In Zeiten des Kriegs hat der Patriotismus Konjunktur. Er ist plötzlich populär und herrscht auf allen Seiten aller Fronten, tritt akustisch und visuell mit Hymnen und Fahnen in Erscheinung und stellt für die Hymnensänger und Fahnenschwinger wohl ein kleines Ersatzglück dar, das das durch den Krieg verursachte Leid kompensieren helfen soll. Unter dem Etikett »Solidarität mit den Opfern« kann sich sogar ein Patriotismus mit einem anderen identifizieren und sich mit dessen Fahnen und Hymnen ausstatten. Viele Deutsche können jetzt »Slawa Ukraine« sagen – oder skandieren.
Identifikation mit dem vermeintlich »eigenen« Volk, mit der Nation und deren Geschichte ist das grundlegende Muster eines jeden Patriotismus. Nun sind Volk und Nation aber nur Fiktionen, Imaginationen; denn worin ein Volk und eine Nation bestehen sollen, was das relevante Wesensmerkmal wäre, das anzugeben, ist nicht möglich. Das »Volk« ist nicht beschreibbar durch das Territorium, auf dem es lebt, denn es leben auch andere, nicht dem Volk zugehörige Menschen dort; es ist auch nicht die Sprache, denn innerhalb des Territoriums werden viele von Region zu Region unterschiedliche Sprachen gesprochen, und es ist schon gar nicht eine »Gemeinschaft«, wie zumeist behauptet wird. Ein niederbayerischer Bauer hat mehr mit einem Oberösterreicher gemeinsam als mit einem nordfriesischen Fischer. Volk und Nation sind Phantasmen. Sie sind erfunden worden, um dem kleinen Mann eine Identifikationsmöglichkeit nicht nur mit etwas »Größerem«, sondern auch mit etwas »Mächtigem« zu bieten, und vor allem etwas, wofür er sich – das ist dann oft das traurige Resultat der pathetischen Sinnstiftung – opfern kann. Der Ort, wo das geschieht, wird noch immer das »Feld der Ehre« genannt. Und wenn Deutschland (seine Bürger, seine Eliten, seine Regierung) glaubt, am Hindukusch verteidigt werden zu müssen, dann wird das Feld der Ehre dorthin verlegt. Ein Soldat, der lebend, oder gegebenenfalls verwundet, von dort zurückkehrt darf dann »stolz« auf sich sein, sein Bestes für das Vaterland gegeben zu haben. Die Frauen und Kinder eines Soldaten, der nicht lebend zurückkehrt, dürfen stolz darauf sein, ihren Ehemann und ihren Vater geopfert zu haben. Kein Vaterland, das nicht Opfer, auch Menschenopfer verlangt. In der zivilisierteren Sprache eines John F. Kennedy heißt das: »Ask not what your country can do for you – ask what you can do for your country.« Tausende Amerikaner glaubten tatsächlich, sie würden in Vietnam etwas für ihr Land tun. Von über achtundfünfzigtausend blieben nur die in poliertem schwarzem Granit eingravierten Namen an einem Veteranen-Memorial in Washington D.C.
Das Phantasma »Volk« schlägt sich auch in weiteren Fiktionen nieder, auf denen die angebliche Legitimität des Herrschaftssystems beruht, vor allem in der so genannten Volkssouveränität und im »Willen des Volkes«. Als im Jahr 2016 über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union abgestimmt wurde, nahmen 72,2 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung an der Abstimmung teil. Davon stimmten 51,89 Prozent für den Austritt und 48,11 Prozent dagegen. Insgesamt stellten damit 37,46 Prozent der Bevölkerung, die den Brexit befürworteten, den »Willen des Volkes« dar, während demnach 62,54 Prozent nicht für den Austritt gestimmt haben. Volkswille? Und leider gehört zum »Volk«, wie früher die Syphilis zur katholischen Sexualmoral, auch immer die bedrohliche – nicht nur in faschistoiden Kreisen gern verwendete – Konstruktion des »Volksverräters«. Jeder Mensch, dem diese Vokabel angeheftet wird, wünscht unvermeidlich, dass es »das Volk« besser nicht gäbe.
