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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Penseurs libre – Freidenker

Seit 2024 gibt der alter­na­ti­ve, in Hei­den­heim behei­ma­te­te Klein­ver­lag »frei­heits­baum« die neue »Edi­ti­on Lib­re Pen­sée« her­aus. Der Name »Ver­lag frei­heits­baum« ist Pro­gramm, gilt doch der Frei­heits­baum seit der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on (1789), der Main­zer Repu­blik (1793), den Juli- und März­re­vo­lu­tio­nen (1830; 1848) als Sym­bol des Vol­kes für Frei­heit und Demokratie.

Gegrün­det wur­de der Ver­lag von Hell­mut G. Haa­sis (1942-2024), Und seit vie­len Jah­ren ver­öf­fent­licht Hei­ner Jestra­bek in der Rei­he »edi­ti­on Spi­no­za« klas­sisch auf­klä­re­ri­sche, reli­gi­ons­kri­ti­sche Schrif­ten, regi­ons­be­zo­ge­ne histo­ri­sche Stu­di­en und schö­ne Lite­ra­tur. Die neue Edi­ti­on wen­det sich den Frei­den­kern zu, spe­zi­ell den Fran­zo­sen Eti­en­ne Dolet (1508-1546), Maria Véro­ne (1874-1938) und André Loru­lot (1885-1963), ihren Bio­gra­fien, ihrem Wir­ken und ihren Schriften.

Bekannt­lich sind Frei­den­ker eng mit den demo­kra­ti­schen Strö­mun­gen des Huma­nis­mus (ein­schließ­lich ihrer anti­ken Wur­zeln), der euro­päi­schen Auf­klä­rung und den radi­kal­de­mo­kra­ti­schen Bewe­gun­gen des 19. Jahr­hun­derts mit ihren Aus­strah­lun­gen in die Frau­en- und Arbei­ter­be­we­gung des 20. Jahr­hun­derts ver­knüpft. Öffent­lich bekämpft wur­den obsku­ran­ter reli­giö­ser Fana­tis­mus, intel­lek­tu­el­ler Dog­ma­tis­mus, zynisch prak­ti­zier­te Recht­lo­sig­keit und schran­ken­lo­se Macht­aus­übung der jewei­li­gen Herr­schafts­sy­ste­me. Von daher gese­hen ist die Beschäf­ti­gung mit dem Frei­den­ker­tum, sei es in sei­ner klas­si­schen oder in sei­ner moder­nen Form, eben­so aktu­ell wie nötig.

Einer der frü­hen frei­en Den­ker war der fran­zö­si­sche Huma­nist Éti­en­ne Dolet (1509-1546); Jestra­bek hat ihm einen fast 300 Sei­ten star­ken Band gewid­met. Er beinhal­tet eine mit zeit­ty­pi­schen Abbil­dun­gen ver­se­he­ne Ein­füh­rung, dann fol­gen als Nach­drucke die Bio­gra­phie über Dolet von Richard Cop­ley Chri­stie aus dem Jahr 1899 sowie das »Cym­balum mun­di« von Bona­ven­ture Des Périers (etwa um 1510-1544) aus den Jah­ren 1538/​39.

Éti­en­ne Dolet wur­de am 3.August 1509 in Orlé­ans gebo­ren, zog als 17Jähriger zum Stu­di­um nach Padua, der dama­li­gen Hoch­burg des Huma­nis­mus und der Renais­sance mit ihren pan­the­istisch, mate­ria­li­stisch und cice­ro­nisch aus­ge­rich­te­ten Gelehr­ten, wur­de dann Sekre­tär des aus der Auver­gne stam­men­den Bischof-Bot­schaf­ters Jean de Lan­geac in Vene­dig und ging 1532 an die Uni­ver­si­tät Tou­lou­se, um Jura zu stu­die­ren. In Tou­lou­se, seit jeher Hoch­burg des soge­nann­te »Ket­zer« ver­fol­gen­den Domi­ni­ka­ner­or­dens, kam es zur glei­chen Zeit zu einer Ver­fol­gungs­wel­le gegen den Pro­te­stan­tis­mus, Säu­be­run­gen der Uni­ver­si­tät, Inhaf­tie­run­gen und Fol­te­run­gen von Pro­fes­so­ren und Stu­den­ten, sogar in Ketzerverbrennungen.

Dolets öffent­li­che Kri­tik die­ser Zustän­de in Reden 1533 und 1534 führ­ten nicht nur zu einer Gefäng­nis­stra­fe, son­dern auch zum Ver­weis aus der Stadt. Im August 1534 ließ sich Dolet in der eher bür­ger­lich gepräg­ten Stadt Lyon nie­der, erlern­te bei Seba­sti­an Gry­phi­us (1509-1546), der auch Dolets huma­ni­sti­sche Schrif­ten her­aus­gab, das Drucker­hand­werk, erhielt 1538 das Drucker­pri­vi­leg und wirk­te erfolg­reich als Drucker und Her­aus­ge­ber von medi­zi­ni­schen, grie­chi­schen und latei­ni­schen Klas­si­kern sowie auch zeit­ge­nös­si­scher Lite­ra­tur in fran­zö­si­scher Spra­che. Dar­un­ter befan­den sich auch eini­ge Wer­ke des Lyri­kers Clé­ment Marots (1496-1544) und des Arz­tes und Roman­ciers Fran­çois Rabelais (1483-1553).

