Ovids »Metamorphosen« geben den Subtext des neuen Romans von Ulrike Draesner: »Die Verwandelten«. Genauer: Die vielen Geschichten dieses Werkes der Weltliteratur, in denen Frauen Gewalt angetan wird. 50 Vergewaltigungen zählte die Autorin. Zur Nötigung gehört in diesen Texten auch das Stummmachen. Das geschieht etwa durch Verwandlung in Bäume: »Für immer in Äste, Stummheit und Holz. In Atem nur mit Blattgrün. In Sprechen nur mit dem Wind«, so beschreibt es die Autorin.
Auf einer Lesung im Schauspielhaus Magdeburg am 6.4.2023, die ich moderieren durfte, ging Ulrike Draesner auf meine Frage nach der »Grausamkeit« näher auf den geistigen Hintergrund ihres Romans ein. Sie sprach davon, dass sie eigens ein Stück der »Metamorphosen« dafür übersetzte. Es geht um die furchtbare Geschichte von Philomela und Procne. Philomela wurde vom Ehemann ihrer Schwester Procne vergewaltigt, der Vergewaltiger schnitt ihr die Zunge heraus, damit sie niemandem sagen konnte, was ihr widerfahren war. Sie aber webte ein Bild ihres Geschicks in einen Wandteppich, sodass Procne begriff, was geschehen war. Die Schwestern nehmen grausame Rache: Um den Vergewaltiger eines Erben zu berauben, tötet Procne ihren Sohn und setzt sein Fleisch dem Täter vor. Als Philomela gar noch den Kopf des Jünglings aufträgt, will der Vergewaltiger beide töten, wird aber in einen Wiedehopf verwandelt. Philomela wird eine Schwalbe, Procne eine Nachtigall. (Bei einigen Autoren wird Philomela die Nachtigall und Procne die Schwalbe.) Ulrike Draesner stellt ihrem Roman die Szene voran, als der Teppich überbracht wird: »Die Botin trug es zu Procne und wusste nicht, was sie ihr übergab.«
Gewaltig ist nun der Bogen, den Ulrike Draesner spannt, aber es entsteht mit diesem opulenten Roman der absolut stimmige Versuch, Frauen ihre Stimme zurückzugeben. Die Frauen heißen etwa Dorota, Alissa-Gerhild, Walla-Reni, Adele, Else, Gerda, Otylia. Einige der Namen lenken unseren Blick nach Osten: nach Polen, nach Wrocław, einst Breslau. Diese Stadt ist der wichtigste geografische Knotenpunkt des Werkes. Die »Stimmgebung« aus der Gegenwart heraus evoziert die im Roman behandelten Fragen: Was geschieht Frauen im Krieg? Was nimmt ihnen die Sprache? Wie gibt man sie ihnen wieder? Was bedeutet es, in einem Staat zu leben, der Menschenzucht betreibt?
Denn der andere Knotenpunkt des Romans ist der »Lebensborn«. Darauf ging Ulrike in ihrer Lesung ausführlich ein – und man muss auch etwas darüber wissen. Das freundliche, fast poetische Wort verhüllte einen perfiden Menschenzuchtversuch der Nationalsozialisten. Der von der SS getragene, 1936 gegründete Verein hatte sich zum Ziel gesetzt, eine Erhöhung der Geburtenzahlen »arischer« Kinder zu bewirken. Man redete unverheirateten Frauen einen Schwangerschaftsabbruch aus, bot anonyme Entbindungen an. Die Kinder wurden zur Adoption vermittelt, vorzugsweise an SS-Leute oder getreue Parteimitglieder.
Der Roman beginnt mit der Schilderung eines Vortrages der jungen Rechtsanwältin Kinga über den »Lebensborn« und fächert dann die Lebensgeschichten der Frauen auf. Kinga ist die Tochter von Alissa, die im »Lebensborn«-Heim den Namen Gerhild erhielt. Der klang »germanisch« und passte besser zu den Vornamen der Adoptiveltern Gerda und Gerd. Die Geschichte beider, ihre Liebesgeschichte, ist eine der faszinierendsten des ganzen Buches. Auch, weil sie die sozusagen zivile Seite der fürchterlichen »Lebensborn«-Abläufe zeigt. Gerda ist zwar von der Nazi-Ideologie durchdrungen, aber eine liebe, fast hingebungsvolle Mutter. Gerd, der Jurist, ist nicht etwa großmäuliger Nazi-Richter, sondern distinguierter Rechtsanwalt. Trotz innerer Distanz zum Staat wusste er seine Vorteile zu nutzen. Gerda und Gerd sind Menschentypen, wie man sie im Nachkriegsdeutschland wohl häufig antraf: Sie hatten nichts Böses gewollt. »Was hinterher so aussieht, ist fraglos richtig«, lautet das Fazit Gerdas, die im Wirtschaftswunder-Deutschland wieder öffentliche Vorträge halten darf, wie in Hitlers Deutschland eben auch. Und die ihren Status »Ehefrau = rechtlos« zwar erkennt und analysiert, aber nicht in Frage stellt. Auch nicht die bizarren Sexualpraktiken ihres Gatten.
