Kurt Tucholsky alias Ignaz Wrobel schrieb 1927 in einem großen Pamphlet Über wirkungsvollen Pazifismus: »Immer mehr zeigt sich, was die wahre Kriegsursache ist: die Wirtschaft und der dumpfe Geisteszustand unaufgeklärter und aufgehetzter Massen. Was aber fast überall völlig fehlt, das ist die pazifistische Propaganda im Alltag, auf der Gasse, (…) Pazifismus als Notwendigkeit.« Und auf dem Berliner Weltfriedenskongress 1924 hatte Carl von Ossietzky schon gefordert: »Der Pazifismus muss politisch werden, und nicht nur politisch. (…) Der Weg zum Volk muss gefunden werden, damit das deutsche Volk endlich wieder den Weg zu den Völkern findet.«
Heute gilt Pazifismus im öffentlichen Diskurs weitgehend als inakzeptabel, bestenfalls als naiv und vorgestrig, wenn nicht gar als zynisch und nicht mehr zeitgemäß, wie jüngst am 1. Mai der deutsche Bundeskanzler verkündete. Der wird seit Wochen von einer kriegerisch eingestellten Mehrheit vor sich hergetrieben, die sich quer durch das politische Spektrum in Deutschland konstituiert hat und die veröffentlichte Meinungseinheit mit aufgewiegelten Medien schürt. Vom Mainstream abweichende Einschätzungen bleiben aus den öffentlichen Diskussionsrunden bisher so gut wie völlig ausgeblendet, selbst besorgte Appelle wie die Forderung vom 21.4. an den Bundeskanzler nach Deeskalation jetzt! oder der folgende Appell von Emma, werden einfach niedergemacht. Jedoch: »Die kriegstreiberische Rhetorik verträgt sich schlecht mit der Zuschauerloge, aus der sie wortstark tönt«, kommentierte Jürgen Habermas kürzlich (SZ, 28.4.22), und dafür wird auch er nun kritisiert. Der extrem verengte Argumentationsspielraum in deutschen Printmedien und Talkshows lässt zunehmend die Frage aufkommen, was da eigentlich an die Oberfläche gelangt an (lange verdrängten?) Ressentiments aus Antikommunismus, Russenangst und Abstiegsängsten.
Die Situation, in der sich Deutschland heute befindet, das zuletzt vor 80 Jahren das Territorium der Ukraine zum Zweck der Ausbeutung in Schutt und Asche gelegt hatte, ist voller Widersprüche, zumal jene Verbrechen, denen damals viele Millionen Ukrainer und Russen zum Opfer fielen, von der deutschen Öffentlichkeit nie wirklich als solche wahrgenommen oder gar offiziell angemessen gesühnt worden sind. Aber sie sind wohl doch ins Unterbewusstsein der Überlebenden eingegangen und haben nicht zuletzt auch das Fundament für eine unbewusste Angst vor russischer Rache gelegt.
Doch nicht nur reaktionäre, sondern auch ehemals friedliebende Kräfte, die nach Jahrzehnten strammstem Antisowjetismus jene Entspannungspolitik durchsetzen konnten, die letztlich auch zum Fall der Sowjetunion beitrug (wofür sie sich nach 1989 selbst lange auf die Brust schlugen), verleugnen nun auch diese Resultate, denn – wie das Ukraine-Desaster zeigt – die Russen verstehen ja offenbar nur Gewalt. Jedes Zurückweichen der Ukrainer würden die Russen als Schwäche auffassen und bald wieder in Berlin stehen, das hört man sogar aus dem Mund von sogenannten Expert/innen. Immerhin beförderte ja vor 70 Jahren die Warnung »Die Russen kommen« die Akzeptanz der Wiederbewaffnung in der BRD-Bevölkerung. Die kamen dann zwar nicht, aber die vielfältigen Zerstörungen durch den russischen Angriff auf den Nicht-Nato-Staat Ukraine seit Ende Februar rechtfertigen nunmehr die weitere Unterstützung der Gegenwehr der Ukraine, die bereits seit Jahren von der Nato aufgerüstet wird, denn der kriegerische Konflikt währt dort seit 2014.
Die bisherige Sorge westeuropäischer Nato-Staaten, durch Entsendung von mehr und mehr Kriegsmaterial und Verschärfung von einschneidenden Wirtschafts-Sanktionen nicht doch de facto zu einer kriegführenden Macht zu werden, wird spätestens seit dem jüngsten Schulterschluss mit den US-Interessen auf dem Kriegskonvent der Nato mit Vertretern von 40 Staaten in Ramstein noch verstärkt. »Kriege werden ja nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt«, stellte Ingeborg Bachmann schon 1952 fest. Und in Ramstein wurde nun allen klar, dass das Kriegsziel der US-dominierten Nato nicht mehr allein auf die Ukraine gerichtet ist, sondern auf eine definitive Schwächung Russlands mit möglicher Absetzung Putins. Sogar von »Vernichtung« ist die Rede. Wenn aber Putin zur Überzeugung gelangt, dass die Existenz Russlands gefährdet ist, dann ist solche Rede nicht mehr nur ein Spiel mit dem Feuer, sondern wird zur Aufforderung zu einem Weltenbrand. Damit ist eine neue Dimension der Auseinandersetzung erreicht, die die europäischen Nato-Staaten eigentlich vor die Frage stellen müsste, ob sie ein solches Risiko eingehen können. Der Krieg wird vorerst auf dem Rücken der Ukrainer ausgetragen, deren Hoffnung auf einen Sieg man damit explizit stärkt – ohne klarzustellen, dass es seit Beginn des Atomkriegszeitalters (US-Bomben auf Japan im Juli 1945) keine Sieg/Niederlage-Alternative mit einer Atommacht mehr gibt. Diese Erkenntnis des kalten Krieges mit atomarer Drohung hatte ja kriegerische Auseinandersetzungen aus Europa fern gehalten bis zum Ende der sogenannten Systemauseinandersetzung mit der sowjetischen Welt (1989/91).
