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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Pani Hänschen-Wibeau?

Das Fräu­lein (tsche­chisch: pani) heißt Jana Hon­z­l­o­vá (Häns­chen), ist zwei­und­zwan­zig Jah­re alt und schil­dert einen Som­mer in Prag, in dem zwar Sta­lin schon gestor­ben ist, sei­ne Par­tei­se­kre­tä­re, Direk­to­ren, Spit­zel und Büt­tel aber noch höchst leben­dig sind. Und dar­um wird sie auch nicht »Fräu­lein« titu­liert; die Anre­de ist aber aus ande­ren Grün­den anrü­chig als heu­te. Man redet sich mit »Genos­sin« (oder »Genos­se«) an, eifert über­all den sowje­ti­schen Vor­bil­dern und Ido­len nach und kopiert das Mos­kau­er System.

Die erbärm­li­che Situa­ti­on in der Tsche­cho­slo­wa­ki­schen Repu­blik – »sozia­li­stisch« wur­de erst 1960 hin­zu­ge­fügt – spie­gelt sich auch in Janas Fami­li­en­ver­hält­nis­sen: Ihr Vater hat sich ins Aus­land abge­setzt und ist sowie­so ein win­di­ger Typ, ihre Brü­der befin­den sich in Straf­ar­beits­la­gern, ihre Schwe­ster ist hin­ter den Män­nern her und nicht beson­ders klug, eine ande­re hat sich von der Fami­lie absen­tiert, die Mut­ter ver­dient schlecht, man haust in einer Pra­ger Bruch­bu­de. Im Grun­de hält Jana die Fami­lie zusam­men und am Leben, denn sie hat regel­mä­ßi­ge Ein­künf­te als Mit­glied und Sän­ge­rin eines Folk­lo­re­en­sem­bles. Aber es ist jäm­mer­lich wenig, zudem gilt die jun­ge Frau als poli­tisch unzu­ver­läs­sig und darf nicht mit ihrer Trup­pe in die­sem Som­mer auf Tour­nee ins Aus­land. Sie soll statt­des­sen Büro­dienst ver­rich­ten, aber es gibt nichts zu tun, außer der Putz­frau ist nie­mand im Hau­se. So ver­treibt sie sich die Zeit mit Nach­for­schun­gen in den »Inter­na« der »Kader­ak­ten«, die in einem Pan­zer­schrank ver­wahrt sind. Glück­li­cher­wei­se hat der Direk­tor an sei­nem Schlüs­sel­bund, das er Jana über­las­sen muss­te, einen klei­nen Anhän­ger mit der Zah­len­kom­bi­na­ti­on. Über sich kann Jana lesen: »J. Hon­z­l­o­vá ist eine leicht­fer­ti­ge, durch­trie­be­ne Per­son (…), kennt kei­ne Skru­pel (…), lebt in einem mora­li­schen Sumpf (…), hat in unse­rem Kol­lek­tiv nichts zu suchen.« Die Lek­tü­re der Unter­la­gen offen­bart der heim­li­chen Lese­rin (und natür­lich dem Leser) des Buches das Aus­maß und die Per­fi­die, aber auch die Lächer­lich­keit des Spit­zel­we­sens, wel­ches das Land regel­recht durch­setzt hat­te. Doch ob per­fi­de oder lächer­lich: Es wer­den Lebens­we­ge ver­bo­gen in einem sol­chen System, denn selbst das Stu­di­um »west­li­cher Spra­chen« (Jana inter­es­siert sich für Fran­zö­sisch) könn­te laut Spit­zel­be­richt den Sozia­lis­mus bedrohen.

Wie gefähr­lich sie lebt, wird Jana rich­tig klar, als nach dem plötz­li­chen Tod der Putz­frau, mit der sie sich ange­freun­det hat, der Sicher­heits­dienst auf­taucht und ver­sucht, sie anzu­wer­ben, wobei Erpres­sung, Dro­hung, Schmei­che­lei, Ver­spre­chun­gen und Geschen­ke nicht zu knapp ein­ge­setzt werden.