Das Publikum im Magdeburger Schauspielhaus erspürte wohl genau die brennende Aktualität dieser Probleme. Denn weder »Menschenzucht« noch Verschleppung oder der Versuch, Frauen zu entmündigen, sind gestrige Themen. Und diese Themen werden im Roman an mannigfaltigen Schicksalen aufgefächert, ohne den »Stammbaum« der Figuren im Innendeckel ist die Romanhandlung kaum zu verfolgen, ja, es ist zu bewundern, wie die Autorin den »Figurenapparat« handhabt.
Selten habe ich so eindrücklich die Wahrheit der gängigen Weisheit, dass alles mit allem zusammenhänge, gespürt. Die geschilderten Leben sind miteinander verwoben und geprägt vom grausamen 20. Jahrhundert. Für mich frappierend war die Antwort Ulrike Draesners auf meine Frage, wie sie mit den Grausamkeiten zurechtgekommen sei, die sie im Buch zu schildern hatte. Sie habe diese Grausamkeiten erzählen lassen, war die Erwiderung. Erst beim wiederholten Bedenken ging mir auf, dass dies das Mittel war, dem Buch auch Hoffnung geben zu können, Tröstung und sogar Zuversicht. Denn Philomela, die in eine Schwalbe verwandelt wurde, kann wegen der fehlenden Zunge ja nur schwatzen. Bei Ulrike Draesner aber wird genau erzählt, scharf erzählt, ironisch erzählt, manchmal fast zu ausführlich. Aber immer geht es zurück zu pointierten Schilderungen dessen, was geschah im Lebensbornheim in Bayern, in Breslau und Wrocław, an vielen, vielen anderen Orten – und was, man verzeihe mir das Pathos, im Gottes Namen nun einmal gesagt werden muss. Und dies geschieht auf Deutsch, auch in der fatalen Sprache der Nazijahre, auch auf Polnisch, auf Schlesisch – eine Liste mit im Buch verwendeter Wörter dieser fast vergessenen Sprache ist dem Buch beigefügt.
Es wird vielleicht einmal zu spät sein, über jene Zeit zu sprechen. Denn, so heißt es im Buch, der Zweite Weltkrieg werde erst wirklich enden, wenn er durch die Hundert laufe, also 2045. Auch nach dem Dreißigjährigen Krieg habe es hundert Jahre gedauert, bis Menschen wieder als Menschen erschienen seien. Diesen faszinierenden Gedanken konnten wir aus Zeitgründen leider nicht erörtern im Magdeburger Schauspielhaus.
Aber es gelang uns noch, da der Roman auch das Polen der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts thematisiert, eine Vergangenheit, der man im Warschauer Instytut Pamięci Narodowej (dem Institut für Nationales Gedenken) auch nicht immer nachkommen kann, die Brücke zu schlagen zu Czesław Niemen und seinem berühmten Song »Dziwny jest ten świat« (»Seltsam ist diese Welt«) aus dem Jahre 1967. Das Signieren der Bücher, die man an am Stand einer Magdeburger Buchhandlung kaufen konnte, sollte auf Wunsch Ulrike Draesners von dieser Musik begleitet werden. Sie musste ein paarmal abgespielt werden.
Am Schluss des Buches erwähnt die Autorin, dass Sigmund Freud ein Kind sagen lässt: »Wenn jemand spricht, wird es hell.« Das trifft, wie ich finde, erst recht zu, wenn zum Stummbleiben Verdammte doch zu reden beginnen – wie hier, in diesem Roman.
Ulrike Draesner: Die Verwandelten. Roman, Penguin Verlag 2023. 608 S., 26 €.