafür über­setz­te. Es geht um die furcht­ba­re Geschich­te von Phi­lome­la und Proc­ne. Phi­lome­la wur­de vom Ehe­mann ihrer Schwe­ster Proc­ne ver­ge­wal­tigt, der Ver­ge­wal­ti­ger schnitt ihr die Zun­ge her­aus, damit sie nie­man­dem sagen konn­te, was ihr wider­fah­ren war. Sie aber web­te ein Bild ihres Geschicks in einen Wand­tep­pich, sodass Proc­ne begriff, was gesche­hen war. Die Schwe­stern neh­men grau­sa­me Rache: Um den Ver­ge­wal­ti­ger eines Erben zu berau­ben, tötet Proc­ne ihren Sohn und setzt sein Fleisch dem Täter vor. Als Phi­lome­la gar noch den Kopf des Jüng­lings auf­trägt, will der Ver­ge­wal­ti­ger bei­de töten, wird aber in einen Wie­de­hopf ver­wan­delt. Phi­lome­la wird eine Schwal­be, Proc­ne eine Nach­ti­gall. (Bei eini­gen Autoren wird Phi­lome­la die Nach­ti­gall und Proc­ne die Schwal­be.) Ulri­ke Draes­ner stellt ihrem Roman die Sze­ne vor­an, als der Tep­pich über­bracht wird: »Die Botin trug es zu Proc­ne und wuss­te nicht, was sie ihr übergab.«

Gewal­tig ist nun der Bogen, den Ulri­ke Draes­ner spannt, aber es ent­steht mit die­sem opu­len­ten Roman der abso­lut stim­mi­ge Ver­such, Frau­en ihre Stim­me zurück­zu­ge­ben. Die Frau­en hei­ßen etwa Doro­ta, Ali­s­sa-Ger­hild, Wal­la-Reni, Ade­le, Else, Ger­da, Oty­lia. Eini­ge der Namen len­ken unse­ren Blick nach Osten: nach Polen, nach Wrocław, einst Bres­lau. Die­se Stadt ist der wich­tig­ste geo­gra­fi­sche Kno­ten­punkt des Wer­kes. Die »Stimm­ge­bung« aus der Gegen­wart her­aus evo­ziert die im Roman behan­del­ten Fra­gen: Was geschieht Frau­en im Krieg? Was nimmt ihnen die Spra­che? Wie gibt man sie ihnen wie­der? Was bedeu­tet es, in einem Staat zu leben, der Men­schen­zucht betreibt?

Denn der ande­re Kno­ten­punkt des Romans ist der »Lebens­born«. Dar­auf ging Ulri­ke in ihrer Lesung aus­führ­lich ein – und man muss auch etwas dar­über wis­sen. Das freund­li­che, fast poe­ti­sche Wort ver­hüll­te einen per­fi­den Men­schen­zucht­ver­such der Natio­nal­so­zia­li­sten. Der von der SS getra­ge­ne, 1936 gegrün­de­te Ver­ein hat­te sich zum Ziel gesetzt, eine Erhö­hung der Gebur­ten­zah­len »ari­scher« Kin­der zu bewir­ken. Man rede­te unver­hei­ra­te­ten Frau­en einen Schwan­ger­schafts­ab­bruch aus, bot anony­me Ent­bin­dun­gen an. Die Kin­der wur­den zur Adop­ti­on ver­mit­telt, vor­zugs­wei­se an SS-Leu­te oder getreue Parteimitglieder.

Der Roman beginnt mit der Schil­de­rung eines Vor­tra­ges der jun­gen Rechts­an­wäl­tin Kinga über den »Lebens­born« und fächert dann die Lebens­ge­schich­ten der Frau­en auf. Kinga ist die Toch­ter von Ali­s­sa, die im »Lebensborn«-Heim den Namen Ger­hild erhielt. Der klang »ger­ma­nisch« und pass­te bes­ser zu den Vor­na­men der Adop­tiv­el­tern Ger­da und Gerd. Die Geschich­te bei­der, ihre Lie­bes­ge­schich­te, ist eine der fas­zi­nie­rend­sten des gan­zen Buches. Auch, weil sie die sozu­sa­gen zivi­le Sei­te der fürch­ter­li­chen »Lebensborn«-Abläufe zeigt. Ger­da ist zwar von der Nazi-Ideo­lo­gie durch­drun­gen, aber eine lie­be, fast hin­ge­bungs­vol­le Mut­ter. Gerd, der Jurist, ist nicht etwa groß­mäu­li­ger Nazi-Rich­ter, son­dern distin­gu­ier­ter Rechts­an­walt. Trotz inne­rer Distanz zum Staat wuss­te er sei­ne Vor­tei­le zu nut­zen. Ger­da und Gerd sind Men­schen­ty­pen, wie man sie im Nach­kriegs­deutsch­land wohl häu­fig antraf: Sie hat­ten nichts Böses gewollt. »Was hin­ter­her so aus­sieht, ist frag­los rich­tig«, lau­tet das Fazit Ger­das, die im Wirt­schafts­wun­der-Deutsch­land wie­der öffent­li­che Vor­trä­ge hal­ten darf, wie in Hit­lers Deutsch­land eben auch. Und die ihren Sta­tus »Ehe­frau = recht­los« zwar erkennt und ana­ly­siert, aber nicht in Fra­ge stellt. Auch nicht die bizar­ren Sexu­al­prak­ti­ken ihres Gatten.

