»Als der Krieg ausbrach, verwandelte sich meine Angst vor einem Krieg in Europa in die Angst vor einem Atomkrieg in Europa«, schreibt der Philosoph Olaf L. Müller, Professor an der Berliner Humboldt-Universität. Sein »Lebens- und Meinungswandel« sei derzeit von »viel Angst durchsetzt«. Seine anfängliche Panik habe sich schließlich aber in eine Stimmung verwandelt, in der die Furcht nicht das Denken tötet, sondern sinnvoll anleitet: »Sie will uns etwas sagen, wir müssen ihr kritisch zuhören.«
Wie sehr erinnert mich das an die frühen 1980er-Jahre! Wir jungen Leute, die wir uns in der Friedensbewegung engagiert hatten, saßen beieinander und gestanden uns reihum unsere Ängste. Würde es zum großen Knall kommen, würden wir das größte denkbare Grauen erleben, das sich Menschen überhaupt nur vorstellen können. Nicht weit von uns entfernt sollten Atomraketen stationiert werden, die bei einer Flugzeit von rund 12 Minuten Moskau erreichen konnten, um dort Millionen Menschenleben auszulöschen. Das Wort »Atomraketen sind Untergangsmagneten« klang uns in den Ohren, und wir wussten, dass unsere eigene Sicherheit mit der Sicherheit der Einwohner Moskaus identisch war. Vorausgegangen war der Nato-Beschluss, Westeuropa mit Nuklearraketen aufzurüsten. Wieder einmal glaubte man, Sicherheit herstellen zu können, indem man eine Lunte legte, das Streichholz entzündete und darauf wartete, dass der Gegner sich rührte. Die geringste Bewegung jenseits des Eisernen Vorhangs hätte die Vernichtungsmaschinerie in Gang gesetzt. Man nannte es Abschreckung.
Damals trafen wir überall auf Menschen, die ebenfalls Angst hatten. Aber sie quälten sich nicht mit Horrorvorstellungen, sondern wurden aktiv. Friedensgruppen schossen wie Pilze aus dem Boden. Zu Hunderttausenden versammelten sich Friedensbewegte auf zwei großen Demonstrationen in Bonn, und 1983 fassten sich über 108 Kilometer hinweg Menschen an den Händen, um eine Menschenkette zwischen Stuttgart und dem Militärstützpunkt Neu-Ulm zu bilden. Wir erlebten, dass wir nicht allein waren. Dass mit Atomwaffen keine Sicherheit zu schaffen ist, war vielen bewusst geworden, und unsere Aktionen waren von einer großen Hoffnung beflügelt. Historiker sind heute der Ansicht, der gewaltige internationale Protest, der dem Nato-Beschluss folgte, sei einer der bedeutsamsten Faktoren für die Beendigung des Kalten Kriegs gewesen.
Wer sich wie Olaf Müller seine Angst eingesteht, wer gar protestierend auf die Straße geht, ist gegenwärtig eine Ausnahme. Längst ist es zu einer Art Selbstverständlichkeit geworden, dass Atomwaffen existieren, und die meisten glauben, dass von ihnen keine Gefahr ausgeht. Niemand sei so verrückt, sie einzusetzen. »Die Abschreckung wirkt doch!«, sagen mir Freunde. Oder: »Du bist eben alt, das sind Probleme von gestern.« Und mit dem Fehlen der Angst, fehlt auch jener spezifische Kick, den das Denken offenbar benötigt, um aus den gewohnten Bahnen auszubrechen und der politischen Fantasie auf die Sprünge zu helfen. Ich erfahre: Es reicht nicht, klug zu sein und sich in der Welt auszukennen, um sich diesem Thema sachgerecht zuzuwenden. Ohne den dazu passenden emotionalen Antrieb, plappert man meistens nur dasjenige nach, was die Spatzen von den Dächern pfeifen.
Bei Olaf Müller ist das anders. Seine Emotionen unterlaufen offenbar das Übliche, das zurzeit als selbstverständlich gilt. Wird jemand angegriffen, heißt es, so muss man ihm helfen. Verletzt jemand Moral und Völkerrecht, so muss er bestraft werden. Schließlich wurde schon einmal der Fehler begangen, eine Diktatur nicht rechtzeitig zu stoppen. Damals bei Hitler und durch die Appeasement-Politik. Es ist eben nicht möglich, am Grundsatz festzuhalten, keine Waffen in Konfliktgebiete zu liefern. Woran liegt es, dass jemand daran zweifelt?