Dolet selbst mach­te sich durch sei­ne Schrif­ten wie »Les deux dis­cours cont­re Tou­lou­se«, »Le dia­lo­gue sur l´imitation de Cicé­ron cont­re Didier Eras­me d´Amsterdam« und »Com­men­tai­res sur la lan­gue lati­ne« in huma­ni­sti­schen Krei­sen einen Namen als Gelehr­ter. Ab 1539 geriet er wie­der ins Faden­kreuz kir­chen­recht­li­cher und damit auch staat­li­cher Ver­fol­gung: Konn­te er sich 1542 noch durch könig­li­che Begna­di­gung vor der Hin­rich­tung ret­ten, wur­de er 1544 infol­ge einer Intri­ge in Paris erneut ver­haf­tet, gefol­tert, erdros­selt und im August 1544 auf dem Place Mau­bert zusam­men mit sei­nen Büchern ver­brannt. Das Ver­bre­chen, des­sen sich Dolet schul­dig mach­te, bestand nach dem Urteil des Inqui­si­ti­ons­tri­bu­nals dar­in, dass er nicht an ein Leben nach dem Tode und an die Unsterb­lich­keit der See­le glaubte.

Der Mord an Dolet bil­de­te den Auf­takt zu einem schreck­li­chen Mas­sa­ker an den Bewoh­nern des soge­nann­ten Waad­lan­des (das Gebiet um den Gen­fer See): »Die drei Waadt­län­der Städ­te wur­den zer­stört, 3.000 Men­schen mas­sa­kriert, 256 nach dem Mas­sa­ker hin­ge­rich­tet, und nach einem Schein­pro­zess wur­den sechs- oder sie­ben­hun­dert wei­te­re auf die Galee­ren geschickt und vie­le Kin­der als Skla­ven ver­kauft«, so Richard Cop­ley Chri­stie in sei­ner von Jestra­bek wie­der zugäng­lich gemach­ten Dolet-Bio­gra­fie (S. 250).

Hin­ter­grund die­ser ideo­lo­gisch-poli­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen früh­bür­ger­lich-welt­li­chem Huma­nis­mus und feu­dal-kirch­li­chem Dog­ma­tis­mus war eine epo­cha­le Zei­ten­wen­de: das Auf­kom­men der Geld­wirt­schaft, ihre erste Ver­brei­tung im Zuge der Raub­zü­ge wäh­rend der Ent­deckun­gen und der ersten Akku­mu­la­ti­on des Kapi­tals. Die­se Umwäl­zun­gen eröff­ne­ten Frei­räu­me für ratio­nal aus­ge­rich­te­te Wis­sen­schaf­ten und huma­ni­stisch-rea­li­sti­sche Kün­ste, for­der­ten aber auch Opfer unter muti­gen Kämp­fern, die erst spä­ter geehrt wurden.

So ließ die Pari­ser Stadt­ver­wal­tung 1889 am Place Mau­bert, dem Ort von Dolets Hin­rich­tung, ein Denk­mal mit einer Dolet-Sta­tue zur Ver­eh­rung des frei­en Den­kens errich­ten, das 1942 von der pro­fa­schi­sti­schen Vichy-Regie­rung zer­stört, ein­ge­schmol­zen und spä­ter nicht wie­der­errich­tet wurde.

Zu jener Zeit, als das Denk­mal errich­tet wur­de, war die Frei­den­ker­be­we­gung auch in Frank­reich leben­dig und aktiv. Einer ihrer bekann­te­sten Akti­vi­sten war André Loru­lot. Auch ihm hat der »Ver­lag frei­heits­baum« ein Buch gewid­met, das Jestra­bek in bekann­ter Wei­se geglie­dert und illu­striert hat: Nach einem Bei­trag über Loru­lots »Leben, Werk und Ideen eines Frei­den­kers« und der »Lite­ra­tur Biblio­gra­phie Œuvre Loru­lots« fol­gen 160 Sei­ten auto­bio­gra­phi­sche Tex­te Loru­lots (»Ma vie …, mes Idées … /​ Mein Leben … mei­ne Ideen«), von Freun­den 1973 zusam­men­ge­stellt, sowie Aus­zü­ge aus der reli­gi­ons­kri­ti­schen Sati­re­schrift »La vie comi­que de Jésus /​ Das komi­sche Leben des Jesus« von 1934 mit Illu­stra­tio­nen im Comic­stil von Arma­geol (eigent­lich Armand Gros bzw. Armand Mougeol, 1891-1974).