Das Publi­kum im Mag­de­bur­ger Schau­spiel­haus erspür­te wohl genau die bren­nen­de Aktua­li­tät die­ser Pro­ble­me. Denn weder »Men­schen­zucht« noch Ver­schlep­pung oder der Ver­such, Frau­en zu ent­mün­di­gen, sind gest­ri­ge The­men. Und die­se The­men wer­den im Roman an man­nig­fal­ti­gen Schick­sa­len auf­ge­fä­chert, ohne den »Stamm­baum« der Figu­ren im Innen­deckel ist die Roman­hand­lung kaum zu ver­fol­gen, ja, es ist zu bewun­dern, wie die Autorin den »Figu­ren­ap­pa­rat« handhabt.

Sel­ten habe ich so ein­drück­lich die Wahr­heit der gän­gi­gen Weis­heit, dass alles mit allem zusam­men­hän­ge, gespürt. Die geschil­der­ten Leben sind mit­ein­an­der ver­wo­ben und geprägt vom grau­sa­men 20. Jahr­hun­dert. Für mich frap­pie­rend war die Ant­wort Ulri­ke Draes­ners auf mei­ne Fra­ge, wie sie mit den Grau­sam­kei­ten zurecht­ge­kom­men sei, die sie im Buch zu schil­dern hat­te. Sie habe die­se Grau­sam­kei­ten erzäh­len las­sen, war die Erwi­de­rung. Erst beim wie­der­hol­ten Beden­ken ging mir auf, dass dies das Mit­tel war, dem Buch auch Hoff­nung geben zu kön­nen, Trö­stung und sogar Zuver­sicht. Denn Phi­lome­la, die in eine Schwal­be ver­wan­delt wur­de, kann wegen der feh­len­den Zun­ge ja nur schwat­zen. Bei Ulri­ke Draes­ner aber wird genau erzählt, scharf erzählt, iro­nisch erzählt, manch­mal fast zu aus­führ­lich. Aber immer geht es zurück zu poin­tier­ten Schil­de­run­gen des­sen, was geschah im Lebens­born­heim in Bay­ern, in Bres­lau und Wrocław, an vie­len, vie­len ande­ren Orten – und was, man ver­zei­he mir das Pathos, im Got­tes Namen nun ein­mal gesagt wer­den muss. Und dies geschieht auf Deutsch, auch in der fata­len Spra­che der Nazi­jah­re, auch auf Pol­nisch, auf Schle­sisch – eine Liste mit im Buch ver­wen­de­ter Wör­ter die­ser fast ver­ges­se­nen Spra­che ist dem Buch beigefügt.

Es wird viel­leicht ein­mal zu spät sein, über jene Zeit zu spre­chen. Denn, so heißt es im Buch, der Zwei­te Welt­krieg wer­de erst wirk­lich enden, wenn er durch die Hun­dert lau­fe, also 2045. Auch nach dem Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg habe es hun­dert Jah­re gedau­ert, bis Men­schen wie­der als Men­schen erschie­nen sei­en. Die­sen fas­zi­nie­ren­den Gedan­ken konn­ten wir aus Zeit­grün­den lei­der nicht erör­tern im Mag­de­bur­ger Schauspielhaus.

Aber es gelang uns noch, da der Roman auch das Polen der sech­zi­ger Jah­re des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts the­ma­ti­siert, eine Ver­gan­gen­heit, der man im War­schau­er Ins­ty­tut Pamięci Naro­do­wej (dem Insti­tut für Natio­na­les Geden­ken) auch nicht immer nach­kom­men kann, die Brücke zu schla­gen zu Czesław Nie­men und sei­nem berühm­ten Song »Dziw­ny jest ten świ­at« (»Selt­sam ist die­se Welt«) aus dem Jah­re 1967. Das Signie­ren der Bücher, die man an am Stand einer Mag­de­bur­ger Buch­hand­lung kau­fen konn­te, soll­te auf Wunsch Ulri­ke Draes­ners von die­ser Musik beglei­tet wer­den. Sie muss­te ein paar­mal abge­spielt werden.

Am Schluss des Buches erwähnt die Autorin, dass Sig­mund Freud ein Kind sagen lässt: »Wenn jemand spricht, wird es hell.« Das trifft, wie ich fin­de, erst recht zu, wenn zum Stumm­blei­ben Ver­damm­te doch zu reden begin­nen – wie hier, in die­sem Roman.

Ulri­ke Draes­ner: Die Ver­wan­del­ten. Roman, Pen­gu­in Ver­lag 2023. 608 S., 26 €.