Was mich angeht, so sind liegt es sicher an meinen Erinnerungen. Der Gedanke an Krieg gegen Russland führt immer Bilder von Atompilzen im Schlepptau. Auf den Titelbildern von Illustrierten waren sie häufig abgebildet, als ich jung war. Die Kuba-Krise habe ich als Schock erlebt. Ich hatte mich gerade verliebt und wusste überhaupt nicht, was ich davon halten sollte. Nichts passte zusammen. Mein ganzes Leben über tauchten die Atompilze in nächtlichen Träumen auf. Fern am Horizont stiegen sie hoch, und ich ahnte im Halbschlaf beklommen, dass nun das Ende kommen würde.
Daher ist Olaf Müller für mich jemand, den ich verstehe und der begriffen hat: Die Atomwaffenfrage ist auch ein emotionales Problem. Ohne überhaupt etwas zu fühlen und ohne sich ins Verhältnis zu solchen Emotionen gesetzt zu haben, wird niemand begreifen, worum es hier geht. Um was geht es? Es geht darum, Wege zu entdecken, die aus dem Labyrinth herausführen. Aus dem Labyrinth der atomaren Bedrohung, die seit dem 16. Juli 1945, der Explosion der ersten Bombe in einer Wüste New Mexicos, den Menschen zu einem Wesen gemacht hat, das jederzeit sein eigenes Schicksal besiegeln kann, von jetzt auf gleich. Olaf Müller hat darüber nachgedacht, und seine Gedankengänge bringen Licht ins Dunkel.
Und noch eine andere Erinnerung hindert mich, selbstverständlich zu finden, was so verbreitet zum Ukrainekrieg im Schwange ist. Meinen Schülern und Studenten hatte ich immer wieder berichtet, dass früher einmal, bei den Nazis vor allem, »Pazifismus« ein Schimpfwort gewesen sei. Pazifisten, wie Carl von Ossietzky etwa, landeten im KZ. Dann las ich – kurz nach den Ostermärschen 2022 –, dass nun ein »Lumpen-Pazifismus« sein Unwesen treibe. Pazifisten hätten angeblich überhaupt nicht kapiert, was jetzt vonnöten sei. Was war da plötzlich passiert? Jemand, den ich für einen überzeugten Linken gehalten hatte und der früher Wehrdienstverweigerer war, wurde ärgerlich, weil ich sein Eintreten für unbegrenzte Waffenlieferung für widersprüchlich hielt. »Bist du etwa ein Pazifist?« Ich wusste es nicht, aber deutlich war mir, dass die Zeitenwende auch eine Wende der Gefühle war. Aber mir gelang es nicht, in den neuen Konsens der Empfindungen einzuschwingen. Welche Stimmung den aktuellen Bellizismus zu tragen scheint, kapiere ich nicht. Auch nicht auf der gedanklichen Ebene.
Sehr gut tat mir daher die Lektüre von Olaf Müllers Schriften über den Pazifismus (Reclam, Stuttgart 2022 und im Anhang zu Russells Essay über den Pazifismus: Stuttgart 2023). Ein Pazifist ist nach Müller jemand, der leidenschaftlich und konsequent nach friedlichen Lösungen für Konflikte sucht, auch dort, wo auf den ersten Blick eine solche Lösung unmöglich zu sein scheint. Pazifismus ist nach Müller durchaus keine abseitige Idee, etwa von Leuten, die nicht einmal ihre eigenen Kinder gegen Mörder verteidigen würden, auch wenn eine entsicherte Pistole griffbereit läge. Ein solcher Pazifismus ist nur für Heilige und für eine Welt, in der es nur Heilige gibt. Müller schlägt einen »pragmatischen Pazifismus« vor, und er findet dafür Beispiele, Albert Einstein etwa oder Bertrand Russell, den großen britischen Mathematiker und Philosophen.
Ein pragmatischer, an den Umständen orientierter Pazifismus lehnt nicht blind und rigoros jede Form der bewaffneten Verteidigung ab. Aber er fordert, dass die Konsequenzen einer militärischen Option sorgsamst mit jenen Folgen verglichen werden, die bei einem Verzicht auf ein solches Eingreifen zu erwarten sind. Der Pazifist hat immer diese Waage im Kopf: Welche möglichen Übel sind schlimmer, die des Waffengangs oder diejenigen einer Unterlassung von Gewaltanwendung? In welche Richtung neigt sich die Waage? Müller betont, dass Pazifisten leider immer viel zu spät gefragt werden, denn zumeist sollte der Versuch einer pazifistischen Lösung von Problemen bereits weit im Vorfeld eines möglichen Krieges begonnen werden.
