Für Generationen altphilologisch gestählter Lehrer war der Satz des römischen Gelehrten Boethius »Si tacuisses, philosophus mansisses« ein erprobtes didaktisches Mittel, um vor- bis aberwitzige Schüler zur Räson zu bringen. Ein kürzlich auf der Website des österreichischen Standard veröffentlichtes Interview gibt zu der Überlegung Anlass, das Instrument auch gegenüber staatlich vergüteten Philosophen anzuwenden. Im Lauf des Gesprächs, das dazu diente, Werbung für sein jüngstes Buch zu treiben, bekam der Philosoph Gunter Gebauer Gelegenheit, seine in jahrzehntelanger Lehr- und Forschungstätigkeit an der Freien Universität Berlin geschärfte politische Urteilskraft an einem aktuellen Gegenstand zu demonstrieren. Der Standard-Stichwortgeber brachte die in empfindsamen bürgerlichen Kreisen mit Argwohn betrachteten »gilets jaunes« zur Sprache, die französischen gelben Westen, die »gewalttätig« und »programmatisch diffus« seien und eines ladungsfähigen und kooptierbaren Führers ermangelten. Gebauer nimmt die Vorlage gekonnt auf und zeigt den unbotmäßigen Gelbwesten, wo der Barthel den Most holt: »Bei den Gelbwesten ist genau das passiert, was wir beschreiben: Es gibt ein aufgeheiztes politisches Klima in einem Land, die politische Führung nimmt bestimmten Gruppen teure Privilegien, dann äußern Leute im Internet ihre Meinungen darüber und jemand schlägt vor, Warnwesten anzuziehen und den Verkehr zu blockieren.«
Welche teuren Privilegien es denn waren, die die französische Regierung bestimmten Bevölkerungsgruppen entzog, so dass diese im Gefolge zu »Gelbwesten« mutierten, erfährt das wissbegierige Publikum nicht. Der unmittelbare Anlass, zu den Warnwesten zu greifen und Straßen zu blockieren, war das bereits terminierte Vorhaben der Regierung, die Dieselsteuer anzuheben – eine allgemeine Verbrauchssteuer, die nichts mit einem Privileg zu tun hat. Doch vielleicht wollte Gebauer auf die insgesamt privilegierte Situation derjenigen abstellen, aus denen sich die »gilets jaunes« zusammensetzen? Bei den Gelbwesten handelt es sich überwiegend um Bürger des kleinstädtischen und ländlichen Frankreichs, die in den vergangenen Jahrzehnten und verstärkt seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 sozioökonomisch an Boden verloren haben. Grund dafür sind stagnierende beziehungsweise sinkende Löhne, zunehmende Arbeitsplatzunsicherheit, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung – das klingt nicht unbedingt wie eine verwöhnte Ansammlung von Privilegienträgern, so dass Gebauers Behauptung rätselhaft bleibt. Dabei sollte er sich mit Privilegien eigentlich sehr gut auskennen, kann er doch auf eine mehr als drei Jahrzehnte währende Tätigkeit als Professor für Philosophie im Biotop Universität zurückblicken, in welchem der Typus des verbeamteten, großzügig alimentierten und unkündbaren Lehrstuhlinhabers noch weit verbreitet war; eine Position, die gemäß den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums ausgestaltet ist – ein lupenreines Privileg, ein Sonderrecht, wie es im Verfassungsgesetz (Art. 33 GG) steht.
Weshalb nun erweist sich Gebauer in der zitierten Passage des Standard-Interviews als begriffsstutzig? Des Rätsels Lösung könnte in den Funktionen zu finden sein, die staatlichen Philosophie-Professoren in bürgerlichen Klassengesellschaften zukommen: Repräsentation und Propaganda. Einerseits schmückt der bürgerliche Staat seine Fassade gerne mit klassisch-humanistischer Gelehrsamkeit, andererseits ist der periphere »Staatsadel« (Pierre Bourdieu) recht nützlich, wenn es gilt, den rumorenden Pöbel, der sich mit seiner Lage nicht länger abfinden möchte, in die Schranken zu weisen. Der führende Experte fürs Philosophie-Professoren-Unwesen, Arthur Schopenhauer, hat vor nunmehr 175 Jahren bereits alles Notwendige zu diesem Berufsstand gesagt: »Machen nun die Regierungen die Philosophie zum Mittel ihrer Staatszwecke; so sehn andererseits die Gelehrten in philosophischen Professuren ein Gewerbe, das seinen Mann nährt, wie jedes andere; sie drängen sich also danach, unter Versicherung ihrer guten Gesinnung, d. h. der Absicht, jenen Zwecken zu dienen. Und sie halten Wort: nicht Wahrheit, nicht Klarheit, nicht Plato, nicht Aristoteles, sondern die Zwecke, denen zu dienen sie bestellt worden, sind ihr Leitstern und werden sofort auch das Kriterium des Wahren, des Werthvollen, des zu Beachtenden und ihres Gegenteils.«