Die Bilder vom letzten Besuch Leonid Breschnews in Bonn Ende November 1981, ein Jahr vor seinem Tod, sind längst aus dem kollektiven Gedächtnis entschwunden. Und doch lohnt die Erinnerung, will man ein Phänomen der sowjetischen bzw. russischen Politik ergründen. Gemeint ist der Typus des Langzeitherrschers, des vermeintlich unentbehrlichen Führers, der erst abtreten darf, wenn der Tod entscheidet. Im nasskalten Herbst am Rhein sah man seinerzeit einen hinfälligen, von Krankheit gezeichneten, schwer artikulationsfähigen sowjetischen Parteichef, der sich an der militärischen Ehrenformation vorbei schleppte und gestützt werden musste, als es die Stufen zur Residenz Schloss Gymnich hinaufging. Zu allem Überfluss traf der Angeschlagene auf einen agilen Kanzler Helmut Schmidt, dessen physische Überlegenheit vorwegzunehmen schien, was der Sowjetunion gegen Ende des begonnenen Jahrzehnts als Schicksalsschlag bevorstand – der Triumph des Westens im Kalten Krieg.
Breschnew war zu diesem Zeitpunkt mehr als 17 Jahre KPdSU-Generalsekretär, hatte 1964 den eigen-, teils reformwilligen Nikita Chruschtschow abgelöst und kaltgestellt. Keiner aus dem Oberhaus der Moskauer Nomenklatura brachte es nach dem Tod Josef Stalins Anfang März 1953 auf eine ähnlich gestreckte Amtszeit. Dabei war Breschnew 1981 nicht nur erkennbar erschöpft, sondern galt als Inkarnation von unerschütterlicher Orthodoxie im KPdSU-Politbüro und davon ausgehender gesellschaftlicher Stagnation. Die Sowjetunion hatte unter seiner Führung ein militärisches Eingreifen in Afghanistan riskiert und war in einen opferreichen Abnutzungskrieg mit einem durch die USA und Pakistan hochgerüsteten islamistischen Gegner geraten – eine zermürbende, fast schon tödliche Heimsuchung. Was der späten Sowjetunion gleichfalls zu schaffen machte, war ein für die eigene Volkswirtschaft kaum länger verkraftbarer Rüstungswettlauf mit den USA. Darunter litt das Stehvermögen in der Systemkonkurrenz, es kam zu einem technologischen Rückstand, der sich als selbstzerstörerisch erweisen sollte. Er entzog der UdSSR wie deren Alliierten in Osteuropa das Vermögen, im Wettbewerb mit den westlichen Marktordnungen zu bestehen. Das hatte einen stagnierenden Lebensstandard zur Folge und entzog dem »real existierenden Sozialismus« die so wichtige soziale Legitimation. Breschnews Nachfolger Juri Andropow, von 1982 bis 1984 KPdSU-Generalsekretär, vor allem aber Michail Gorbatschow (das Tschernenko-Interregnum 1984/85, mit dem sich die Orthodoxie ein letztes Mal durchsetzte, sollte man ausklammern) mochten so viel reformerische Energie aufbringen, wie sie wollten – Erosion und Niedergang ließen sich kaum mehr aufhalten. Nach sieben Jahrzehnten stand die erste sozialistische Großmacht der Weltgeschichte auf der Kippe.
Warum hatte sich ein Langzeitherrscher wie Breschnew zum Nachteil einer ganzen Gesellschaft so lange behauptet? War das Erbe des Stalinismus ausschlaggebend, das die Überzeugung nährte, innere Stabilität sei auf personelle Kontinuität angewiesen? Zuweilen entstand der Eindruck, als hafte Breschnew das Charisma einer »historischen Figur« an, die dem Tagesgeschäft entrückt und dafür in keinerlei Haftung mehr zu nehmen war. Anteil an einer sakral anmutenden Überhöhung hatte das außenpolitische Vermächtnis. Breschnew setzte in den späten 60er und frühen 70er Jahren bis hin zum KSZE-Schlussgipfel von Helsinki (1975) auf Entspannung mit dem Westen, ohne übermäßige Konzilianz walten zu lassen. Er blieb ein unbeirrbarer Anwalt sowjetischer Großmachtinteressen, worin sich nicht zuletzt ein auf das eigene Lager gemünzter Führungs- und Disziplinierungsanspruch spiegelte. Die »Breschnew-Doktrin« ging von einer begrenzten Souveränität der Verbündeten aus, die für den Zusammenhalt des Ostblocks aufzukommen hatten, andernfalls mit Konsequenzen rechnen mussten. Insofern verkörperte ein Staats- und Parteiführer dieses Typs ein Machtverständnis, das trotz der als historischen Wendepunkt beschworenen Revolution von 1917 auf russische Geschichte rekurrierte, ohne sich explizit darauf zu berufen. Für die Zarendynastien hatte allzeit die Maxime gegolten, dass staatliche Autorität in einem Reich dieser Dimension unanfechtbar sein müsse. Dafür erschien ein Regieren in Permanenz als sicherste Gewähr.