André Loru­lot, eigent­lich Rou­lot, wur­de 1885 in Paris in armen Ver­hält­nis­sen gebo­ren. Sein Vater war als Litho­graf tätig, alko­hol­ab­hän­gig und gewalt­tä­tig, er starb früh an einer Blei­ver­gif­tung. Wie in der Zeit üblich, arbei­te­te André 14jährig als Lehr­ling, Bote, Buch­hal­ter. Auto­di­dak­tisch bil­de­te er sich in Geschich­te, Lite­ra­tur und Phi­lo­so­phie wei­ter. Im Vor­kriegs­frank­reich fand er Anschluss an radi­kal­de­mo­kra­ti­sche und sozia­li­sti­sche Krei­se, schloss sich dann anar­chi­sti­schen Zir­keln um die Zeit­schrift »L´Anarchie« von Joseph Albert (1875-908) an und wirk­te als poli­ti­scher Red­ner und Schrift­stel­ler. Nach Alberts Tod über­nahm er die Lei­tung der Zeit­schrift (1909-1911).

Nach dem Ersten Welt­krieg enga­gier­te sich Loru­lot ver­stärkt in der Frei­den­ker­be­we­gung und agi­tier­te gegen den Kle­ri­ka­lis­mus: Er wirk­te ab 1921 als Her­aus­ge­ber der Zei­tung »L´Antireligieux«, 1928 von »La lib­re pen­sée« und als erfolg­rei­cher wie auch ver­folg­ter Red­ner der Frei­den­ker­be­we­gung in allen fran­zö­si­schen Depar­te­ments, in Nord­afri­ka, in Bel­gi­en und in der Schweiz. Selbst­re­dend enga­gier­te er sich gegen den Faschis­mus, die deut­sche Besat­zung und den fran­zö­si­schen Kolo­nia­lis­mus. Er hielt etwa 2500 bis 3000 Vor­trä­ge, gab eine Viel­zahl Bro­schü­ren und Bücher her­aus, dar­un­ter die Sati­re­zeit­schrift »La Calot­te«, schrieb Thea­ter­stücke, Roma­ne und Rund­funk­bei­trä­ge. Er starb 1963 in Her­b­lay und ist auf dem Fried­hof Père Lachai­se (Paris) beerdigt.

Nach­dem Loru­lot den Oppor­tu­nis­mus der Sozia­li­sten in Gestalt von Ari­sti­de Bri­and (1862-1932) im Zusam­men­hang mit sei­ner Ver­ur­tei­lung wegen eines anti­mi­li­ta­ri­sti­schen Flug­blat­tes 1907 per­sön­lich erfah­ren und sich end­gül­tig mit Ende des Ersten Welt­krie­ges vom mili­tan­ten Anar­chis­mus eines Vik­tor Ser­ge (1890-1947) distan­ziert hat­te, nahm er eine unab­hän­gi­ge anti­kle­ri­ka­le und auf­klä­re­ri­sche Posi­ti­on ein. Gesell­schafts­po­li­tisch war Loru­lot genos­sen­schaft­lich ori­en­tiert, wie er in sei­ner Schrift »Ein Blick in die Zukunft« ausführte:

»Mein Ide­al ist und bleibt das genos­sen­schaft­li­che Ide­al, das ich dem eta­ti­sti­schen Sozia­lis­mus und dem Kom­mu­nis­mus weit über­le­ge­ner fin­de. Das Genos­sen­schafts­sy­stem respek­tiert die indi­vi­du­el­le Auto­no­mie; es ver­sucht nicht, die Per­sön­lich­keit zu absor­bie­ren und zu zer­mal­men; es ent­lohnt jeden nach sei­nem Ver­dienst und sei­ner Anstren­gung; es gewährt pri­va­ten Initia­ti­ven ein Höchst­maß an Frei­heit, das mit dem Inter­es­se der Gemein­schaft ver­ein­bar ist.« Und wei­ter: »Es muss die Genos­sen­schafts­re­pu­blik auf­ge­baut wer­den! Das reprä­sen­ta­ti­ve System muss ver­bes­sert wer­den, damit der Par­la­men­ta­ris­mus end­lich zu einer Regie­rung des Vol­kes DURCH DAS VOLK wird.«

Éti­en­ne Dolet (1509-1546). Mär­ty­rer des Frei­en Den­kens. Leben und Werk nach der Bio­gra­fie von Richard Cop­ly Chri­stie (1899). Cym­balum mun­di. Anonym, ver­mut­lich Bona­ven­ture Des Périers (1537/​38). Her­aus­ge­ge­ben von Hei­ner Jestra­bek. Reut­lin­gen-Hei­den­heim 2024, 291 S., 16 €.

André Loru­lot (1885-1963). Leben und Ideen eines Frei­den­kers. Vie et idéesd´un lib­re-pen­seur. Her­aus­ge­ge­ben von Hei­ner Jestra­bek. Hei­den­heim (Ver­lag frei­heits­baum, edi­ti­on Spi­no­za) 2024, 249 S., 16 €.