Seit 2024 gibt der alternative, in Heidenheim beheimatete Kleinverlag »freiheitsbaum« die neue »Edition Libre Pensée« heraus. Der Name »Verlag freiheitsbaum« ist Programm, gilt doch der Freiheitsbaum seit der Französischen Revolution (1789), der Mainzer Republik (1793), den Juli- und Märzrevolutionen (1830; 1848) als Symbol des Volkes für Freiheit und Demokratie.
Gegründet wurde der Verlag von Hellmut G. Haasis (1942-2024), Und seit vielen Jahren veröffentlicht Heiner Jestrabek in der Reihe »edition Spinoza« klassisch aufklärerische, religionskritische Schriften, regionsbezogene historische Studien und schöne Literatur. Die neue Edition wendet sich den Freidenkern zu, speziell den Franzosen Etienne Dolet (1508-1546), Maria Vérone (1874-1938) und André Lorulot (1885-1963), ihren Biografien, ihrem Wirken und ihren Schriften.
Bekanntlich sind Freidenker eng mit den demokratischen Strömungen des Humanismus (einschließlich ihrer antiken Wurzeln), der europäischen Aufklärung und den radikaldemokratischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts mit ihren Ausstrahlungen in die Frauen- und Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts verknüpft. Öffentlich bekämpft wurden obskuranter religiöser Fanatismus, intellektueller Dogmatismus, zynisch praktizierte Rechtlosigkeit und schrankenlose Machtausübung der jeweiligen Herrschaftssysteme. Von daher gesehen ist die Beschäftigung mit dem Freidenkertum, sei es in seiner klassischen oder in seiner modernen Form, ebenso aktuell wie nötig.
Einer der frühen freien Denker war der französische Humanist Étienne Dolet (1509-1546); Jestrabek hat ihm einen fast 300 Seiten starken Band gewidmet. Er beinhaltet eine mit zeittypischen Abbildungen versehene Einführung, dann folgen als Nachdrucke die Biographie über Dolet von Richard Copley Christie aus dem Jahr 1899 sowie das »Cymbalum mundi« von Bonaventure Des Périers (etwa um 1510-1544) aus den Jahren 1538/39.
Étienne Dolet wurde am 3.August 1509 in Orléans geboren, zog als 17Jähriger zum Studium nach Padua, der damaligen Hochburg des Humanismus und der Renaissance mit ihren pantheistisch, materialistisch und ciceronisch ausgerichteten Gelehrten, wurde dann Sekretär des aus der Auvergne stammenden Bischof-Botschafters Jean de Langeac in Venedig und ging 1532 an die Universität Toulouse, um Jura zu studieren. In Toulouse, seit jeher Hochburg des sogenannte »Ketzer« verfolgenden Dominikanerordens, kam es zur gleichen Zeit zu einer Verfolgungswelle gegen den Protestantismus, Säuberungen der Universität, Inhaftierungen und Folterungen von Professoren und Studenten, sogar in Ketzerverbrennungen.
Dolets öffentliche Kritik dieser Zustände in Reden 1533 und 1534 führten nicht nur zu einer Gefängnisstrafe, sondern auch zum Verweis aus der Stadt. Im August 1534 ließ sich Dolet in der eher bürgerlich geprägten Stadt Lyon nieder, erlernte bei Sebastian Gryphius (1509-1546), der auch Dolets humanistische Schriften herausgab, das Druckerhandwerk, erhielt 1538 das Druckerprivileg und wirkte erfolgreich als Drucker und Herausgeber von medizinischen, griechischen und lateinischen Klassikern sowie auch zeitgenössischer Literatur in französischer Sprache. Darunter befanden sich auch einige Werke des Lyrikers Clément Marots (1496-1544) und des Arztes und Romanciers François Rabelais (1483-1553).
Dolet selbst machte sich durch seine Schriften wie »Les deux discours contre Toulouse«, »Le dialogue sur l´imitation de Cicéron contre Didier Erasme d´Amsterdam« und »Commentaires sur la langue latine« in humanistischen Kreisen einen Namen als Gelehrter. Ab 1539 geriet er wieder ins Fadenkreuz kirchenrechtlicher und damit auch staatlicher Verfolgung: Konnte er sich 1542 noch durch königliche Begnadigung vor der Hinrichtung retten, wurde er 1544 infolge einer Intrige in Paris erneut verhaftet, gefoltert, erdrosselt und im August 1544 auf dem Place Maubert zusammen mit seinen Büchern verbrannt. Das Verbrechen, dessen sich Dolet schuldig machte, bestand nach dem Urteil des Inquisitionstribunals darin, dass er nicht an ein Leben nach dem Tode und an die Unsterblichkeit der Seele glaubte.
Der Mord an Dolet bildete den Auftakt zu einem schrecklichen Massaker an den Bewohnern des sogenannten Waadlandes (das Gebiet um den Genfer See): »Die drei Waadtländer Städte wurden zerstört, 3.000 Menschen massakriert, 256 nach dem Massaker hingerichtet, und nach einem Scheinprozess wurden sechs- oder siebenhundert weitere auf die Galeeren geschickt und viele Kinder als Sklaven verkauft«, so Richard Copley Christie in seiner von Jestrabek wieder zugänglich gemachten Dolet-Biografie (S. 250).