Das Gebot, Macht zu gebrauchen, um Desintegration, Kontrollverlust und innerer Zerrüttung vorzubeugen, hat für das heutige Russland nichts an Zugkraft eingebüßt. Zumal seine politischen Führer den Kollaps der Sowjetunion unmittelbar miterleben und sehen konnten, wie schnell Verfall in Agonie übergehen kann. Wie sie auch im Einzelnen zur Selbstaufgabe der UdSSR Ende 1991 stehen mochten, ob sie den Zusammenbruch des Systems begrüßten oder nicht – der Verlust an globaler Geltungsmacht ließ sich nur schwer verwinden. Allein weil es einen Gewinn an internationaler Statur versprach, war insofern das Muster des Langzeitherrschers, verkörpert durch Wladimir Putin, von Anfang an kein Anachronismus, sondern eher eine adäquate Antwort auf Russlands Bedürfnis nach Rehabilitation, innen wie außen.
Unterbrochen durch die Amtszeit Dmitri Medwedews 2008 bis 2012, hat Russlands derzeitiger Staatschef 17 Jahre als Präsident und vier Jahre als Ministerpräsident regiert. Mit über zwei Jahrzehnten an der Macht übertrifft er Breschnew und wirkt mittlerweile ebenfalls wie eine »historische Gestalt«. Kann ihm das Land entkommen, ohne Schaden zu nehmen?
In Metropolen wie Moskau, St. Petersburg, Nischni Nowgorod oder Kasan existiert heute eine amorphe, teils heterogene Gesellschaft, die nicht mehr übermäßig von Putins Politik zu begeistern ist. Als Verdienste abgehakt sind der Gewinn an sozialer Sicherheit, die rechtzeitige Zahlung von Renten und Löhnen oder Russlands versuchte Rückkehr als Global Player. Gefragt ist die durchgreifende Modernisierung, eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, die Russlands Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem Westen garantiert. Verlangt werden mehr demokratische Mitsprache und sehr viel weniger Korruption. Sollte es eines Tages statt eines politisch motivierten Aufbegehrens zu einem emotional aufgeladenen Massenprotest des sozialen Unmuts kommen, ist von einer schwer beherrschbaren Lage auszugehen. Bei aktuellen Umfragen des Moskauer Lewada-Zentrums nach den größten Herausforderungen für die Sicherheit Russlands wird die soziale Situation zuerst genannt – nicht die NATO, nicht die Feindseligkeit des Westens, schon gar nicht Alexei Nawalnys Anhang. Noch gibt es für einen Aufruhr dieses Zuschnitts keinen herausragenden Kopf, der eine Opposition des Volkes – nicht der urbanen Milieus und Aufsteiger – führen könnte. Und noch profitiert Wladimir Putin davon, dass er einen erheblichen Rückhalt in der Bevölkerung genießt. Nur wie lange noch und unter welchen Bedingungen?
Die zwischen dem 25. Juni und 1. Juli 2020 per Referendum mit einer offiziellen Zustimmungsrate von 78 Prozent (Wahlbeteiligung 65 Prozent) angenommene neue Verfassung regelt, dass bei der Zählung bisheriger präsidialer Amtsperioden wieder bei Null begonnen wird. Das heißt, Putin könnte theoretisch bis 2036 sein Mandat halten, er wäre dann 83 Jahre alt und 37 Jahre in höchster Verantwortung. Entscheidend ist die Option: Es könnte so sein – nicht die Gewissheit, es wird so kommen. Die beschlossene Magna Charta stellt lediglich klar: Mit der nächsten Wahl 2024 muss es keinen Abschied vom Langzeitherrscher geben. Schließlich käme es weder der Entourage Putins noch den Oligarchen, hohen Militärs und anderen Eliten gelegen, wären die nächsten drei Jahre von Debatten zur Nachfolge überschattet.
Präsident Putin selbst wird mit der Bemerkung zitiert: »Arbeiten muss man, nicht einen Nachfolger suchen.« Den zu finden, durch eine Wahl zu bringen und erfolgreich zu implementieren – es würde eine Zäsur darstellen, die sich auf den Zustand des Landes genauso auswirken dürfte wie auf dessen internationales Ranking. Der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin meinte in einem Interview kurz vor dem Verfassungsplebiszit Ende Juni 2020, ein Präsident, für den nicht gesichert sei, dass er ein weiteres Mal kandidieren dürfe, sei eine Gefahr für die Stabilität Russlands, das eine kräftige Hand brauche. Unklare Machtverhältnisse seien geeignet Zerreißproben heraufzubeschwören, die besser unterbleiben sollten. Gewiss eine zutreffende Warnung, nur ist ebenso wenig zu bestreiten: Je länger offenbleibt, wann und wie Putin abdankt, desto unwahrscheinlicher wird es, dies ohne signifikante Eruptionen steuern zu können. Wäre damit zu rechnen, dass es anders kommt, sollte er im Amt sterben wie einst Leonid Breschnew?