Wer damals auf eine friedvolle Zukunft nach Auflösung der Militärbündnisse gehofft hatte, musste bald feststellen, dass dem Ende des Warschauer Paktes nicht auch die Auflösung der Nato folgte, sondern letztere rasch neue Einsatzmöglichkeiten weltweit suchte und fand. Vielfache lokal begrenzte Kriegsschauplätze mit Verwüstungen aller Art sind seit den 90er Jahren vor allem in Südosteuropa und im Mittelmeerraum bekannt und oft bis heute nicht befriedet.
Seit dem Ende der bipolaren Weltordnung versucht die bisher noch mächtigste Weltmacht USA ihrem absehbaren weiteren wirtschaftlichen Abstieg gegenüber Asien militärisch zuvorzukommen, unter Einbeziehung Europas und möglichst auch des rohstoffreichen Russlands als Bollwerk. China soll binnen eines Jahrzehnts aus der Bahn geworfen werden, laut bisheriger US-Planung. Der überall wieder erblühte Nationalismus in alten und neuen Nationalstaaten erleichtert neue Frontstellungen und die US-dominierte Nato ist inzwischen de facto zum außenpolitischen Arm der EU geworden, in Ermangelung eigener Staatlichkeit und einer autonomen europäischen Außenpolitik.
Man weiß es seit mindestens hundert Jahren, dass »der Krieg die natürliche Folge des kapitalistischen Weltsystems (ist)« (Kurt Tucholsky, 1922). Auch ist allgemein bekannt, dass die Rüstungsindustrie weltweit allerhöchste Profite erzielt, und dass die USA und die Nato über die weitaus größten Militäretats der Welt verfügen. Aber das wird von der Mehrheit der Menschen im Westen als gegeben hingenommen, offenbar fühlt sie sich dadurch entsprechend geschützt gegen alte und neue Feinde in den sich längst abzeichnenden Verteilungs- und Klimakonflikten der nächsten Jahrzehnte.
Das Vermächtnis »Nie wieder Krieg« von 1945 ist also längst vergessen, und Pazifismus erscheint heute als obsolet, obwohl die Welt so hochgerüstet ist wie nie zuvor, mit einem Gesamtaufkommen an Rüstungskosten im Jahre 2021 von über 2.113 Milliarden Dollar (SIPRI-Report) und einer vielfachen Auslöschungskapazität der gesamten Menschheit! Aber das Thema der Abrüstung, der De-Eskalation scheint ohne Appeal zu sein, selbst in der Klimabewegung stehen solche Forderungen noch am Rande. Die Gesamtkosten für weltweite Entwicklungshilfe beliefen sich im gleichen Zeitraum auf ganze 179 Milliarden Dollar.
Warum lässt die in den letzten 50 Jahren verdoppelte Weltbevölkerung, angesichts der furchtbaren Folgen, die sie tragen muss, das zu? Oder kann man die bisherige Ablehnung der westlichen Sanktionen gegen Russland seitens der Hälfte der heutigen Menschheit (über 4 Mrd.) – in China, Indien und Afrika – dahingehend deuten, dass man in jenen Staaten doch alternative Perspektiven entwickelt und nicht vom Abstieg des Westens in mörderische Kriege mitgerissen werden möchte?
Das jetzige Massaker in der Ukraine wird nur durch einen Kompromiss zu beenden sein, der die Sicherheitsinteressen beider Seiten berücksichtigt, auch eingedenk der Tatsache, dass die USA noch immer an ihrer Monroe-Doktrin (1823) festhalten, die ihren Einfluss über die angrenzenden Staaten in Lateinamerika sichert. Man mag das nicht gut finden, aber man wird gleichzeitig eine ähnliche Sicherungszone Russland nicht verwehren können, auf die die russischen Forderungen seit 1990 ja abzielen – und leider seit 12 Wochen auch russische Bomben.
Am 5. Mai ist in Rom eine Initiative des »Centro per la Riforma dello Stato« und mehrerer politischer Organisationen vorgestellt worden, die konkrete Vorschläge für eine Beendigung des Ukraine-Krieges macht und die EU zur Einberufung einer neuen, großen internationalen Sicherheitskonferenz wie die von Helsinki (1975) mit der UNO für eine neue Sicherheits- und Friedensordnung aufruft, denn der Konflikt kann nicht mehr von Putin und Selenskyj allein bewältigt werden.
Die einstige pazifistische Losung: »Lieber rot als tot«, könnte dann abgewandelt heißen: »Lieber neutral als tot« – und nicht nur für die Ukraine gelten.