Hintergrund dieser ideologisch-politischen Auseinandersetzungen zwischen frühbürgerlich-weltlichem Humanismus und feudal-kirchlichem Dogmatismus war eine epochale Zeitenwende: das Aufkommen der Geldwirtschaft, ihre erste Verbreitung im Zuge der Raubzüge während der Entdeckungen und der ersten Akkumulation des Kapitals. Diese Umwälzungen eröffneten Freiräume für rational ausgerichtete Wissenschaften und humanistisch-realistische Künste, forderten aber auch Opfer unter mutigen Kämpfern, die erst später geehrt wurden.
So ließ die Pariser Stadtverwaltung 1889 am Place Maubert, dem Ort von Dolets Hinrichtung, ein Denkmal mit einer Dolet-Statue zur Verehrung des freien Denkens errichten, das 1942 von der profaschistischen Vichy-Regierung zerstört, eingeschmolzen und später nicht wiedererrichtet wurde.
Zu jener Zeit, als das Denkmal errichtet wurde, war die Freidenkerbewegung auch in Frankreich lebendig und aktiv. Einer ihrer bekanntesten Aktivisten war André Lorulot. Auch ihm hat der »Verlag freiheitsbaum« ein Buch gewidmet, das Jestrabek in bekannter Weise gegliedert und illustriert hat: Nach einem Beitrag über Lorulots »Leben, Werk und Ideen eines Freidenkers« und der »Literatur Bibliographie Œuvre Lorulots« folgen 160 Seiten autobiographische Texte Lorulots (»Ma vie …, mes Idées … / Mein Leben … meine Ideen«), von Freunden 1973 zusammengestellt, sowie Auszüge aus der religionskritischen Satireschrift »La vie comique de Jésus / Das komische Leben des Jesus« von 1934 mit Illustrationen im Comicstil von Armageol (eigentlich Armand Gros bzw. Armand Mougeol, 1891-1974).
André Lorulot, eigentlich Roulot, wurde 1885 in Paris in armen Verhältnissen geboren. Sein Vater war als Lithograf tätig, alkoholabhängig und gewalttätig, er starb früh an einer Bleivergiftung. Wie in der Zeit üblich, arbeitete André 14jährig als Lehrling, Bote, Buchhalter. Autodidaktisch bildete er sich in Geschichte, Literatur und Philosophie weiter. Im Vorkriegsfrankreich fand er Anschluss an radikaldemokratische und sozialistische Kreise, schloss sich dann anarchistischen Zirkeln um die Zeitschrift »L´Anarchie« von Joseph Albert (1875-908) an und wirkte als politischer Redner und Schriftsteller. Nach Alberts Tod übernahm er die Leitung der Zeitschrift (1909-1911).
Nach dem Ersten Weltkrieg engagierte sich Lorulot verstärkt in der Freidenkerbewegung und agitierte gegen den Klerikalismus: Er wirkte ab 1921 als Herausgeber der Zeitung »L´Antireligieux«, 1928 von »La libre pensée« und als erfolgreicher wie auch verfolgter Redner der Freidenkerbewegung in allen französischen Departements, in Nordafrika, in Belgien und in der Schweiz. Selbstredend engagierte er sich gegen den Faschismus, die deutsche Besatzung und den französischen Kolonialismus. Er hielt etwa 2500 bis 3000 Vorträge, gab eine Vielzahl Broschüren und Bücher heraus, darunter die Satirezeitschrift »La Calotte«, schrieb Theaterstücke, Romane und Rundfunkbeiträge. Er starb 1963 in Herblay und ist auf dem Friedhof Père Lachaise (Paris) beerdigt.
Nachdem Lorulot den Opportunismus der Sozialisten in Gestalt von Aristide Briand (1862-1932) im Zusammenhang mit seiner Verurteilung wegen eines antimilitaristischen Flugblattes 1907 persönlich erfahren und sich endgültig mit Ende des Ersten Weltkrieges vom militanten Anarchismus eines Viktor Serge (1890-1947) distanziert hatte, nahm er eine unabhängige antiklerikale und aufklärerische Position ein. Gesellschaftspolitisch war Lorulot genossenschaftlich orientiert, wie er in seiner Schrift »Ein Blick in die Zukunft« ausführte:
»Mein Ideal ist und bleibt das genossenschaftliche Ideal, das ich dem etatistischen Sozialismus und dem Kommunismus weit überlegener finde. Das Genossenschaftssystem respektiert die individuelle Autonomie; es versucht nicht, die Persönlichkeit zu absorbieren und zu zermalmen; es entlohnt jeden nach seinem Verdienst und seiner Anstrengung; es gewährt privaten Initiativen ein Höchstmaß an Freiheit, das mit dem Interesse der Gemeinschaft vereinbar ist.« Und weiter: »Es muss die Genossenschaftsrepublik aufgebaut werden! Das repräsentative System muss verbessert werden, damit der Parlamentarismus endlich zu einer Regierung des Volkes DURCH DAS VOLK wird.«
Étienne Dolet (1509-1546). Märtyrer des Freien Denkens. Leben und Werk nach der Biografie von Richard Coply Christie (1899). Cymbalum mundi. Anonym, vermutlich Bonaventure Des Périers (1537/38). Herausgegeben von Heiner Jestrabek. Reutlingen-Heidenheim 2024, 291 S., 16 €.
André Lorulot (1885-1963). Leben und Ideen eines Freidenkers. Vie et idéesd´un libre-penseur. Herausgegeben von Heiner Jestrabek. Heidenheim (Verlag freiheitsbaum, edition Spinoza) 2024, 249 S., 16 €.