Es gelingt der Hon­z­l­o­vá (nur mit dem Fami­li­en­na­men wur­den damals Mäd­chen und Frau­en in der Schu­le, im War­te­zim­mer, in Ämtern auf­ge­ru­fen), sich den Annä­he­rungs­ver­su­chen (auch im Sin­ne des Wor­tes) des Geheim­dienst­lers, der sich Sedlá­ček nennt, zu ent­zie­hen. Das gelingt ihr haupt­säch­lich durch den Ein­satz ihrer Scharf­zün­gig­keit. Sie spricht eine Spra­che, mit der die Schnüff­ler, aber auch ihre Umge­bung nicht zurecht­kom­men. Das lässt sie oft klü­ger und rei­fer wir­ken, als sie in Wirk­lich­keit sein kann, aber eben auch unbe­küm­mert und pro­vo­ka­tiv. Die Über­set­ze­rin Sophia Mar­zolff hat die salop­pe, auch jugend­lich-rot­zi­ge Sprech­wei­se sehr gut getroffen.

Mit ihrer Spra­che erin­nert Jana Hon­z­l­o­vá mit­un­ter an den Aus­stei­ger Edgar Wibeau aus Ulrich Plenz­dorfs Roman und Büh­nen­stück »Die neu­en Lei­den des jun­gen W.« Frei­lich geht ein Ver­gleich nicht auf, denn Jana ist mit einem hun­dert­pro­zen­tig sta­li­ni­sti­schen Par­tei- und Sicher­heits­ap­pa­rat kon­fron­tiert, wäh­rend Wibeau in ver­gleichs­wei­se mil­de­ren Jah­ren der DDR lebt, in denen mit­un­ter sogar Ver­ständ­nis für die rebel­li­sche Jugend gemimt wur­de, die man schon irgend­wie auf den Weg des Sozia­lis­mus brin­gen wür­de. Und Wibeau hat auch kei­ne Flucht­ge­dan­ken, er stößt sich nur an einer büro­kra­ti­sier­ten, voll­kom­men ein­ge­rich­te­ten Welt, will mit einer Erfin­dung groß her­aus­kom­men. Aber auch eine Aus­steig­er­fi­gur, die sozu­sa­gen aus dem Jen­seits spricht, erreg­te damals noch Auf­re­gung genug.

Jana hin­ge­gen geht es nicht um Jeans und Lie­be, der, den sie liebt, ist katho­li­scher Prie­ster gewor­den und uner­reich­bar. Sie will in die Welt, in ihr Leben und steht doch eines Tages vor dem buch­stäb­li­chen Nichts, sie ver­liert ihren gelieb­ten Bru­der Hugo, der ihr männ­li­ches Pen­dant hät­te wer­den kön­nen und erhält ein selt­sa­mes Ange­bot, das viel­leicht ihre Wün­sche erfüllt, das aber auch eine Fal­le sein kann. Die­se Pas­sa­ge am Ende des Romans ist von der Autorin äußerst ein­dring­lich und wir­kungs­voll gestal­tet wor­den, denn als Jana Hon­z­l­o­vá die Offer­te erhält, nach Frank­reich aus­rei­sen zu kön­nen, hört sie sich im Rund­funk selbst sin­gen: Ein Volks­lied aus der Tatra, auf­ge­nom­men einst gegen den Wil­len ihres Chor­lei­ters: »Was mit mir ist, jee, /​ am Boden bin ich, /​ wer mich so zugrun­de richt‘; /​ jee, den soll Gott erschla­gen.« Aber erschla­gen ist nur ihr gelieb­ter Bru­der Hugo von den Trüm­mern ihres ein­ge­stürz­ten Wohnhauses.

Man kennt die mei­ster­li­che Ver­knüp­fung von Tra­gö­die und Komö­die, von tie­fem Ernst und Kla­mauk (auch der kommt im Buch vor), wobei wie neben­her Histo­rie luzid und ein­drück­lich erzählt wird, von Mei­stern der tsche­chi­schen Lite­ra­tur, wie etwa Boh­u­mil Hra­bal. Der Roman von Zde­na Sali­va­ro­vá über Jana Hon­z­l­o­vás Som­mer in Prag in schlim­men Jah­ren steht in die­ser Tra­di­ti­on. Und die Augen- und Ohren­zeu­gen­schaft der Autorin ver­tieft die Bot­schaft die­ses über wei­te Pas­sa­gen mit­rei­ßen­den Romans.

Zde­na Sali­va­ro­vá, Ein Som­mer in Prag, Roman. Aus dem Tsche­chi­schen von Sophia Mar­zolff, mit einem Nach­wort von Micha­el Špi­rit; Mit­tel­deut­scher Ver­lag 2024, 352 S., 30 €.