Ein Aufsatz des amerikanischen Philosophen Alasdair MacIntyre trägt der Titel »Ist Patriotismus eine Tugend?« Für MacIntyre, einen führenden Vertreter des Kommunitarismus, ist das eher eine rhetorische Frage. Die philosophische Schule des Kommunitarismus entstand als Entgegnung auf und Kritik an den 1972 in dem gemeinhin als epochal betrachteten Werk Eine Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls vorgetragenen Grundsätzen, die eine Gesellschaft als gerecht qualifizieren sollen. Die Philosophen des Kommunitarismus verurteilten Rawls‘ an Kant orientierten Kontraktualismus und vor allem seinen Universalismus. Grundlegend für eine Gesellschaft seien niemals abstrakte universalistische Prinzipen, sondern die konkreten Traditionen, Gebräuche und persönlichen Bindungen einer Gemeinschaft. Dabei erfüllten die Dorfgemeinschaft, das Vereinsleben, die Kirchengemeinden, die bürgerliche Stadtgesellschaft etc. wesentliche Funktionen für die Individuen, die sich in ihrer community aufgehoben und zu Hause fühlten. Auch die Nation trage zu diesem Aufgehoben-Sein in einem größeren Ganzen bei. Also ist Patriotismus für den Kommunitarismus eine notwendige Tugend. MacIntyre benennt ganz klar das damit entstehende Konfliktpotenzial, weil »der patriotische Standpunkt von mir fordert, dass ich versuche, die Interessen meiner Gemeinschaft zu fördern und du das gleiche für deine tust – und sicherlich dort, wo es um das Überleben einer Gemeinschaft geht (…), schließt der Patriotismus die Bereitschaft ein, für seine Gemeinschaft in den Krieg zu ziehen.« Da der Kommunitarismus universelle, für alle Gemeinschaften (bzw. Nationalstaaten) geltende Regeln ablehnt, kennt er auch für zwischenstaatliche Konfliktfälle kein verbindliches Procedere, mit dem sich Krieg vermeiden ließe. Zum Konflikt kann es kommen zum einen wegen der »Knappheit lebenswichtiger Ressourcen«, heutzutage (d. h. 1984, als der Text publiziert wurde) vor allem wegen »der Begrenztheit fossiler Brennstoffe. Die materiellen Voraussetzungen, die deine Gemeinschaft zum Überleben als besondere Gemeinschaft und zur Entwicklung einer besonderen Nation benötigt, mögen den alleinigen Gebrauch derselben oder einiger der natürlichen Ressourcen umfassen, die auch meine Gemeinschaft zum Überleben und zur Entwicklung zu einer bestimmten Nation benötigt.« Der andere mögliche Konfliktgrund »hängt mit Auseinandersetzungen zwischen Gemeinschaften über die richtige Lebensweise zusammen«. MacIntyre umschreibt ziemlich präzise, worum es im internationalen Konfliktgeschehen geht, nämlich um natürliche Ressourcen (zu denen man auch die menschliche Arbeitskraft zählen darf) und um die Hegemonie einer Lebensform, zum Beispiel hier und heute: die westlich-kapitalistisch-demokratische Lebensform, für die die Nation der USA als Muster steht. Da diese zu ihrer historischen Grundlage den Kolonialismus und den Imperialismus hatte und hat, wird sie von den Staaten des globalen Südens nicht unbedingt als Vorbild akzeptiert, weshalb diese sich u. U. eher am aufsteigenden neuen Hegemon China orientieren. Kriegerische Konflikte sind bei realistischer Betrachtung also bereits programmiert. Das hindert den Patrioten nicht an seiner Treue zur Nation und deren »besondere® Bindung an eine Vergangenheit, die ihm oder ihr eine bestimmte moralische und politische Identität verliehen hat«, die mich als Patrioten so bindet, dass ich »das gelebte Narrativ meines eigenen individuellen Lebens als Teil der Geschichte meines Landes verstehe«. Und egal, ob mein Land richtig oder falsch agiert, es ist mein Land.
Diese Haltung ist es, die den Patrioten – man sollte vielleicht nicht sagen: »auszeichnet«, sondern eher – ausmacht. Es ist nämlich eine durchaus zweifelhafte Haltung, die nicht unbedingt Respekt verdient. Und aus MacIntyres Ausführungen geht auch klar hervor, dass »mein Patriotismus« kein anderer ist als »dein Patriotismus«, dass Patriotismus immer der gleiche ist, woraus folgt, dass nicht ein guter Patriotismus einem schlechten Patriotismus gegenübersteht.