Als Philosoph und Wissenschaftstheoretiker weiß Olaf Müller natürlich: Wir Menschen durchschauen die Welt nur sehr ungenügend. Unsere »Wissensschwäche« ist beachtlich, ganz besonders, was die Zukunft angeht. Militärisches Gehabe, demonstrative Überlegenheit hinter dem Lametta der Uniformen verbergen, dass gerade der Krieg ein undurchschaubares, hochgradig chaotisches Geschehen ist. Wir wissen einfach nicht, was dabei herauskommt. Diese Schwäche, kaum vorhersagen zu können, was wir mit unseren Interventionen anrichten, überspielen wir gern durch Großmannssucht. Müller verwendet das Wort »Hybris«, einen Begriff eher antiker Prägung, als noch bewusst war, dass über allem menschlichen Tun und selbst über den Göttern das Schicksal waltet, das viele der menschlichen Anstrengungen tragisch enden lässt.
Doch die zurzeit herrschende Einstellung scheint so etwas wie das Negativ eines falsch verstandenen Pazifismus zu sein. Müller bezeichnet sie als »gesinnungsethischen Verteidigungsbellizismus«. Hier wird eben nicht mehr gefragt, welche Folgen die kriegerische Option haben könnte. Rigoros wird an Prinzipien festgehalten, koste es, was es wolle. Müller ergänzend könnte ein historisches Beispiel herangezogen werden: Die »Politik am Abgrund« während der ersten Phase des Kalten Kriegs. Antikommunistisch bis in die Knochen riskierte der US-Außenminister John Foster Dulles in den 1950er-Jahren halsbrecherisch die atomare Zerstörung der Welt. »Wenn man Angst davor hat, bis an den Rand des Abgrunds zu gehen«, so formulierte Dulles, »ist man verloren.« Was wäre das für ein entsetzlicher Opfergang geworden, wäre hier etwas schiefgelaufen. Wissen wir doch heute, dass jener Kommunismus, den Dulles bekämpfte, fast wie von allein verschwunden ist. Der pazifistische Rat hätte lauten können: Nichts tun und einfach warten!
Dulles ist zuzubilligen, dass er ehrlich war. Ausdrücklich wies er daraufhin, dass die Welt am Abgrund stand. Unsere gegenwärtigen Bellizisten dagegen haben keinerlei Ahnung, dass es jederzeit zur Katastrophe kommen kann. Vielleicht fehlt ihnen Erinnerung, vielleicht das Wissen, vielleicht die passende Emotion. Frau Baerbock war drei Jahre alt, als Friedensbewegte eine Menschenkette bildeten, Anton Hofreiter steckte in der Pubertät. Frau Strack-Zimmermann scheint mir kaum über warnende Empfindungen zu verfügen. Der Kanzler – wegen seines Zögerns beschimpft – hat zu viel zu tun. Aus der Reihe zu tanzen, ist auch nicht angenehm. Allen fehlt es auf jeden Fall an Bescheidenheit. Vielleicht hoffen sie, dass Biden die Sache irgendwie steuern wird und wissen nicht, dass eigentlich alle Kriege irgendwann aus dem Ruder laufen. Derweil lagern die Atomsprengköpfe abgeschirmt und ruhig in ihren Silos und warten auf ihre Stunde. Wie schrieb der Historiker Golo Mann in Auseinandersetzung mit der Atomwaffenfrage? »Die Erfahrung, zumal unseres Jahrhunderts, lehrt, dass Kriege niemals das sind, was man vorher gedacht hatte. Geplant wird wohl und geplant muss werden, aber die neue Wirklichkeit zerreißt diese Pläne. Man ist frei, Krieg zu machen oder nicht. Macht man ihn, dann ist man nicht mehr frei. Dann wird er, was er will, und stellt alle, die ihm dienen, unter ein neu werdendes, vorher nicht zu fassendes Gesetz. (…) Wie unbelehrbar muss der sein, der noch glaubt, man könnte den Krieg, wenn er einmal da ist, beherrschen, ihm seine Grenzen beliebig vorschreiben!« Pazifismus ist die bessere Option.