Das Fräulein (tschechisch: pani) heißt Jana Honzlová (Hänschen), ist zweiundzwanzig Jahre alt und schildert einen Sommer in Prag, in dem zwar Stalin schon gestorben ist, seine Parteisekretäre, Direktoren, Spitzel und Büttel aber noch höchst lebendig sind. Und darum wird sie auch nicht »Fräulein« tituliert; die Anrede ist aber aus anderen Gründen anrüchig als heute. Man redet sich mit »Genossin« (oder »Genosse«) an, eifert überall den sowjetischen Vorbildern und Idolen nach und kopiert das Moskauer System.
Die erbärmliche Situation in der Tschechoslowakischen Republik – »sozialistisch« wurde erst 1960 hinzugefügt – spiegelt sich auch in Janas Familienverhältnissen: Ihr Vater hat sich ins Ausland abgesetzt und ist sowieso ein windiger Typ, ihre Brüder befinden sich in Strafarbeitslagern, ihre Schwester ist hinter den Männern her und nicht besonders klug, eine andere hat sich von der Familie absentiert, die Mutter verdient schlecht, man haust in einer Prager Bruchbude. Im Grunde hält Jana die Familie zusammen und am Leben, denn sie hat regelmäßige Einkünfte als Mitglied und Sängerin eines Folkloreensembles. Aber es ist jämmerlich wenig, zudem gilt die junge Frau als politisch unzuverlässig und darf nicht mit ihrer Truppe in diesem Sommer auf Tournee ins Ausland. Sie soll stattdessen Bürodienst verrichten, aber es gibt nichts zu tun, außer der Putzfrau ist niemand im Hause. So vertreibt sie sich die Zeit mit Nachforschungen in den »Interna« der »Kaderakten«, die in einem Panzerschrank verwahrt sind. Glücklicherweise hat der Direktor an seinem Schlüsselbund, das er Jana überlassen musste, einen kleinen Anhänger mit der Zahlenkombination. Über sich kann Jana lesen: »J. Honzlová ist eine leichtfertige, durchtriebene Person (…), kennt keine Skrupel (…), lebt in einem moralischen Sumpf (…), hat in unserem Kollektiv nichts zu suchen.« Die Lektüre der Unterlagen offenbart der heimlichen Leserin (und natürlich dem Leser) des Buches das Ausmaß und die Perfidie, aber auch die Lächerlichkeit des Spitzelwesens, welches das Land regelrecht durchsetzt hatte. Doch ob perfide oder lächerlich: Es werden Lebenswege verbogen in einem solchen System, denn selbst das Studium »westlicher Sprachen« (Jana interessiert sich für Französisch) könnte laut Spitzelbericht den Sozialismus bedrohen.
Wie gefährlich sie lebt, wird Jana richtig klar, als nach dem plötzlichen Tod der Putzfrau, mit der sie sich angefreundet hat, der Sicherheitsdienst auftaucht und versucht, sie anzuwerben, wobei Erpressung, Drohung, Schmeichelei, Versprechungen und Geschenke nicht zu knapp eingesetzt werden.
Es gelingt der Honzlová (nur mit dem Familiennamen wurden damals Mädchen und Frauen in der Schule, im Wartezimmer, in Ämtern aufgerufen), sich den Annäherungsversuchen (auch im Sinne des Wortes) des Geheimdienstlers, der sich Sedláček nennt, zu entziehen. Das gelingt ihr hauptsächlich durch den Einsatz ihrer Scharfzüngigkeit. Sie spricht eine Sprache, mit der die Schnüffler, aber auch ihre Umgebung nicht zurechtkommen. Das lässt sie oft klüger und reifer wirken, als sie in Wirklichkeit sein kann, aber eben auch unbekümmert und provokativ. Die Übersetzerin Sophia Marzolff hat die saloppe, auch jugendlich-rotzige Sprechweise sehr gut getroffen.
Mit ihrer Sprache erinnert Jana Honzlová mitunter an den Aussteiger Edgar Wibeau aus Ulrich Plenzdorfs Roman und Bühnenstück »Die neuen Leiden des jungen W.« Freilich geht ein Vergleich nicht auf, denn Jana ist mit einem hundertprozentig stalinistischen Partei- und Sicherheitsapparat konfrontiert, während Wibeau in vergleichsweise milderen Jahren der DDR lebt, in denen mitunter sogar Verständnis für die rebellische Jugend gemimt wurde, die man schon irgendwie auf den Weg des Sozialismus bringen würde. Und Wibeau hat auch keine Fluchtgedanken, er stößt sich nur an einer bürokratisierten, vollkommen eingerichteten Welt, will mit einer Erfindung groß herauskommen. Aber auch eine Aussteigerfigur, die sozusagen aus dem Jenseits spricht, erregte damals noch Aufregung genug.
Jana hingegen geht es nicht um Jeans und Liebe, der, den sie liebt, ist katholischer Priester geworden und unerreichbar. Sie will in die Welt, in ihr Leben und steht doch eines Tages vor dem buchstäblichen Nichts, sie verliert ihren geliebten Bruder Hugo, der ihr männliches Pendant hätte werden können und erhält ein seltsames Angebot, das vielleicht ihre Wünsche erfüllt, das aber auch eine Falle sein kann. Diese Passage am Ende des Romans ist von der Autorin äußerst eindringlich und wirkungsvoll gestaltet worden, denn als Jana Honzlová die Offerte erhält, nach Frankreich ausreisen zu können, hört sie sich im Rundfunk selbst singen: Ein Volkslied aus der Tatra, aufgenommen einst gegen den Willen ihres Chorleiters: »Was mit mir ist, jee, / am Boden bin ich, / wer mich so zugrunde richt‘; / jee, den soll Gott erschlagen.« Aber erschlagen ist nur ihr geliebter Bruder Hugo von den Trümmern ihres eingestürzten Wohnhauses.
Man kennt die meisterliche Verknüpfung von Tragödie und Komödie, von tiefem Ernst und Klamauk (auch der kommt im Buch vor), wobei wie nebenher Historie luzid und eindrücklich erzählt wird, von Meistern der tschechischen Literatur, wie etwa Bohumil Hrabal. Der Roman von Zdena Salivarová über Jana Honzlovás Sommer in Prag in schlimmen Jahren steht in dieser Tradition. Und die Augen- und Ohrenzeugenschaft der Autorin vertieft die Botschaft dieses über weite Passagen mitreißenden Romans.
Zdena Salivarová, Ein Sommer in Prag, Roman. Aus dem Tschechischen von Sophia Marzolff, mit einem Nachwort von Michael Špirit; Mitteldeutscher Verlag 2024, 352 S., 30 €.