Was es weiterhin bedeutet, ein Patriot zu sein, führt MacIntyre folgendermaßen aus: »Von sehr außergewöhnlichen Bedingungen einmal abgesehen, benötigt eine jede politische Gemeinschaft Streitkräfte für ihre minimale Sicherheit. Sie muss von den Mitgliedern dieser Streitkräfte verlangen, dass sie sowohl bereit sind, ihr Leben für die Sicherheit dieser Gemeinschaft zu riskieren, wie auch, dass ihre Bereitschaft dazu von ihrer eigenen individuellen Beurteilung, ob die Sache ihres Landes (…) in bestimmten Fällen richtig oder falsch ist, unabhängig ist.« Das bedeutet, dass der patriotische Soldat sich selbst mit bedingungslosem Gehorsam gegenüber der Regierung seines Landes zum willenlosen Werkzeug macht. Als Mensch und Individuum verzichtet er vorsätzlich und bereitwillig darauf, sich seines »eigenen Verstandes zu bedienen« (Kant), und wird dadurch zu einem von seiner Regierung nach Belieben einsetzbaren bloßen Mittel und Tötungsinstrument. Und es hilft hier nichts, zu unterscheiden, ob die Befehle von einer demokratischen oder autoritären Regierung kommen, denn diese Unterscheidung ist in dem Moment suspendiert, wenn Menschen darauf verzichten, die Entscheidungen ihrer Regierung (oder des Parlaments oder jeglicher anderer politischen Institution) kritisch zu hinterfragen.
Man hat den Patriotismus oft den kleineren Bruder des Nationalismus genannt. Aber dieses Diminutiv macht ihn nicht weniger schlimm. Vor allem weil der Bruder des Nationalismus wie des Patriotismus unweigerlich der Militarismus ist. Der Patriotismus, das zeigt MacIntyre sehr überzeugend, ist die emotionale Ressource des Kriegs. Der Krieg wurzelt in ihm und nährt sich von ihm. Ohne Patriotismus wäre Krieg nicht möglich.
Nun könnte man vielleicht meinen, dass es einen quasi unschuldigen und legitimen Patriotismus gebe auf der Seite der Opfer eines Angriffskriegs. Ein Staat, der von einem anderen Staat angegriffen wird, hat das Recht sich zu verteidigen, so die meist einhellige Ansicht. Das allerdings beruht wieder auf den bereits erwähnten begrifflichen Fiktionen.
Nicht zufällig nennt MacIntyre den Staat eine »politische Gemeinschaft«. Das allerdings ist eine begriffliche Erschleichung, denn kein Staat kann jemals eine echte Gemeinschaft sein. Es gibt selbstverständlich ein Recht, sich zu verteidigen. Verteidigen kann man aber nur, was wirklich existiert. Man kann sich selbst, die eigene Person verteidigen, seinen Besitz, die eigene Freiheit, die Familie, Freunde, Bekannte, irgendwelche andere Menschen, aber Phantasmen wie Volk, Vaterland und Nation kann man nicht verteidigen; die Illusion, das aus Patriotismus tun zu müssen und ein Recht dazu zu haben, macht die dabei angewendete Gewalt so illegitim wie jene des Aggressors. In beiden waltet derselbe Wahn, dieselbe Einbildung eines sich in einem »Größeren« und »Höheren« und »Mächtigeren« aufgehoben sein wollenden Ichs. Jeder Soldat redet sich patriotisch selber ein, weil es ihm eingeredet wird, »nur sein Land« zu verteidigen. Und jeder sich selbst im Recht wähnende »Verteidigungspatriotismus« kehrt irgendwann wieder als böser und aggressiver Patriotismus, wie Putin neuerdings am 9. Mai bei der Erinnerung an die großen und schrecklichen Opfer für den Sieg im »Großen vaterländischen Krieg« vorführte.
Es gibt also keinen »unschuldigen Patriotismus«, denn jeder Patriotismus sagt immer wieder: right or wrong, my country! Auch wenn die Regierung meines Landes falsch handelt – was aber, so MacIntyre, für den einzelnen, den Patrioten gar nicht feststellbar ist, denn der hat bedingungslos zu glauben und zu gehorchen –, es ist und bleibt mein Land, dem ich verpflichtet bin. Und genau dieses Verständnis von Verpflichtung ist ethisch verwerflich, weshalb jeder Patriotismus eine Untugend ist. Nur ein kosmopolitisches Denken bietet in einer sich selbst globalisierenden, postnationalen Welt einen Ausweg aus dieser Verwerflichkeit.
Alasdair MacIntyre, Ist Patriotismus eine Tugend? (1984) in: Axel Honneth (Hg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt a. Main und New York, 1994, S. 84-102.